Thomas Mann : Lotte in Weimar
Inhaltsangabe
Kritik
Charlotte Kestners Ankunft in Weimar
Am Morgen des 22. September 1816 steigt die Hofrätin Charlotte („Lotte“) Kestner mit ihrer zweitjüngsten, gleichnamigen Tochter und ihrer Zofe vor dem Gasthof „Zum Elephanten“ in Weimar aus der Postkutsche. Sie kommen aus Hannover und verbrachten die letzte Nacht in Goslar.
Charlotte wurde am 11. Januar 1753 in Wetzlar als zweites von 16 Kindern des Ehepaars Magdalena Ernestina und Heinrich Adam Buff geboren. Zwei Jahre später avancierte ihr Vater zum Deutsch-Ordens-Amtmann.
Johann Wolfgang von Goethe begegnete Charlotte Buff und ihrem Verlobten, dem Legationssekretär Johann („Hans“) Christian Kestner, am 9. Juni 1772 auf einem Ball in dem Dorf Volpertshausen bei Wetzlar. Er freundete sich mit den beiden an und traf sich häufig mit ihnen. Als er Charlotte dreist zu küssen versuchte, begriff sie, dass sie Klarheit schaffen musste. Daraufhin reiste Goethe am 11. September überstürzt aus Wetzlar ab. Lotte schreckte vor dem genialen „Unmenschen“ zurück und zog es vor, im Jahr darauf ihren biederen Verlobten zu heiraten. Den Schmerz über die Aussichtslosigkeit einer Liebesbeziehung mit Lotte verarbeitete der Dichter in dem 1774 veröffentlichten Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“, mit dem er berühmt wurde.
[…] es waren vierundvierzig Jahre. Eine ungeheure Zeitmasse, das Leben selbst, das lange, einförmige und doch so bewegte, so reiche Leben, ‒ reich, das heißt kinderreich, mit elf mühsamen Segenszeiten, elf Kindbetten, elf Zeiten der nährenden Brust, die zweimal verwaist und nutzlos zurückgeblieben, weil man den allzu zarten Kostgänger wieder der Erde hatte zurückerstatten müssen. Und dann noch das Nachleben von allein schon sechzehn Jahren, die Wittib- und Matronenzeit, würdig verblühend, allein, ohne den Gatten und Vielvater, der schon voran war in den Tod und den Platz neben ihr leer gelassen hatte, ‒ Zeit der Lebensmuße, nicht mehr beansprucht von Tätigkeit und Gebären, von einer Gegenwart, stärker als das Vergangene, von einer Wirklichkeit, die den Gedanken ans Mögliche überherrscht hätte, so dass denn für die Erinnerung, für alles unerfüllte ‚Wenn nun aber‘ des Lebens, für das Bewusstsein ihrer andern Würde, der außerbürgerlichen, geisterhaften, die nicht Wirklichkeits- und Mutterwürde, sondern Bedeutung und Legende war und in der Vorstellung der Menschen eine von Jahr zu Jahr größere Rolle gespielt hatte, weit mehr Raum und erregende Einbildungskraft war gelassen worden als in der Epoche der Geburten … (244)
Als der Kellner Mager liest, welchen Namen die ältere der soeben angekommenen Damen eingetragen hat, bedrängt er sie überschwänglich, denn er schwärmt für den Dichterfürsten und weiß, dass er das Vorbild für die Romanfigur Lotte vor sich hat. Die Hofrätin versucht, seine Begeisterung zu drosseln:
„Ich kenne den jungen Rechtspraktikanten Doktor Goethe aus der Gewandsgasse zu Wetzlar. Den Weimarischen Staatsminister, den großen Dichter Deutschlands habe ich nie mit Augen gesehen.“ (22)
Charlotte Kestner gebar elf Kinder, von denen zwei bereits im Säuglingsalter starben. Seit 16 Jahren ist sie Witwe. Die Tochter Charlotte, die sie begleitet, lebt im Elsaß, wo sie ihrem verwitweten, einbeinigen Bruder Carl den Haushalt führt und sich um die Halbwaisen kümmert. Sie ist zu Besuch bei ihrer Mutter und hat sie nach Weimar begleitet. Hier wollen Mutter und Tochter nun Amalie („Mali“) besuchen, die jüngste, mit dem Landkammerrat Ridel verheiratete Schwester der Mutter. Während die Tochter bald nach der Ankunft in Weimar mit der Zofe zur Tante fährt, möchte sich die Mutter zuerst noch etwas ausruhen.
