Ulrich Becher : Murmeljagd

Murmeljagd
Murmeljagd Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 1969 Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar 1977 Schöffling Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-89561-452-1, 700 Seiten btb Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-442-74192-2, 700 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach dem "Anschluss" Österreichs setzt der antifaschistische Journalist Albert von Trebla sich mit seiner Frau Xane in die Schweiz ab. Aber er argwöhnt, dass zwei Schergen auf ihn angesetzt wurden und fühlt sich verfolgt. Trebla begegnet mehr oder weniger schrulligen Personen, von denen drei kurz nacheinander ums Leben kommen. Parallel dazu erfährt er vom spektakulären Todesritt seines Schwiegervaters im KZ Dachau und von anderen Todesfällen. In dieses Geschehen eingeflochten sind Rückblenden und Parallelmontagen ...
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Kritik

Der teilweise autobiografische Roman "Murmeljagd" ist eine Mischung aus Groteske und Politsatire mit Versatzstücken aus dem Thriller-Genre. Ulrich Becher leuchtet v. a. das Skurrile, Verschrobene und Abgründige aus.
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Am 18. März 1938, drei Tage nachdem Hitler auf dem Heldenplatz in Wien den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verkündete, verlässt das Ehepaar Pola Polari und Joop ten Breukaa seine Villa in der österreichischen Hauptstadt und fährt mit dem Zug in die Schweiz, zum Landsitz Acla Silva im Oberengadin. (Außerdem besitzt Joop ten Breukaa, der Teilhaber einer niederländischen Reederei, noch eine Stadtwohnung in Amsterdam.)

Pola Polari – bürgerlich: Paula Popper – war vor dem Ersten Weltkrieg ein Operettenstar in Wien. 1926 vermählte sie sich mit dem betagten Grafen Orszczelski-Abendsperg, der während der Flitterwochen in Venedig starb. Ein oder zwei Jahre später heiratete sie Joop. Der musste kurz nach der Eheschließung geschäftlich nach Java. Als er vorzeitig am frühen Morgen zurückkam, konnte er nicht ins Haus, weil die Sperrkette vorgelegt war, aber er sah im Inneren einen Mann. Daraufhin holte er seinen Revolver aus der Garage und wartete im Gartenhaus, bis die Gäste seiner Frau – die Fasching gefeiert hatten – alle gegangen waren und als letzter der junge Bildhauer Haberzettl herauskam. Er schoss auf ihn und traf ihn am Hinterteil. Pola beteuerte, mit Haberzettl nur geflirtet zu haben. Zur Wiedergutmachung bestellte Joop eine Großplastik des Künstlers, der gegenüber der Polizei aussagte, er sei auf den Hausherrn losgegangen und dieser habe in Notwehr gehandelt. Die Hausangestellte, die die Polizei gerufen hatte, wurde hinausgeworfen.

Begleitet werden Pola Polari und Joop ten Breukaa von dem befreundeten Ehepaar Albert und Xane Trebla. Allerdings sitzt nur Xane bei ihnen in der Ersten Klasse; ihr Mann fährt dritter Klasse und hält sich von ihr und den Freunden fern, um sie nicht zu kompromittieren. Er verlässt den Zug auch bereits in Bludenz, während die anderen drei die Grenze überqueren und bis Zürich weiterfahren. Trebla nimmt den Postbus nach Schruns, übernachtet bei Antifaschisten, steigt dann übers Montafon-Tal nach Sankt Gallenkirch hinauf, von wo aus ihn der Schmuggler Toni E. am nächsten Morgen auf Skiern zur Schweizer Grenze bringt.

Albert von Trebla wurde 1899 in Olmütz geboren. Im Ersten Weltkrieg gehörte er als Flieger einer Aufklärungskompanie an. Über dem Schwarzen Meer warnte ihn sein Beobachterkorporal plötzlich vor einer aus der Sonne entgegenkommenden Jagdmaschine. Ein Brite! Trebla wurde von einem Projektil in den Kopf getroffen, verspürte aber zunächst keinen Schmerz und blieb bei Bewusstsein. Er musste mit dem ganzen Flugzeug zielen, denn er konnte mit dem fest montierten Maschinengewehr nur durch die Propellerachse schießen.

