Margriet de Moor : Kreutzersonate

Kreutzersonate
Originalausgabe: Kreutzersonate Uitgeverij Contact, Amsterdam 2001 Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte Übersetzung: Helga von Beuningen Carl Hanser Verlag, München / Wien 2002 dtv, München 2004 ISBN: 978-3-423-13226-8, 140 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach einer enttäuschten Liebe schießt sich ein junger Mann in den Kopf und erblindet. Er verliebt sich viel später in eine Geigerin und heiratet sie. Da er seine Frau des Ehebruchs verdächtigt und sich immer mehr in seine Eifersucht steigert, ersinnt er einen hinterhältigen Plan ...
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Kritik

Mit der Form einer Rahmenerzählung verfährt Margriet de Moor ähnlich wie Tolstoi bei seiner gleichnamigen Novelle. Man würde der Autorin aber nicht gerecht, wenn man ihr einen eigenen Stil abspräche.
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Der Erzähler, ein junger Musiker, trifft auf dem Flughafen von Brüssel zufällig den blinden, allseits anerkannten Musikexperten Marius van Vlooten. Beide wollen sie zu einem Festival nach Bordeaux. Da sich der Abflug verzögert, setzen sie sich in ein Café. Der Blinde war kurz vorher im Gedränge mit dem Gesicht gegen eine Säule gelaufen; er fühlt, dass sein Gesprächspartner ihn anstarrt und sich wahrscheinlich über die Narbe oberhalb seines Ohrs wundert. Er solle sie sich nur in Ruhe ansehen, blafft er sein Gegenüber an. Dann erzählt er, wie es zu der „Torheit“, wie er es bezeichnet, kam.

Marius, der Sohn einer Patrizierfamilie, studierte Jura in Leiden, sprach fließend drei Fremdsprachen und kannte sich in den maßgebenden Theater- und Konzertsälen in Europa aus. Dass er ein bedeutender Mann werden würde, daran zweifelten weder er noch seine Eltern. Der Student war zweiundzwanzig, als er sich in die drei Jahre ältere Anthropologiestudentin Ines verliebte. Sie ließ ihren Freund von Anfang an nicht im Ungewissen, dass sie nach ihrem Examen nach Venezuela fahren würde, um dort an ihrer Dissertation zu arbeiten. Er war über beide Ohren verliebt in sie und fühlte sich darüber hinaus geschmeichelt, dass sie sich mit ihm einließ, denn damals waren die Mädchen noch zurückhaltender mit ihren Liebesbeweisen.

Nach einiger Zeit kam es immer häufiger vor, dass sie sich bei ihren Verabredungen verspätete oder sie kurzfristig absagte. Das hätte ihm zu denken geben müssen, warf er sich später vor, aber weil sie weiterhin mit ihm schlief, störte ihn das nicht.

Im Jahr darauf beendete Ines ihr Studium. Ihr Abschiedsfest feierte sie mit Freunden. Anschließend schlief sie mit Marius. Als sie sich am Morgen verabschiedeten, versprach er, sie anzurufen. Das tat er denn auch, aber sie hob nicht ab. Im Verlauf des Tages versuchte er viertelstündlich, sie zu erreichen. Erst gegen zehn Uhr abends ging sie an den Apparat, war aber so in Eile, dass sie ihn mit einem umgehenden Rückruf vertröstete. Als sie sich bis zwei Uhr nachts immer noch nicht gemeldet hatte, fuhr er zu ihrem Studentenheim, wo er sie aber nicht antraf. Drei Tage später erreichte er am Telefon eine ihrer Kommilitoninnen, die ihm verriet, dass Ines am Morgen in Begleitung eines Mannes, mit dem sie zwei Tage zuvor das Aufgebot bestellt hatte, zum Flughafen gefahren sei. Sie habe ihr anvertraut, in Venezuela nach der obligatorischen Frist von vierzehn Tagen heiraten zu wollen.

Van Vlooten erinnert sich, dass er, noch den Hörer in der Hand, bereits den Revolver seines Vaters vor sich sah. Er fuhr sofort in sein Elternhaus und entwendete ohne zu zögern die Waffe aus dem Schrank seines Vaters. Dann verließ er mit der .22er Smith & Wesson die Wohnung. In seinem Zimmer in Leiden lud er den Revolver – einen Abschiedsbrief zu schreiben, daran dachte er nicht – und hielt sich den Lauf oberhalb des Ohrs an den Kopf. Den Schuss überlebte er, weil er vielleicht ein bisschen zu schräg oder zu weit hinten ansetzte, vermutet van Vlooten. Seine Erblindung konnten die Ärzte allerdings nicht verhindern. Der Verlust des Augenlichts ließ ihn zunächst verzweifeln.