Rose Cuzzle
Bald schon klopft Mager an der Zimmertür: Eine junge, im Hotel wohnende Dame wolle der Hofrätin ihre Aufwartung machen. Charlotte erklärt, sie sei nicht angekleidet und sobald sie das sei, müsse sie zu ihren Verwandten. Der Kellner lässt jedoch nicht locker, und die Irin Rose Cuzzle steht auch bereits neben ihm. Sie verspricht, die Hofrätin nicht lange aufzuhalten, und diese gibt schließlich nach. Miss Cuzzle reist viel und nützt jede Gelegenheit, Berühmtheiten zu porträtieren. In Berlin zeichnete sie beispielsweise Rahel Varnhagen und Generalfeldmarschall Gebhard Leberecht von Blücher, Fürst von Wahlstatt. Auch jetzt hat Rose Cuzzle ihren Skizzenblock dabei.
Bei dem erbetenen Augenblick bleibt es nicht. Während Rose Cuzzle an dem Porträt arbeitet, reden die Damen über Johann Wolfgang von Goethe.
Friedrich Wilhelm Riemer
Nach einer Stunde werden sie von Mager gestört: Dr. Riemer sei gekommen, um der Hofrätin aus Hannover seine Aufwartung zu machen. Unwirsch entgegnet Charlotte:
„Was gibt es? Herr Doktor Riemer? Was für ein Herr Doktor Riemer? Meldet Er mir gar einen neuen Besuch? Was fällt Ihm ein! Das ist ganz unmöglich! Welche Zeit haben wir? Eine sehr späte Zeit! Mein liebes Kind“, wandte sie sich an Miss Rose, „wir müssen dies freundliche Beisammensein sofort beenden. Wie sehe ich aus? Ich muss mich ankleiden ‒ und ausgehen. Man erwartet mich ja! Leben Sie wohl! Und er, Mager, sag‘ Er jenem Herrn, dass ich nicht in der Lage bin, zu empfangen, dass ich schon weg bin …“
„Sehr wohl“, erwiderte der Marqueur, indess Miss Cuzzle ruhig weiter schraffierte. „Sehr wohl, Frau Hofrätin. Allein ich möchte Dero Befehl nicht ausführen, ohne sicher zu sein, dass Frau Hofrätin sich über die Identität des gemeldeten Herrn im Klaren sind …“
„Was da, Identität!“, rief Charlotte erzürnt. „Will Er mich wohl mit seinen Identitäten in Frieden lassen? Ich habe durchaus keine Zeit für Identitäten. Sag‘ Er seinem Herrn Doktor …“
„Absolut!“, versetzte Mager unterwürfig. „Unterdessen halte ich es für meine Pflicht, die Frau Hofrätin darüber ins Bild zu setzen, dass es sich um Herrn Doktor Riemer handelt, Friedrich Wilhelm Riemer, den Secretär und vertrauten Reisebegleiter Seiner Excellenz, des Herrn Geheimen Rates. Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, dass der Herr Doktor vielleicht eine Botschaft …“ (49)
Nachdem sich Charlotte von Rose Cuzzle verabschiedet und endlich angekleidet hat, empfängt sie Riemer in einem Salon des Hotels.
Der Philologe Friedrich Wilhelm Riemer ist 42 Jahre alt. Nachdem er Wilhelm von Humboldts Kinder unterrichtet hatte, stellte Johann Wolfgang von Goethe ihn 1803 als Privatlehrer seines Sohnes August ein. Später beschäftigte Goethe den Gelehrten als Lektor und Sekretär, bis dieser im November 1814 Christiane von Goethes Gesellschafterin Caroline Ulrich heiratete, die zuletzt auch einige Monate als Sekretärin für den Dichter gearbeitet hatte.
Dr. Riemer klagt, er habe erst unlängst einen Ruf der Universität Rostock ausgeschlagen, um in Weimar bleiben zu können. Er hält Goethe zwar für eine Art Mensch gewordenen Gott, sieht das Idol aber durchaus kritisch. Beispielsweise missfällt ihm dessen Nihilismus und Gleichgültigkeit, Gefühlskälte und Arroganz. Goethe, so behauptet er, nutze andere aus und behandle sie zugleich geringschätzig.