Als sich der 18-Jährige im slowakischen Bad Trentschin-Teplitz von der Kopfoperation erholte, begegnete er der sechs Jahre älteren Soubrette Pola Polari, die ihre Karriere unterbrochen hatte und als Krankenschwester tätig war.

Seinem Vater zuliebe studierte Trebla Rechtswissenschaften und promovierte 1925, fing dann jedoch nicht als Anwalt, sondern als Journalist zu arbeiten an. Die Eltern starben im Winter 1929/30 kurz nacheinander an Grippe.

Ein Jahr später heiratete er Xane Giaxa, die 20-jährige Tochter des Zirkusclowns Konstantin Giaxa, die er und Pola bereits 1917 in Bad Trentschin-Teplitz getroffen hatten, als Xane noch ein Kind war.

Konstantin Giaxa war im Alter von knapp 18 Jahren vom k. u. k. Korpsartillerieregiment Prinz von Lobkowitz Nr. 13 in Agram aufgenommen worden. Als der tollkühne Reiter in Wien einmal mit seinem Pferd über die Hecke des Pratercafés Eisvogel mitten unter die Gäste sprang und noch eine Levade draufsetzte, beeindruckte er den zufällig anwesenden Bruder des Budapester Zirkusdirektors Ratay. So kam Konstanin Giaxa später als Reiterclown zum Zirkus.

Xanas Mutter wurde als Freifräulein Elsabé von Hahnspor-Fermin auf dem Familiengut Tiflisana in Livland geboren. Ihr Vater war Kronforstmeister. Nach sieben aufgelösten Verlobungen heiratete Elsabé, die noch keine 18 Jahre alt war, den kurländischer Baron Henricus Carlowitsch Huhn. Ihr Vater kam einige Zeit später ums Leben, als er auf dem Peipussee durchs Eis brach, und Elsabés Mutter starb kurz darauf an Grippe. Baron Huhn, der nun auf Tiflisana das Sagen hatte, verjubelte den Familienbesitz. Dann erschoss er sich. Die 20-jährige Witwe, die alles verloren hatte, zog nach Berlin und fing dort bei der Theater- und Varietéagentur Marinelli als Schreibkraft zu arbeiten an. Dabei begegnete sie Konstantin Giaxa.

Xane Giaxa, die im Oktober 1910 geboren worden war, studierte Altphilologie, unter anderem in Graz, wo sie bei ihrer Tante „Za“ wohnte, der Medizinalrätin Dr. Miliza Zborowska. In dieser Zeit ließ sie sich auf eine Affäre mit Albert Trebla ein. Im Juni 1930 sagte sie ihm, dass sie schwanger sei und ließ von Dr. Maxim Grabscheidt eine Abtreibung durchführen. Bald darauf rief Trebla seine Freundin Pola Polari als Brautwerberin nach Graz. Die Hochzeit fand in der reformierten Stadtkirche in Wien statt.

Als überzeugter Sozialist bekämpfte Trebla den Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, den Begründer des austrofaschistischen Ständestaats, bis dieser bei einem Putsch am 25. Juli 1934 ums Leben kam.

Nachdem Trebla seine Schwiegereltern auf der kraotischen Insel Hvar besucht hatte, wurde er in Wien verhaftet und zu vier Monaten Haft verurteilt. Im Oktober 1937 kam er wieder frei und kehrte zu seiner Frau Xane in die Mansardenwohnung zurück.

In Pontresina, wo sie nun zwei billige Zimmer bei der Posthalterin Madame Fausch gemietet haben, erhält Trebla einen vom 21. Mai 1938 datierten Brief seines früheren Kriegskameraden Adelhart Stepanschitz, der ihn zur Rückkehr auffordert. Hauptmann Heinz-Werner Laimgruber, der im Ersten Weltkrieg ihr Vorgesetzter war und jetzt eine hohe Position bei der Gestapo in Wien bekleidet, garantiere Trebla freies Geleit. Stepanschitz rät Trebla, sich in Wien einer Umerziehung zu unterziehen und sich dann den Nationalsozialisten anzuschließen. Trebla antwortet am 24. Mai mit dem Götz-Zitat.