„Wo ich mich befand, da war niemand außer mir. Was ich als ‚ich‘ bezeichnete, steckte unter einer schwarzen Glocke. Derweil trieb die Welt davon. Denn die Welt ist etwas, was man wahrnehmen muss, das ist ihr Hauptmerkmal.“ (Seite 25)

Während seiner Rekonvaleszenz hörte er eines Tages ein Flugzeug über dem Haus dröhnen. Er stellte sich vor, welche Endziele es wohl haben könnte: Paris, Wien, Berlin, Zürich?

Und in diesem Moment begann sein anderes Leben. (Seite 28)

In der Erinnerung an diese Städte kamen ihm nicht die Parks oder Kunstmuseen in den Sinn, sondern die Salle Pleyel und andere Konzertsäle. An jenem Abend legte er Le Sacre du Printemps auf den Plattenteller und hörte sich die Aufnahme voll konzentriert an.

Kurz danach fing er an, im Auftrag einer Tageszeitung Musikkritiken zu schreiben. Seine Schwester Emily begleitete ihn zu den jeweiligen Konzerten. Die Rezensionen gab er den Redaktionen druckreif formuliert telefonisch durch.

Eigentlich konnte er sich nicht an das „Reisen im Dunklen“ gewöhnen, aber wenn ihn eine Veranstaltung interessiert, fährt er hin. So will er sich den Meisterkurs für Streichquartette in Bordeaux nicht entgehen lassen. Ein niederländisches Quartett, das Schulhoff Kwartet, wird ebenfalls teilnehmen.

Die beiden Fluggäste können nun endlich ihre Sitze an Bord einnehmen und die Unterhaltung fortsetzen. Der Blinde vertraut seinem jungen Gesprächspartner an, dass er seit der Enttäuschung mit Ines nicht mehr verliebt gewesen sei. Frauen hätte er allerdings schon gehabt.

Er sei ihnen wegen ihres Parfüms und ihrer Zartheit und noch einiger Dinge stets unendlich dankbar. „Frauen sind edelmütig“ […]. Sie neigen von Natur aus dazu, sich um das männliche Wesen zu kümmern und seine Schwächen auszugleichen. Dadurch, dass sie so tun, als mache es ihnen persönlich nichts aus, dass der Mann ihres Lebens stockblind ist, tun sie etwas für dein Selbstwertgefühl, und nicht einmal wenig.“ Dankbarkeit und Zuneigung also, aber kein Feuer. Und schon gar nicht das Feuer des exklusiven Besitzenwollens, schon gar nicht die heftige Regung der Eifersucht, die war ihm völlig unbekannt. (Seite 33)

Er habe ja keine Ahnung, sagt van Vlooten zu seinem Sitznachbarn, „Sie, sehender junger Mann“, wie merkwürdig es sei,

„wenn der erotische Hunger ohne Vorstellung auskommen muss. Sie denken vielleicht: Und was ist mit den anderen Sinnen? Nein, ein Mann, der bis zum Erwachsenenalter sehen konnte, ist absolut daran gewöhnt, dass seine Augen die anderen Sinnesorgane ins Schlepptau nehmen.“ (Seite 34)

An die Gesichter seiner Geliebten könne er sich nicht erinnern. Das sei nicht möglich,

„weil die Ines von früher dem einen Riegel vorschiebe“ (Seite 34)

„weil es ihr Gesicht sei, fixiert in einem Lachen, das er als Frauenbild aller Frauenbilder im Moment des Schusses im Kopf gehabt habe. (Seite 34)

Eine knappe Woche später begegnen sich die beiden Männer am Veranstaltungsort, dem Weingut Château Mähler-Bresse, wieder. In der Lounge entdeckt der Erzähler eine junge Frau, mit der er während seiner Studienzeit befreundet war, ohne dass es damals zu einer engeren Bindung kam. Inzwischen spielt sie als erste Geigerin im Schulhoff Kwartet und beeindruckt dank ihres außerordentlichen Talents das Publikum. Der „junge, sehende Mann“ beschreibt dem Musikkritiker detailliert das Aussehen von Suzanna Flier, und fragt sich, warum ihm seinerzeit die Schönheit seiner Freundin nicht aufgefallen war.

Später setzt sich die Künstlerin zu van Vlooten – ziemlich nah, denn sie begreift, dass es dem Blinden möglich sein muss, seinen Gesprächspartner zu berühren – und erzählt von ihrer Erfahrung bei den Workshops, die zwar häufig sehr anstrengend seien, aber auch unauslöschliche Eindrücke hinterließen. Zum Beispiel vermitteln ihr die Unterrichtsstunden bei dem ungarischen Maestro Eugene Lehner Glücksmomente: „Die kommen aus einer anderen Welt.“ (Seite 43)