Adele Schopenhauer
Auch dieses Gespräch wird nach zwei Stunden von Mager gestört, der mitteilt, dass Adele Schopenhauer seit mehr als 40 Minuten darauf warte, die Hofrätin begrüßen zu dürfen. Zugleich lädt er Charlotte Kestner ein, aus dem Fenster zu schauen: Vor dem Eingang des Gasthofes hat sich eine Menschenmenge versammelt. Der Stadtsergeant Rührig, sagt der Kellner, halte es für ratsam, dass die prominente Besucherin sich den Neugierigen kurz zeigt. Das lehnt Charlotte allerdings kategorisch ab.
Obwohl sie bereits drei Stunden in Verzug ist, lässt sie sich auf ein Gespräch mit Adele Schopenhauer ein.
Luise Adelaide Lavinia („Adele“) Schopenhauer, die 19-jährige Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer, Tochter der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer und des Großkaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer, kam nach dem Tod des Vaters im April 1805 mit ihrer Mutter von Hamburg nach Weimar, wo Johanna Schopenhauer als Salonière reüssierte und als eine der wenigen Damen der Gesellschaft den Umgang mit Christiane Vulpius nach der Eheschließung mit Johann Wolfgang von Goethe im Oktober 1806 nicht mied.
„Ja, die jüngst [am 6. Juni 1816] dahingegangene Frau von Goethe, die er gleich nach seiner Vermählung mit ihr bei uns einführte, nur bei Mama, denn sonst war es überall mit der Einführung ein wenig schwierig. Man kann sogar sagen, dass der große Mann selbst fast nur bei uns verkehrte, denn wenn Hof und Gesellschaft ihm das freie Zusammenleben mit der Seligen nachgesehen hatte – das gesetzliche gerade verschnupfte sie.“ (146)
„Amor gilt hier viel, es werden ihm weitgehende Rechte zugestanden bei allem Sinn für das Ziemliche. Man muss auch sagen, dass die Kritik unserer Gesellschaft an der derben Lebenslust der Geheimen Rätin mehr ästhetischer als moralischer Natur war.Wer ihr aber gerecht werden wollte, musste gestehen, dass sie ihrem hohen Gemahl auf ihre Art eine vortreffliche Gattin war, ‒ auf sein leiblich Wohl, das ihm nie gleichgültig war, jederzeit treu bedacht und voller Sinn für die Bedingungen seiner Production, von der sie zwar nichts verstand – nicht ein Wort, das Geistige war ihr ein dreimal verschlossener Garten ‒, von deren Bedeutung für die Welt sie aber durchaus einen ehrfürchtigen Begriff hatte. (148)
„Ja, sie war ordinär“, sagte Adele. „De mortuis nil nisi bene, aber ordinär war sie in hohem Grade, gefräßig und plusterig mit hochroten Backen und tanzwütig und liebte auch die Bouteille über Gebühr, ‒ immer mit Komödiantenvolk und jungen Leuten, als sie selbst schon nicht mehr die Jüngste war, immer Redouten und Traktamente und Schlittenfahrten und Studentenbälle […]“ (147)
Adele Schopenhauer erwähnt den Musenverein („Muselinen“), in dem sie sich unter dem Namen Adelmuse engagiert und meint, Goethe erfahre besser nichts davon, denn er habe „eine ironische Aversion gegen schöngeistige Frauenzimmer, und wir müssten befürchten, dass er sich über diese uns so lieben Bestrebungen lustig machte“ (153). Außerdem würde ihm missfallen, dass sich die Muselinen nicht nur mit seinen Dichtungen, sondern auch mit den Werken anderer Schriftsteller beschäftigen, denn Goethe dulde keine anderen Götter neben sich.