Ende Mai erfahren Albert und Xane Trebla vom Tod des eng befreundeten Arztes Dr. Maxim Grabscheidt, der die Abtreibung vorgenommen hatte.

Dessen Eltern waren Anfang 1938 zu seinem Bruder nach Philadelphia ausgewandert. Seine Ehefrau hatte ihn zwei Wochen vor dem „Anschluss“ Österreichs verlassen und den gemeinsamen Sohn in einer Klosterschule in Niederösterreich untergebracht, ohne Maxim zu verraten, in welcher. Im Mai wurde der 41-Jährige von der Gestapo in Wien aufgegriffen. Mit anderen Schutzhäftlingen zusammen sollte er in einem Viehwaggon nach Dachau gebracht werden. Vor der Abfahrt inspizierten drei Hitlerjungen den Transport. Einer von ihnen rammte Grabscheidt seinen Ehrendolch in die Stirn. Die Klinge drang drei Zentimeter weit ein und blieb im Schädel stecken. Daraufhin rannten die Jungen weg. Der schwer verletzte Arzt wusste, dass er auf der Stelle sterben würde, wenn er die Klinge herauszöge. Er ließ den Dolch also während der tagelangen Fahrt in seiner Stirn stecken. Bei der Ankunft im KZ Dachau lebte er noch, aber die Operation verlief tödlich.

Xane ist über den Tod des Freundes so entsetzt, dass sie sich zu ertränken versucht. Ihr Mann rettet sie jedoch.

Trebla fallen zwei blonde Wiener Mitte 20 auf, die im Hotel Morteratsch in Pontresina abgestiegen sind: J. Krainer und G. Mostny. Hat Laimgruber die beiden auf ihn angesetzt? Soll er entführt oder liquidiert werden? Sein Argwohn verstärkt sich, als er glaubt, bei den beiden einen Gewehrlauf zu sehen. Doch als er näherkommt, sieht er stattdessen ein Kamerastativ. Als Krainer behauptet, dass sie Murmel fotografierten, warnt Trebla sie und sagt, er sei ein „Murmeljägerjäger“. – Immer wieder fallen ihm die beiden Blonden auf, und er hat den Eindruck, dass sie auf einen geeigneten Augenblick warten, um ihn zu überwältigen.

Die eidgenössische Fremdenpolizei erteilt ihm eine „Toleranzbewilligung“ für seinen Aufenthalt und zugleich ein striktes Arbeitsverbot. Trotzdem schreibt Trebla unter dem Pseudonym Austriacus Babeuf Zeitungsartikel und lässt die Honorare seinem Großvater Henrique Kujath überweisen, dem Besitzer der Luzienmühle im Domleschg.

Kurz nachdem die beiden blonden Wiener das Hotel Morteratsch in Pontresina verlassen haben, sieht Trebla sie im Garten der von Mordachai Katzbein-Brialoszynski geführten Pension Villa Muongia in Sankt Moritz Bad mit zwei Juden beim Pingpong-Spielen.

Die Fremdenpolizei in Zürich lädt Trebla für den 14. Juni 1938 vor. Am Vortag schreibt er zurück, er sei in Kur und werde sich nach seiner Rückkehr melden, denn er weiß, dass man ihn dazu überreden möchte, beim reichsdeutschen Konsul einen Pass zu beantragen.

Einmal fährt er mit dem Rechtsanwalt Dr. jur. Gaudenz de Colona, mit dem er sich angefreundet hat, im Auto. Obwohl der Jurist betrunken ist, rast er auf halsbrecherische Weise, und Trebla fürchtet um sein Leben. Nach der Ankunft hilft er de Colona aus dem Wagen, und dieser muss sich an der Karosserie festhalten, so unsicher ist er auf den Beinen.

