Thomas Mann : Der Tod in Venedig

Der Tod in Venedig
Der Tod in Venedig Erstausgabe: Hyperionverlag Hans von Weber, 1912 © S. Fischer Verlag, Frankfurt/M Der Tod in Venedig Fassung der großen kommentierten Frankfurter Ausgabe Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 2017 ISBN 978-3-596-90407-5, 120 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Gustav von Aschenbach ist ein berühmter deutscher Dichter, der sehr auf Zucht und Vernunft bedacht ist. Unvermittelt unterliegt er der Versuchung, für ein paar Wochen zu verreisen und gelangt so nach Venedig, wo er dem Anblick eines polnischen Knaben erliegt, den er für den Inbegriff des Schönen hält.
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Kritik

In der neoklassizistischen Novelle "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann sind die Leitmotive mindestens ebenso wichtig wie die Handlung. Es geht um den Konflikt zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen am Beispiel des Verfalls eines Künstlers in der fauligen Atmosphäre einer morbiden Stadt.
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Gustav Aschenbach stammt aus einer schlesischen Kreisstadt. Sein Vater war ein höherer Justizbeamter; um Richter, Offiziere und Verwaltungsoffiziere handelte es sich auch bei den Vorfahren. Der Großvater mütterlicherseits war allerdings ein böhmischer Kapellmeister. Weil Gustav schon als Kind kränkelte, brauchte er nicht zur Schule zu gehen, sondern wurde zu Hause unterrichtet. So blieb ihm Kameradschaft fremd. Seine Frau starb früh, und die einzige Tochter hat sich verheiratet. Ein deutscher Fürst verlieh dem in München lebenden Dichter zum 50. Geburtstag einen „von“-Titel.

Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch Aufrechterhaltenden, all dieser Moralisten der Leistung, die, schmächtig von Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkungen der Größe abgewinnen.

Als er „an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19..“ bei einem Spaziergang am Münchner Nordfriedhof vorbeikommt, fällt ihm ein Fremder auf, der im Portikus der Aussegnungshalle steht. Da ergreift ihn „eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne“.

Er hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen waren, die Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht anders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn und Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion, der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu führen, von der Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht gewesen, Europa zu verlassen.

Trotz seiner „von jung auf geübten Selbstzucht“ beschließt Aschenbach, zu verreisen. Er fährt im Schlafwagen nach Istrien, weil aber das Wetter schlecht ist und es ihm in Pula nicht gefällt, begibt er sich in der zweiten Woche an Bord eines Schiffes nach Venedig.

Während der Überfahrt beobachtet er eine Gruppe junger Handelsgehilfen, die offenbar einen Ausflug nach Italien machen. Der ausgelassenste von ihnen ist ein alter Geck.

… als er mit einer Art von Entsetzen erkannte, dass der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiss, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines Greises.

Bei der Ankunft in Venedig ist der Greis betrunken. Aschenbach will eine Gondel zur nächsten Vaporetto-Station nehmen, um mit dem Boot zum Lido hinauszufahren, aber der Gondoliere lässt sich nicht davon abhalten, ihn zum Lido zu rudern. Als Aschenbach aus dem Hotel zurückkehrt, wo er Geld gewechselt hat, um den aufdringlichen Gondoliere entlohnen zu können, ist dieser verschwunden. Ein Mann erzählt ihm, der Gondoliere sei ohne Lohn zurückgefahren, weil er keine Konzession habe und er deshalb Schwierigkeiten befürchtete.

In dem Bäder-Hotel fallen Aschenbach drei junge Polinnen im Alter von 15 bis 17 und ein engelsgleicher 14-jähriger Knabe in der Obhut einer Gesellschafterin auf. Sie warten auf die Mutter, eine kühle polnische Dame, um mit ihr in den Speisesaal zu gehen. Der Junge geht als Letzter, wendet sich vor der Tür um und begegnet Aschenbachs Blick.

Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war.

… erschrak über die wahrhaft gottähnliche Schönheit des Menschenkindes …

Am nächsten Morgen, als Aschenbach sein Fenster öffnet, glaubt er „den fauligen Geruch der Lagune zu spüren“. Soll er wie bei seinem ersten Venedig-Aufenthalt vor einigen Jahren gleich wieder abreisen?

Am Strand beobachtet er den polnischen Knaben. Man ruft ihn Tadzio oder Tadziu. Das ist wohl eine Abkürzung von Tadeusz.

Der Himmel bleibt verhangen, und Aschenbach findet es unerträglich schwül. Noch vor dem Abendessen kündigt er seine vorgezogene Abreise für den nächsten Morgen an.

Der Portier mahnt zum Aufbruch, der Autobus zur Anlegestelle der Dampfboote zum Bahnhof könne nicht länger warten, doch Aschenbach bleibt beim Frühstück sitzen und ärgert sich über den seiner Meinung nach viel zu frühen Zeitpunkt der Abfahrt. Der Bus solle sein Gepäck mitnehmen und ohne ihn fahren; er werde rechtzeitig nachkommen. Endlich erscheint Tadzio. Nach einem letzten Blick auf den Knaben bricht Aschenbach auf und erreicht den Bahnhof gerade noch rechtzeitig. Als sich herausstellt, dass seine Koffer irrtümlich nach Como aufgegeben wurden, verlangt er ins Hotel zurückgebracht zu werden, um dort auf sein Gepäck warten zu können. Auf dem Boot zum Lido überkommt ihn „unter der Maske ärgerlicher Resignation die ängstlich-übermütige Erregung eines entlaufenen Knaben“.

Auch als nach zwei Tagen sein Gepäck eintrifft, bleibt er. Inzwischen scheint die Sonne, und der Himmel ist blau.