„Ich hatte immer den Eindruck“, fuhr Adele fort, „dass die Societät, zum wenigsten unsere deutsche, in ihrem Drang nach Unterwerfung sich ihre Herren und Lieblinge selbst verdirbt und ihnen einen peinlichen Missbrauch ihrer Überlegenheit aufdrängt, an dem schließlich beide Teile unmöglich noch Freude haben können.“ (150)
Ottilie von Pogwisch
Dann erzählt Adele Schopenhauer von ihrer ein paar Monate älteren Freundin Ottilie von Pogwisch („Tellemuse“). Ihr Vater gehörte einer preußischen Offiziersfamilie aus dem holsteinischen Adel an, ihre Mutter war eine geborene Gräfin Henckel von Donnersmarck. Nachdem die Ehe der Eltern früh an der Armut gescheitert war, kam die Mutter mit den Töchtern Ottilie und Ulrike 1806 nach Weimar. Dort freundete sich Ottilie von Pogwisch mit der fast gleichzeitig mit der Mutter in Weimar eingetroffenen Adele Schopenhauer an. Die beiden jungen Damen verband schließlich eine Freundschaft mit Ferdinand Heinke aus Breslau, der sich 1813/14 als Adjutant des Stadtkommandanten in Weimar aufhielt.
Während Ferdinand Heinke in den Befreiungskriegen gegen Napoleon kämpfte, verhinderte Johann Wolfgang von Goethe – der 1808 mit dem Kaiser in Erfurt gefrühstückt hatte und eine Befriedung Europas von ihm erwarterte –, dass sich sein Sohn den Freiwilligen anschloss, obwohl August deshalb von vielen geschmäht wurde. Dass August zu viel trinkt und sich mit Frauen zweifelhaften Rufes umgibt, duldet der Vater allerdings.
Adele Schopenhauer sorgt sich nun um ihre Freundin, weil es so aussieht, als werde Ottilie nicht Ferdinand Heinke, sondern August von Goethe heiraten. Adele behauptet, Johann Wolfgang von Goethe habe sich bereits vor seinem Sohn für Ottilie interessiert, August sei erst durch ihn auf sie aufmerksam geworden und erfülle mit der Brautwerbung einen Wunsch des Vaters. Die Freundin befürchtet, dass die vermutlich mehr vom Vater als vom Sohn angestrebte Ehe nicht glücklich werden könne.
In diesem Augenblick meldet Mager, der Herr Kammerrat von Goethe sei eingetroffen und wolle mit der Hofrätin sprechen. Adele Schopenhauer bittet Charlotte Kestner, nichts von ihrer Unterredung zu verraten und lässt sich von dem Kellner so hinausbringen, dass Goethe sie nicht sieht.
August von Goethe
August von Goethe ist 27 Jahre alt und gehört dank seines Vaters bereits zum Hofstaat des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach.
Gleich nach ihrer Ankunft in Weimar schrieb Charlotte Kestner dem Jugendfreund ein Billet, und dessen Sohn überbringt nun die Antwort mit einer Einladung zum Mittagessen in drei Tagen. Gerührt stellt Charlotte fest, wie ähnlich der Sohn dem Vater ist, den sie vor 44 Jahren zuletzt sah. August wiederum entdeckt Ähnlichkeiten im Aussehen von Charlotte und Ottilie von Pogwisch.
Über seinen Vater sagt August von Goethe:
„Die Lage ist ja so, dass Vater zwar rangältester Minister ist, aber seit vielen Jahren, eigentlich schon seit seiner Rückkehr aus Italien, kein Geschäftsressort mehr verwaltet. Mit einiger Regelmäßigkeit befragen lässt er sich nur noch in Sachen der Universität Jena, aber schon Titel und Pflichten eines Curators würden ihn belästigen. Es waren im Grund nur noch zwei Geschäfte, die er bis vor kurzem ständig versah: die Direction des Hoftheaters und die Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Kunst und Wissenschaft, will sagen die Bibliotheken, die Zeichenschulen, den Botanischen Garten, die Sternwarte und die naturwissenschaftlichen Cabinette.“ (279f)
Als Augusts Mutter starb, war sein Vater zwar aus Jena zurück, aber unpässlich – ebenso wie bei Schillers Tod elf Jahre davor. Die Gesellschaft habe seine Mutter ungerecht behandelt, klagt August.