Colana verteidigte Men Clavadetscher, als dieser sich vor Gericht verantworten musste, weil er im Oktober 1933 bei der Jagd seinen Bruder Peidar erschossen hatte, versehentlich, wie er beteuerte. Benedetg Caduff-Bonnard, der dabei gewesen war, sagte zu seinen Gunsten aus, und er wurde freigesprochen. Zweieinhalb Jahre nach dem Tod seines Bruders heiratete Men die Frau, die Peidar umworben hatte: Teresina. Von seinem Vater Töna erbte er die Gaststätte Chesetta Grischuna. Von dem irischen Jockey Mr Fitzallan erfährt Trebla, dass Men Clavadetscher mit Hilfe des früheren Bergführers Chasper Clalüna, der vor sieben Jahren sein Patent verlor, eine Schmugglerbande führt, die nebenher Murmel jagt. Darüber wundert Trebla sich, denn das Fleisch ist nicht essbar und das Fell nichts wert. Aber Fitzallan klärt ihn darüber auf, dass Murmelfett zu Salbe verarbeitet wird.

Einige Zeit später sitzt er mit Pola, Joop und Xane in dem von Joop ten Breukaas Diener, Gärtner und Chauffeur Jean Bonjour gefahrenen Wagen. Da glaubt er im Campfèrer See ein Licht gesehen zu haben. Joop will nicht, dass angehalten wird und geht davon aus, dass es sich um eine Mondspiegelung handelte. Aber nach der Ankunft möchte Trebla das Auto ausleihen und zum See zurückfahren, um nachzusehen. Joop ten Breukaa begleitet ihn nun doch. Voller Vorahnung steuert Trebla zunächst Colonas Haus an. Dort ist niemand, und die Garage ist leer. Am Seeufer stellt sich heraus, dass Trebla sich nicht täuschte: Unter Wasser leuchten die Scheinwerfer eines versunkenen Autos. Gaudenz de Colona ist mitsamt seiner Hundemeute ertrunken.

Eine Woche nach diesem Unfall oder Suizid ist Trebla mit Benedetg Caduff-Bonnard unterwegs, dem Besitzer des Café d’Albana in St. Moritz. Plötzlich rast der Druckereibesitzer Zarli Zuan mit einem Fahrrad über den Landungssteg der Villa Muongia und stürzt sich in selbstmörderischer Absicht in den St. Moritzersee.

Am nächsten Morgen wird Trebla von zwei Landjägern aus dem Bett geholt und zur Vernehmung gebracht. Kommissar Dumeng Mavegn findet es verdächtig, dass Trebla bei zwei Todesfällen zugegen war.

„Ihren Passeport.“
Er blätterte in meinem Reisepass nur kurz:
„Janein, dieser Pass ist ungültig.“
Ich schwieg.
„Es ist Ihnen bekannt, dass seit zirka drei Monaten eine Republikh Österreich, Republique d’Autrice de jure und de facto nicht mehr existiert.“
„Es ist mir bekannt. Weit mehr de facto als de jure.“

Mavegn weiß, dass Trebla illegal über die Grenze kam. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft in Wien seine Auslieferng beantragt. Er soll Parteigelder der illegalen SPÖ-Bezirksleitung unterschlagen haben. Während der Vernehmung kommt auch Treblas Verwundung im Ersten Weltkrieg zur Sprache.

„Kriegsverletzt.“ Mavegns Alraunfinger blätterten. „An welcher Stelle?“
„Zwischen Braila und Konstanza.“
„Das berührt mich nicht. Beantworten Sie präzis meine Frage.“
„Sehr präzis kann ich sie Ihnen nicht beantworten – denn ich flog in über zweitausend Meter Höh überm Schwarzen Meer, unter mir eine dichte Wolkendecke –“
„An welcher K-ö-r-p-e-r-s-t-e-l-l-e Sie vrwundet worden sind!“

Mavegn wird durch einen Telefonanruf unterbrochen. Es ist Pola Polari. Sie ruft aus Zürich an und überredet den Kommissar, ihren Freund freizulassen.