Während Aschenbach in einem Liegestuhl am Strand ruht, stellt er sich ein Gespräch von Sokrates mit dessen Schüler Phaidon vor. Sokrates lehrt: „So ist die Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste …“ An anderer Stelle erklärt er Phaidon: „Denn du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft.“

Mit Füller und Reiseschreibmaschine bearbeitet Aschenbach am Strand seine Korrespondenz und schaut Tadzio zu.

Als Aschenbach eine Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft, ja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage führe.

Eines Morgens eilt er Tadzio auf dem Weg vom Hotel zum Strand nach, um ihn einzuholen und anzusprechen, aber keuchend und mit jagendem Herzen muss er stehen bleiben. Er sorgt sich, dass jemand sein unwürdiges Benehmen beobachtet haben könnte.

In der vierten Woche seines Aufenthalts in Venedig fällt ihm auf, dass die Zahl der Gäste laufend abgenommen hat. In der Stadt bemerkt er Anschläge, die vor dem Genuss von Austern und Muscheln warnen, und in den Gassen riecht er ein keimbekämpfendes Mittel. Doch der Hotelmanager und alle anderen Venezianer, die er darauf anspricht, behaupten, es handele sich um Präventivmaßnahmen ohne weitere Bedeutung. Schließlich liegen im Hotel keine einheimischen Zeitungen mehr aus. Erst auf weiteres Nachfragen, verrät ein Angestellter eines englischen Reisebüros Gustav von Aschenbach, es handele sich um indische Cholera und es habe einige Todesfälle gegeben. Um die Feriengäste nicht zu vertreiben, versuche man die Vorgänge zu verheimlichen.

Aschenbach begnügt sich nicht mehr damit, Tadzio im Hotel und am Strand zu beobachten, sondern er stellt ihm und seiner Familie nach, folgt ihnen zum Beispiel durch die Gassen der Innenstadt, bis er sie aus den Augen verliert und erschöpft zurückbleibt. Mitunter leidet er unter Schwindelanfällen.

Als er dem Hotelfriseur gesteht, er sei mit seinen grauen Haaren unzufrieden, färbt dieser ihm die Haare schwarz, bearbeitet sie mit einer Brennschere und schminkt ihm das Gesicht. (Jetzt sieht er aus wie der erbärmliche alte Geck auf dem Schiff von Pula nach Venedig.)

Eines Morgens findet er in der Hotelhalle eine größere Menge Gepäck vor. Der Portier bestätigt seine Befürchtung: die polnische Familie wird nach dem Mittagessen abreisen.

Ein letztes Mal geht er zum Strand und schaut Tadzio von seinem Liegestuhl aus zu. Der Knabe watet durch das flache Wasser, dreht sich unvermittelt um, und es ist, als ob er „hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure“. Nach einer Weile bemerkt jemand, dass der Dichter leblos in seinem Liegestuhl hängt.

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Der auf apollinisches Maßhalten, auf Form, Zucht und Vernunft bedachte Künstler Aschenbach begegnet dem Dionysischen. Zuerst löst ein Fremder am Münchner Nordfriedhof bei ihm Reiselust aus, und er unterliegt der Verlockung. Ein schäbiges Schiff bringt ihn von Pula nach Venedig, und ein nicht authorisierter Gondoliere rudert ihn auf seiner Gondel, deren schwarzes Holz Aschenbach mit einem Sarg assoziiert, zum Lido. (Es ist, als ob Charon ihn über den Styx in den Hades bringen würde.) Am Lido verfällt er dem Anblick eines schönen Knaben, der ihn an eine vollendete antike Skulptur denken lässt. Selbst von der in Venedig wütenden Cholera lässt er sich nicht vertreiben.

Erliegt Aschenbach der Seuche, einem längeren Leiden oder gibt er sich auf, weil er ohne den schönen Knaben vor Augen nicht mehr leben mag? Thomas Mann lässt die Todesursache offen. Wichtiger ist der körperliche und moralische Verfall des Künstlers in der fauligen Atmosphäre einer morbiden Stadt. Thomas Mann hat als Schauplatz mit Bedacht Venedig gewählt, einen Ort, der nicht nur als Stadt der Liebe gilt, sondern auch als Symbol der Schönheit und des Verfalls.

Es geht um Altern, Verfall und Tod, um das Sterben eines tief verunsicherten Menschen und den Zusammenbruch der Wertmaßstäbe einer degenerierten Gesellschaft. Das Dionysische siegt über das Apollinische, das Rauschhafte über die Vernunft.

Luchino Visconti meint: „Das wirkliche Thema des Films ist die Suche des Künstlers nach Vollendung und die Unmöglichkeit, je Vollendung zu finden; in dem Augenblick, in dem der Künstler zur Vollendung findet, erlischt er.“

In dieser in fünf Kapitel gegliederten und in einer bewusst abgehobenen Sprache formulierten neoklassizistischen Novelle sind die Leitmotive mindestens ebenso wichtig wie die Handlung. Eines dieser Leitmotive ist der Tod, mit dem wir den Fremden am Münchner Nordfriedhof assoziieren, aber auch den lächerlichen Alten auf dem Schiff von Pula nach Venedig, den unheimlichen Gondoliere und einen seltsamen Sänger vor Aschenbachs Hotel.

Ursprünglich plante Thomas Mann eine Erzählung über die Liebe des 74-jährigen Johann Wolfgang von Goethe zu der jungen Ulrike von Levetzow, die „Entwürdigung eines hochgestiegenen Geistes“ durch Leidenschaft.

In „Der Tod in Venedig“ steht auch der folgende Satz von Thomas Mann:

Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz Gefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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