„[…] das Andenken einer Frau, die sie allezeit mit ihrem Hass, ihrer Bosheit und missgünstigen Médisance verfolgt hat. Und warum?“, fragte er sich ereifernd. „Weil sie sich in ihren gesunden Tagen gern ein wenig distrahierte, gern ein Tänzchen machte und gern in fröhlicher Gesellschaft ein Gläschen trank. Ein schöner Grund! Vater hat sich darüber amüsiert und wohl manchmal mit mir gescherzt über Mutters ein wenig derbe Lebenslust, […] aber das war herzlich und eher beifällig gemeint, und schließlich ging er ja auch seine Wege und war mehr weg von uns, in Jena und in den Bädern, als er bei uns zu Hause war. […] und auch die Gesellschaft hätte ihr Dank wissen sollen […], aber daran fehlt es eben in ihrer schnöden Seele, und sie zog es vor, Mutter zu hecheln und durchs Geschwätz zu ziehen, weil sie nicht ätherisch war und nicht sylphisch, sondern in Gottes Namen dick, mit roten Backen, und nicht Französisch konnte. Aber das war alles bloß Neid, weil sie das Glück gehabt hatte, sie wusste nicht, wie, und war der Hausgeist und die Frau des großen Dichters und großen Herrn im Staat geworden. Bloß Neid, bloß Neid.“ (254f)
Auch auf seine Absicht, Ottilie von Pogwisch zu heiraten, kommt August zu sprechen, und als Charlotte meint, seinem Vater müsse es schwerfallen, nach Christiane nun auch den Sohn zu verlieren, berichtet er, was sein Vater vorgeschlagen hat: Das Paar soll zu ihm ziehen und Ottilie die Rolle der Dame des Hauses am Frauenplan übernehmen. Charlotte durchschaut zwar, dass der 67-Jährige die hübsche junge Frau in seiner Nähe haben möchte, meint jedoch:
Könnt ihr euch leiden, ihr jungen Leute, so nehmt euch, tut’s ihm zuliebe und seid glücklich in euren Oberstuben. Ich habe keinen Beruf, euch davon abzureden. (306)
Johann Wolfgang von Goethe
Goethe erwacht am 22. September 1816. Sein Diener Ferdinand Schreiber, den er allerdings ebenso wie dessen Vorgänger Carl nennt, bringt ihm Kaffee ans Bett.
„Ist das curios, jetzt hab‘ ich doch wieder gedacht aus alter Gewohnheit, du wärst der Stadelmann, als du hereinkamst, der langjährige Carl, von dem du den Namen geerbt hast. Muss doch wunderlich sein, Carl gerufen zu werden, wenn man eigentlich – das mein‘ ich eben, wenn man eigentlich Ferdinand heißt.“
„Dabei fällt mir gar nichts mehr auf, Ew. Excellenz. Das ist unsereiner gewohnt. Ich hab‘ auch schon mal Fritz geheißen. Und eine Zeit lang sogar Battista.“ (323f)
August überbringt ein Billet der soeben in Weimar eingetroffenen Hofrätin Charlotte Kestner und berichtet, dass die Polizei wegen eines Menschenauflaufs vor dem Gasthof „Zum Elephanten“ Mühe habe, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Dichter fühlt sich gestört:
„Pénible, Sohn. Eine pénible, ja gräuliche Sache. Die Vergangenheit verschwört sich mit der Narrheit gegen mich, um Trouble und Unordnung zu stiften. Könnt‘ sie sich’s nicht verkneifen, die Alte, und mir’s nicht ersparen?“ (399)
Es bleibt Goethe nichts anderes übrig, als seinen Sohn mit einer Einladung zu Charlotte Kestner zu schicken.
Tafelrunde
Zum Mittagessen am 25. September 1816 in Goethes Haus am Frauenplan in Weimar sind außer Charlotte Kestner, ihrer Tochter, ihrer jüngsten Schwester Amalie und deren Ehemann Dr. Rudolph Ridel weitere zehn Gäste eingeladen, unter anderem der Kunstprofessor Hofrat Heinrich Meyer und der Oberbaurat Clemens Wenzeslaus Coudray mit ihren Ehefrauen.
August von Goethe empfängt die Gäste, und erst als alle da sind, begrüßt auch sein Vater sie. Johann Wolfgang von Goethe setzt sich in der Mitte einer langen Tischseite zwischen Charlotte Kestner und Amalie Ridel.
Charlotte trägt ein weißes Kleid, an dem eine rosafarbige Schleife fehlt – die sie vor 44 Jahren ihrem Jugendfreund Goethe schenkte. Sie empfindet es als beklemmend, wie der Gastgeber sich verpflichtet fühlt, die unterwürfigen Gäste zu unterhalten, während diese ihn wie Trabanten umgeben und anhimmeln.