Trebla fährt daraufhin zur Luzienmühle und besucht seinen Großvater.

Der erzählt ihm von Sedine, seiner einzigen Tochter. Sie verliebte sich 1917 – im Alter von 17 Jahren – bei einem Aufenthalt in Baden-Baden in den preußischen Gardefüsilier Oberleutnant Carolus von Querfurt. Der Vater riet ihr davon ab, einen Offizier zu heiraten, noch dazu während des Krieges, aber sie hörte nicht auf ihn. Zwei Monate nachdem sie merkte, dass sie schwanger war, wurde ihr Mann von einem Schrapnell getroffen. Vier Jahre lang schob sie den Gelähmten im Rollstuhl herum, dann ließ sie sich scheiden. Carolus von Querfurt nahm sogar die Schuld auf sich und behauptete, die Ehe gebrochen zu haben. Wiederum gegen den Rat ihres Vaters heiratete Sedine den Rennfahrer Detlev von Preznicek. Der verunglückte auf dem Nürburgring, konnte zwar aus dem brennenden Wrack gerettet werden, blieb jedoch verkrüppelt. Während Henrique Kujath sich in Brasilien aufhielt, heiratete seine Tochter den Magdeburger Landgerichtsrat Siegfried Heppenheim, einen jüdischen Deutschnationalen, der 1933 aus dem Amt gejagt und im KZ Oranienburg eingesperrt wurde. Ein Stiefeltritt brach sein Rückgrat an. Inzwischen lebt er auf Kosten seines Schwiegervaters in einem Tessiner Sanatorium.

Kujath hat einen Mann namens Szabo aufgenommen, der an einem Sender bastelt, mit dem er Radioübertragungen von Hitler-Reden stören will. Zugegen sind auch gerade drei spanische Republikaner: Montez Rubio, der Direktor des Prado, der viele wertvolle Gemälde nach Genf gebracht hat, Adan Ithurra y Azkue und dessen Schwester Maïtena. Der Vater von Adan und Maïtena war Präsident der Sociedad de los Estudios Vascos in San Sebastian. Einer seiner vier Söhne fiel während des Spanischen Bürgerkriegs in Asturien, zwei wurden von General Francos Männern abgeholt und erschossen. Nun leben von den Kindern nur noch der jüngste Sohn und die Tochter.

Maïtena Ithurra y Azkue, die noch keine 20 Jahre alt ist, küsst Trebla auf den Mund. Er wundert sich darüber. Erst später erfährt er von seinem Großvater, dass sie ihn mit dem Gesinnungsgenossen Valentin Tiefenbrucker verwechselte.

Bei Valentin Tiefenbrucker handelt es sich um einen Schmiedgesellen aus Wasserburg am Inn. Im Ersten Weltkrieg geriet er in zaristische Gefangenschaft. Zu Beginn der Oktoberrevolution kam er zwar wieder frei, blieb jedoch in Russland, lernte die Sprache, wurde Rotarmist und studierte in Moskau. Als seine georgische Lebensgefährtin starb, kehrte er nach Bayern zurück und wurde 1925 jüngster Landstagsabgeordneter. Zwei Jahre später zog er für die KPD in den Reichstag. Nach Hitlers Machtübernahme versteckte er sich zwei Jahre lang im bayrisch-österreichischen Grenzgebiet. Dann tarnte er sich in der Südsteiermark als Hilfsmechaniker und fungierte als Kurier zwischen der verbotenen KP Österreichs und dem Arbeiter-Gewerkschaftsrat in Jugoslawien. Im April 1938 griff ihn die Gestapo auf und brachte ihn nach Dachau ins Konzentrationslager.