Goethe meint, die Juden seien ein Volk des Buches mit einer aufs Diesseits ausgerichten Religiosität. Das erkläre auch die uralte Abneigung gegen sie.
Es sei diese Antipathie, in der die Hochachtung den Widerwillen vermehre, eigentlich nur mit einer anderen noch zu vergleichen: mit derjenigen gegen die Deutschen, deren Schicksalsrolle und innere wie äußere Stellung unter den Völkern die allerwunderlichste Verwandtschaft mit der jüdischen aufweise. Er wolle sich hierüber nicht verbreiten und sich den Mund nicht verbrennen, allein er gestehe, dass ihn zuweilen eine den Atem stocken lassende Angst überkomme, es möchte eines Tages der gebundene Welthass gegen das andere Salz der Erde, das Deutschtum, in einem historischen Aufstande frei werden, zu dem jene mittelalterliche Mordnacht nur ein Miniaturvor- und –abbild sei …“ (446f)
Dann kommt Goethe auf die Deutschen zu sprechen:
„Die Deutschen sind ein Volk, welches eine große Ähnlichkeit mit den Chinesen aufweist.“ Ob das nicht sehr drollig sei und sein Zutreffendes habe, wenn man sich der Titelfreude der Deutschen und ihres eingefleischten Respects vor der Gelehrsamkeit erinnere. […] Außerdem seien sie Demokraten und auch hierin den Chinesen verwandt, wenn sie sie in der Radicalität demokratischer Gesinnung auch nicht erreichten. Die Landsleute des Confucius nämlich hätten das Wort geprägt: „Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.“
Hier brach ein Gelächter aus, das denn doch noch schallender war als das vorige. Dies Wort in diesem Munde erregte einen wahren Sturm von Heiterkeit. (447)
Vor dem Essen versprach Charlotte Kestner ihrem sechs Jahre jüngeren Schwager, sie werde bei Goethe ein gutes Wort für ihn einlegen. Sie weiß, dass der Geheime Landkammerrat das Amt eines Kammerdirektors in herzoglichen Diensten anstrebt. Aber auf der Heimfahrt in der Kutsche entschuldigt sie sich bei ihm, weil es keine Gelegenheit gab, mit dem Gastgeber ein paar vertrauliche Worte zu wechseln.
Theaterabend
Charlotte bleibt bis Mitte Oktober mit ihrer Tochter in Weimar, aber eine weitere Begegnung mit Goethe findet nicht statt. Ihrem Sohn, dem Legationsrat August Kestner, berichtet sie in einem Brief:
„Nur so viel, ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Manne gemacht, welcher, wenn ich nicht wüsste, dass es Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hat.“ (468)
Am 9. Oktober schickt Johann Wolfgang von Goethe seiner Jugendfreundin ein Billet. Er bietet ihr für eine Aufführung des Trauerspiels „Rosamunde“ von Theodor Körner nicht nur einen Logenplatz im Theater an, sondern auch seine Kutsche für die Hin- und Rückfahrt. Allerdings werde er selbst nicht kommen können, schreibt er.
Nach dem Theaterbesuch glaubt Charlotte, Goethe sitze neben ihr im Landauer und bildet sich ein, ein ebenso melancholisches wie versöhnliches Gespräch mit ihm zu führen. Sie gesteht ihm, der Besuch bei ihrer Schwester sei nur ein Vorwand gewesen, um nach Weimar zu reisen und ihn wiederzusehen.