Dort erlebte er, wie der Reiterclown Konstantin Giaxa als Häftling eintraf und vom Kommandanten, dem SS-Standartenführer Giselher Liebhenschl, während eines Appells aufgefordert wurde, eines seiner Kunststücke vorzuführen. Giaxa ritt los, drehte ein paar Runden und nahm dann den an der Rampe stehenden Anhänger eines Lastwagens als Sprungbrett, um sich in die darüber verlaufenden Starkstromdrähte zu katapulierten. Die Augenzeugen schrien auf, als Pferd und Reiter in den Drähten hängen blieben und qualmten, während eine Wache vom Turm aus sinnlos mit dem MG schoss.

Valentin Tiefenbrucker nutzte das Chaos zur Flucht. Er schlug sich zum Bodensee durch und schwamm unbemerkt in die Schweiz. An diesem Abend ist er bei Henrique Kujath in der Luzienmühle zu Gast. Trebla erfährt von ihm, dass sein Schwiegervater tot ist. Xane, die schon nach Maxim Grabscheidts Tod einen Selbstmordversuch unternahm, dürfe das vorerst nicht erfahren, meint Trebla.

Kujaths Diener Hans Pfiffke, ein Fabrikarbeitersohn aus Berlin, fährt Valentin Tiefenbrucker zum Neuenburger Jura. Von dort soll ihn ein französischer Pilot mit einem Fieseler Storch zur Armeegruppe Modesto in Spanien fliegen. Die Flugabwehr von Punta de Salou hält die Maschine jedoch für eine der Legion Condor und schießt sie zwischen Tarragona und Cambrils ab. Der Pilot kann sich mit dem Fallschirm retten, aber Valentins Fallschirm verhakt sich, und er kommt ums Leben.

Henrique Kujath erfährt es nicht mehr: Er erlitt aufgrund der Nachricht vom Tod Konstantin Giaxas einen Herzanfall und starb am Tag vor seinem 70. Geburtstag.

Das Pfeifen der Murmel irritiert Trebla, denn er glaubt, es handele sich um Pfiffe seiner beiden Häscher. Eines Tages stößt er im Wald auf einen der beiden. Georg Mostny schläft und merkt nicht, dass Trebla ihm das Gewehr wegnimmt. Dann fährt er hoch und stößt einen unartikulierten Schrei aus, auf den Krainer aus einiger Entfernung mit dem Ruf antwortet: „Schorsch, wo bist du? Was ist?“ Trebla geht weg. Er hätte Mostny erschießen können, aber er glaubt jetzt nicht mehr, dass die beiden Wiener den Auftrag haben, ihn zu entführen oder zu töten, denn er nimmt aufgrund des Erlebnisses an, dass Mostny nicht sprechen kann und von Krainer betreut wird. Das erklärt auch, warum er Mostny noch nie ein Wort sagen hörte.

Einige Zeit später lässt sich eine junge Frau namens Verena Timmermut auf ein Schäferstündchen mit Trebla ein, obwohl sie einen festen Freund hat. Der – er heißt Lenz Zbraggen – ertappt die beiden in flagranti. Daraufhin geht er hinaus und erschießt sich.

Lenz‘ Bruder Balz verübte ebenfalls Selbstmord. Andri, der einzige noch lebende Sohn der Witwe Zbraggen-Tratschin in Celerina, droht Trebla mit Rache: Er werde ihn töten und den Mord dann beichten, sagt er.

Trebla, der sich nun erneut verfolgt fühlt, besucht Pola Polari in Acla Silva.

Sie fragt ihn, ob sie 1917 in Bad Trentschin-Teplitz seine erste Frau gewesen sei. Er weiß keine eindeutige Antwort darauf und erklärt ihr den Grund: Als es im Lazarett so aussah, als würde er den Kopfschuss nicht überleben, wollte er vor dem Ende wenigstens einmal mit einer Frau im Bett gewesen sein, und ein Oberleutnant brachte ihn mit einem Fiaker ins Hotel Danubia, wo die 21-jährige Hilfsschwester Josefine Waisnix aus Wien bereits auf ihn wartete. Als Erstes trank Trebla Schampus. Das war ein Fehler, denn der Alkohol stieg ihm sofort in den Kopf, und er schlief ein. Danach wusste er nicht, ob er mit Josefine intim gewesen war oder nicht. Drei Monate später lernte er dann Pola kennen.

Mitten in der Nacht macht Trebla sich zu Fuß auf den Rückweg von Acla Silva nach Pontresina, aber statt nach Hause zu gehen, holt er die Kellnerin Pina in Plaun da Choma aus dem Bett. „Von Pola zu Pina“, denkt er. Er gibt keine Ruhe, bis sie nachgibt und ihm die Türe öffnet. Zu seiner Verwunderung ist sie splitternackt. Während des Geschlechtsverkehrs stellt er sich vor, die junge Spanierin Maïtena Ithurra y Azkue in den Armen zu halten. Auf diese Weise betrügt er nicht nur seine Ehefrau, sondern auch die Geliebte.

Zufällig belauscht er ein Gespräch in einer Telefonkabine: Georg Mostny scheint mit jemanden über ihn zu reden. Er ist also gar nicht stumm! Und die beiden Wiener sind doch hinter ihm her.

Aufgebracht ruft er Heinz-Werner Laimgruber in Wien an. Der sei im Griechenlandbeisl, heißt es. Trebla lässt sich mit der Gaststätte verbinden und fordert den Kellner auf, Laimgruber an den Apparat zu holen. Der glaubt zunächst, jemand erlaube sich einen Spaß mit ihm, aber dann erkennt er Trebla an der Stimme.

„Immer der alte Spaßvogel Trebla.“
„ImmerderalteSpaßvogelTrebla. Nehmen wir an, dass Stepanschitz dir d-o-c-h meine Antwort auf eure Einladung, heim ins Reich zu kehren, ausgerichtet hat. So wie ich es ihm in meinem kurzen, mm, vom jungen Goethe inspirierten Brief Ende Mai auftrug. Woraufhin du unverweilt zwei deiner S-c-h-e-r-g-e-n ins Engadin beorderst, mir auf den Hals. Die Knaben Krainer und Mostny.“
„Nie die Namen gehört.“
„Handelt sich ja nur um ihre, mm, Künstlernamen.“
„Was für Künstler?“
„Na, sagen wir – Liquidationskünstler.“
„Liquidations-? Was sollte deiner Theorie nach liquidiert werden? Ein Bankkonto?“
„Nein, ich.“
„Duuu? Treblahhahha, du bist wirklich adorabel.“

Trebla fühlt sich von allen Seiten verfolgt. Am 22. Juni wirft er sich auf der Straße über San Gian zu Boden und zieht die Walther-Pistole, die er nun ständig bei sich hat. Man habe auf ihn geschossen, sagt er dann zu Xane, die alles aus der Nähe beobachtet hat. Aber sie versichert ihm, dass er von niemandem bedroht worden sei und nur er einen Schuss abgegeben habe.

Obwohl Albert Trebla alles tat, damit Xane nichts vom Tod ihres Vaters erfuhr, weiß sie inzwischen, dass er tot ist.

„Aber ich werde mich nicht vergiften lassen. Nicht vergiften lassen von Trauer. Ich bin im dritten Monat, Mütterchen. Nnnein – nie mehr ‚Mütterchen‘. Es muss passiert sein, wie du von der Silvretta heruntergekommen bist. Und dann, hier oben – seit vier Wochen hatten wir einander nichts zu sagen. Fast nichts. Nicht wahr?“

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Die eigentliche Handlung in dem Roman „Murmeljagd“ von Ulrich Becher umspannt nur einen Zeitraum von einem Monat: von Ende Mai bis Ende Juni 1938. Der Ich-Erzähler, ein österreichischer Journalist namens Albert von Trebla, ist mit seiner Ehefrau Xane vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohen, fühlt sich jedoch auch im Schweizer Exil verfolgt. Im Engadin begegnet er einer Reihe mehr oder weniger schrulliger Personen, von denen drei kurz nach einander ums Leben kommen. Parallel dazu erfährt Trebla vom spektakulären Todesritt seines Schwiegervaters im KZ Dachau und von anderen Todesfällen. In dieses Geschehen eingeflochten sind Rückblenden und Parallelmontagen, die bis in den Ersten Weltkrieg zurückgehen.