„Ich kam, um mich nach dem Möglichen umzusehen, dessen Nachteile gegen das Wirkliche so sehr auf der Hand liegen […]. Findest du nicht, alter Freund, und fragst du nicht auch mitunter dem Möglichen nach in den Würden deiner Wirklichkeit? Sie ist das Werk der Entsagung, ich weiß es wohl, und also doch wohl der Verkümmerung, denn Entsagung und Verkümmerung, die wohnen nahe beisammen, und all Wirklichkeit und Werk ist eben nur das verkümmerte Mögliche. Es ist etwas Fürchterliches um die Verkümmerung, das sag‘ ich dir, und wir Geringen müssen sie meiden und uns ihr entgegenstemmen, aus allen Kräften, wenn auch der Kopf wackelt, vor lauter Anstrengung […]. Bei dir, da war’s etwas anderes, du hattest etwas zuzusetzen. Dein Wirkliches, das sieht nach was aus – nicht nach Verzicht und Untreue, sondern nach lauter Erfüllung und höchster Treue und hat eine Imposanz, dass niemand sich untersteht, dem Möglichen davor auch nur nachzufragen. Meinen Respect!“ (481f)
Die Kutsche hält vor dem Gasthaus „Zum Elephanten“. Mager läuft herbei, um Charlotte Kestner beim Aussteigen zu helfen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Darf ich diesen Arm offerieren zur sicheren Stütze? Guter Himmel, Frau Hofrätin, ich muss es sagen: Werthers Lotte aus Goethes Wagen zu helfen, das ist ein Erlebnis – wie soll ich es nennen? Es ist buchenswert.“ (485)
Als Thomas Mann 1936 in Küsnacht bei Zürich mit „Lotte in Weimar“ begann, strebte er eine schöpferische Pause zwischen dem dritten und vierten Joseph-Roman an und stellte sich etwas Leichtes nach dem Vorbild der Künstlernovelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ von Eduard Mörike vor. Tatsächlich arbeitete er bis Oktober 1939 daran, und es wurde ein tiefschürfender Roman, in dem einige komödiantische Szenen noch von der ursprünglichen Idee zeugen. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Nobelpreisträger bereits im Exil in Princeton. Die Erstausgabe von „Lotte in Weimar“ erschien noch im selben Jahr im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm.
In dem Roman „Lotte in Weimar“ greift Thomas Mann eine Anekdote auf: Johann Wolfgang von Goethes Jugendliebe Charlotte Buff, die nicht ihn, sondern Johann Christian Kestner geheiratet hatte und das Vorbild für die Romanfigur Lotte in „Die Leiden des jungen Werther“ gewesen war, traf am 22. September 1816 in Weimar ein, um ihre Schwester Amalie Ridel zu besuchen, wohl aber auch in der Hoffnung, den berühmt gewordenen Jugendfreund nach 44 Jahren wiederzusehen. Begleitet wurde sie allerdings nicht von ihrer 1788 geborenen Tochter Charlotte (wie es Thomas Mann darstellt), sondern von deren fünf Jahre jüngeren Schwester Clara. Goethe lud die beiden Damen ebenso wie Amalie und Dr. Rudolph Ridel tatsächlich am 25. September 1816 zum Essen ein und notierte in seinem Tagebuch lapidar: „Mittags Ridels und Madame Kestner aus Hannover“. Während in „Lotte in Weimar“ 16 Personen an der Tafel sitzen, fand das Mittagessen in Wirklichkeit in einem sehr viel kleineren Kreis statt.
Nicht nur bei Johann Wolfgang von Goethe, Charlotte Kestner, Amalie und Rudolf Ridel handelt es sich um Romanfiguren nach historischen Vorbildern, sondern auch bei vielen anderen, zum Beispiel bei Dr. Friedrich Wilhelm Riemer, Adele Schopenhauer, Ottilie von Pogwisch, August von Goethe, Ferdinand Schreiber, Heinrich Meyer und Clemens Wenzeslaus Coudray.
Fiktiv ist dagegen die Figur des gleich zu Beginn, ganz am Ende und zwischendurch auftretenden Kellners Mager.
„Lotte in Weimar“ dreht sich zwar um Johann Wolfgang von Goethe, ist aber mehr als ein Porträt des Dichterfürsten. Thomas Mann geht es – wie auch in seinen anderen Werken – um die Gegensätze Konvention und Genie, Kunst und Leben. Die Romanfigur Goethe dient in „Lotte in Weimar“ vor allem als Personifizierung des Mythos der Größe.