Einiges an „Murmeljagd“ ist autobiografisch oder von Personen inspiriert, die tatsächlich lebten. Beispielsweise soll Treblas Schwiegervater, der Reiterclown Konstantin Giaxa, Ulrich Bechers Schwiegervater Alexander Roda Roda (1872 – 1945) ähneln. Acla Silva hieß Wilhelm Furtwänglers Sommerresidenz in St. Moritz Dorf.

Ulrich Becher hat „Murmeljagd“ als Mischung aus Groteske und Politsatire angelegt, aber auch Versatzstücke aus dem Thriller-Genre eingebaut. Vor allem leuchtet er das Skurrile, Verschrobene und Abgründige aus. Selbstironie, Sprachwitz, schwarzer Humor und Tragikomik bereichern die Darstellung und prägen die Sprache, die zwischen Bericht und szenischer Darstellung wechselt. Sentimentalität lässt Ulrich Becher keine aufkommen. Der erste Satz des Romans lautet denn auch:

„Wissen Sie, Gnädige Frau, es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein.“

Trebla sagt ihn zu seiner Frau, die sich ertränken will, nachdem sie die Nachricht vom tragischen Tod eines eng befreundeten Arztes im Konzentrationslager erhalten hat. Auf der letzten Seite zitiert Xane den Satz:

„‚Wissen Sie, Gnädige Frau, es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein.‘ Entsinnst du dich, Trebla? Hast du zu mir gesagt. Vor einem Monat.“

Kritisch anzumerken ist, dass es „Murmeljagd“ an Verdichtung fehlt. Ulrich Becher schwelgt in seiner Darstellung und kommt dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen. So kommen 700 klein gedruckte Seiten zusammen. Vielleicht hätte er einige der retardierenden Einschübe besser weggelassen.

Bei dem Namen Albert Trebla handelt es sich übrigens um ein Palindrom.

Den Roman „Murmeljagd“ von Ulrich Becher gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wolfram Berger (Regensburg 2009, ca. 30 Stunden, ISBN 978-3-942067-00-3).

Ulrich Becher wurde am 2. Januar 1910 in Berlin als Sohn des Rechtsanwalts Richard Becher und der Schweizer Pianistin Elisabeth Ulrich geboren. Er studierte Jura und ließ sich von seinem Schulfreund George Grosz künstlerisch ausbilden. 1932 begann Ulrich Becher mit „Männer machen Fehler“ eine Karriere als Schriftsteller. Aber im Jahr darauf wurde er von den Nationalsozialisten verfemt. Er zog deshalb nach Wien. Am 11. November 1933 heiratete er seine frühere Kommilitonin Dana Roda, die Tochter des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Alexander Roda Roda. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wollte er mit seinem österreichischen Pass in der Schweiz leben. Weil die Behörden jedoch seine offen bekundete antifaschistische Einstellung für einen Verstoß gegen die Neutralität der Schweiz hielten, versagten sie ihm eine Arbeitserlaubnis und drängten ihn, das Land zu verlassen. Ulrich und Dana Becher setzten sich daraufhin im März 1941 über Portugal nach Brasilien ab. Obwohl Danas Eltern bereits in New York lebten, dauerte es drei Jahre, bis die USA das Ehepaar Becher einreisen ließen. 1948 kehrte Ulrich Becher nach Wien zurück. Das Theaterstück „Der Bockerer“, das er mit Peter Preses gemeinsam geschrieben hatte, wurde in Wien erfolgreich aufgeführt. 1969 veröffentlichte der Rowohlt Verlag seinen Roman „Murmeljagd“, an dem er länger als ein Jahrzehnt gearbeitet hatte. 1976 wurde Ulrich Becher, der seit 1954 in Basel wohnte, mit dem Gesamtwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Ulrich Becher starb am 15. April 1990 in Basel.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Ulrich Becher Erben / Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung

Ulrich Becher (kurze Biografie)

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.