Immer mehr im Lauf des Arbeitsprozesses tritt das Interesse an der Psychologie Goethes und am Werk Goethes zurück hinter der Symbolhaftigkeit Goethes. Mehr und mehr wird für Thomas Mann unter dem Eindruck der zeitgeschichtlichen Ereignisse Goethe zum Symbol für etwas Anderes, nämlich für das, was die Deutschen unter Größe verstanden haben – für den Mythos der Größe; und da er parallel sieht, was aus dem Mythos der Größe im Stadium der Verhunzung wird – nämlich im Blick auf Hitler – wird diese unheilige Allianz zwischen Hitler und Goethe ständig gespiegelt, so dass also da eine ganz brisante politische Dimension feststellbar ist. (Werner Frizen im Kommentar zu der von ihm editierten Ausgabe von „Lotte in Weimar“, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2003)
In den ersten sechs von neun Kapiteln reden andere über Goethe. Erst im 7. Kapitel tritt er selbst auf und hält einen fast 100 Seiten langen, nur von einigen Einsprengseln unterbrochenen inneren Monolog. Bei dem erwähnten Mittagessen im vorletzten Kapitel erleben wir Goethe dann als Idol einer Tafelrunde und beobachten mit Charlotte Kestner die devoten Gäste, die glauben, lachen zu müssen, als Goethe sagt: „Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.“
Wenn man weiß, wann Thomas Mann an „Lotte in Weimar“ arbeitete, ist es evident, dass er dabei an Hitler dachte und am Beispiel Goethes und dessen Bewunderern über die Beziehung nicht nur zwischen Genie und Bürgertum, sondern auch zwischen Tyrann und Volk nachdachte.
„Lotte und Weimar“ spielt an wenigen Tagen Ende September / Anfang Oktober 1816. Thomas Mann hat den Roman fast nur aus Dialogen und Monologen komponiert. Eine Handlung gibt es kaum. Stefan Zweig fasst sie folgendermaßen zusammen:
An sich schiene die Fabel dieses Romans nicht vielversprechend und kaum mehr Substanz zu haben als die einer souverän zu erzählenden Anekdote oder zierlichen Novelle. Ein literarhistorisches Aperçu, so meint man zuerst: Lotte Kestner, die ehemalige Lotte Buff, die Jugendgeliebte Goethes und unvergessbar als die Lotte des ‚Werther‘, kann der Versuchung nicht widerstehen, nach fünfzig Jahren, nach einem halben Jahrhundert Goethe, den Theseus ihrer Jugend, wiederzusehen. Ein Großmütterchen, reichlich delabriert von der Zeit und sonst weise geworden durch sie, begeht sie die süße Torheit, noch einmal das weiße Wertherkleidchen mit der rosa Schleife anzuziehen, um den ordensbesternten Geheimrat an die süße Torheit seiner Jugend zu erinnern. Und er sieht sie, ein wenig geniert, ein wenig gestört, und sie sieht ihn, ein wenig enttäuscht und noch geheimnisvoll berührt von diesem etwas gespenstischen Wiedersehen nach einem halben Jahrhundert. Das ist alles. Eine Fabel, groß wie ein Tautropfen, aber wie dieser ein Wunder an Farbe und Feuer, wenn angestrahlt vom oberen Licht. (Stefan Zweig: Rezensionen 1902 ‒ 1939, Hg.: Knut Beck, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1983, ISBN 3-596-22292-3)
Sir Hartley Shawcross, der Hauptankläger des Vereinigten Königreichs beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, zitierte am 27. Juli 1946 in einem Schlussplädoyers angeblich Johann Wolfgang von Goethes Kritik an den Deutschen, tatsächlich jedoch – wie die „Times“ herausfand – aus dem 7. Kapitel des Romans „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann.
Egon Günther verfilmte den Roman „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann mit Lilli Palmer in der Hauptrolle.
Originaltitel: Lotte in Weimar – Regie: Egon Günther – Drehbuch: Egon Günther nach dem Roman „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann – Kamera: Erich Gusko – Schnitt: Rita Hiller – Musik: Karl-Ernst Sasse – Darsteller: Lilli Palmer, Martin Hellberg, Rolf Ludwig, Hilmar Baumann, Jutta Hoffmann, Katharina Thalbach, Monika Lennartz, Norbert Christian, Hans-Joachim Hegewald, Walter Lendrich, Dieter Mann, Angelika Ritter, Annemone Haase, Gisa Stoll, Christa Lehmann, Linde Sommer, Sonja Hörbing, Victor Deiß, Hans-Dieter Schlegel, Peter Köhncke, Wilhelm Gröhl u.a. – 1975, 120 Minuten
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
Thomas Mann: Buddenbrooks
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