Da der Erzähler an einer Studie über das bedeutende Wiener Kolisch Quartett arbeitet, darf er die Unterrichtsstunden Eugene Lehners besuchen, der dort früher Bratsche spielte. Er kommt gerade dazu, als der Musiklehrer Suzanna erklärt, wie er eine bestimmte Stelle der Partitur gerne gespielt haben möchte. Es handelt sich bei dem Musikstück um das erste Streichquartett, die „Kreutzersonate“ von Leos Janácek. Seine Schülerin begreift, wie sie es spielen soll und freut sich über das Lob des Lehrmeisters. Zum Schluss gibt er seinen Musikern noch den Rat: „Don’t play the notes, just humanize them.“ (Seite 47)

Einige Tage später steigt Suzanne auf die Fensterbank, um einen Schmetterling ins Freie zu werfen, der sich in ihr Schlafzimmer verirrte. Dabei verliert sie das Gleichgewicht und stürzt aus dem zweiten Stock. Zum Glück fällt sie in ein dichtes, abfederndes Buschwerk. Ein Kellner eilt mit einem Tischtuch herbei, um ihr aus ihrer Verlegenheit zu helfen. Sie ist nämlich nackt. Suzannas Jugendfreund, der sich zufällig in der Nähe aufhält, kommt angerannt, und sie gibt ihm zu verstehen, dass Marius in ihrem Zimmer ist. Der junge Mann findet van Vlooten auf dem Flur der zweiten Etage, wo der Blinde in derangierter Kleidung verstört herumirrt. Der tröstende Zuspruch seines Bekannten, Suzanna sei ja nichts passiert, ändert nichts an seiner Verwirrung.

Der Erzähler fragt sich, ob sich Suzanna bewusst ist, dass sie dem Blinden dermaßen den Kopf verdrehte, wie es keiner Frau in den letzten zwanzig Jahren gelungen war. Die wachsende Vertrautheit zwischen den beiden war ihm entgangen, aber nun glaubt er zu wissen, wie es zu der Intimität kam: Er erinnert sich, dass van Vlooten von dem virtuosen Spiel der Geigerin bei der Aufführung von Janáceks „Kreutzersonate“ tief beeindruckt gewesen war.

Die zwanzig Minuten, während derer Marius van Vlooten das Liebesmotiv von neuem, jedoch mit eigenen, sehr schwer zu steuernden Kräften in seinem Leben zuließ, waren die zwanzig Minuten, in denen das Schulhoff Kwartet eine Kreutzersonate spielte, dass die Fetzen nur so flogen. (Seite 59)

Zehn Jahre später:
Der junge Musikwissenschaftlicher war beruflich in Princeton und kehrt nach Europa zurück. Auf dem Flughafen Schiphol stellt er sich in dieselbe Schlange, in der zufällig auch van Vlooten wartet. Dieser ist äußerst schlecht gelaunt und wird nach der Durchsage über die Verzögerung des Fluges nach Salzburg noch ungenießbarer. Mürrisch setzt er sich mit seinem Bekannten in ein Café. Als dieser sich nach seinem Befinden erkundigt, sagt der Blinde, dass Suzanna ihn vor zwei Wochen verlassen habe. An diesem Morgen habe er den Brief ihres Anwalts erhalten. Sie wünsche die Scheidung wegen seelischer Grausamkeit, fordere einen nicht unerheblich hohen Unterhalt sowie das Sorgerecht für den sechsjährigen Sohn Benno.

Van Vlooten und Suzanna Flier waren in ein Haus in den Dünen bei Wassenaar gezogen. Er überließ es ihr, die Räume nach ihrem Geschmack einzurichten, allerdings legte er großen Wert auf penible Ordnung. Die Möbelstücke durften keinen Zentimeter verrückt werden. Er war zufrieden mit seinem Eheleben und genoss die sexuelle Befriedigung mit seiner Frau, deren schönen Körper er sich immer wieder einfühlsam ertastete.

Während eines Besuches von Suzannas Schwägerin Emily und deren Mann Jacques, einem Bauunternehmer, lobte die immer noch aktive Geigerin einen Kollegen über alle Maßen. Emile Bronckhorst, der Bratschist, sei der Motor des Schulhoff Kwartets schlechthin und auf allen Gebieten bewandert. Da Emily den Bratschisten mit dem kraushaarigen Cellospieler verwechselte, beschrieb Suzanna Bronckhorsts Aussehen.

Weil sie dabei überhastet spricht, versagt ihre Stimme. Erst nach einem Schluck Wasser fasst sie sich wieder. Van Vlooten erinnert sich an diese peinliche Episode als „einen erschreckend enthüllenden Moment“ (Seite 93).

Ich Idiot, dämmerte es ihm. […] Langsam […] wurde ihm bewusst, dass nichts an diesem Abend ihm noch etwas ausmachen konnte, jetzt, da die schroffe, tief in seiner Brust verschlossene Gewissheit nun doch endlich mit dem Volltreffer eines Namens aufgeschreckt worden war. (Seite 93)

War dieser Abend im Grunde der Auftakt zu seiner Tat gewesen? (Seite 93)

Van Vlooten war dann längere Zeit im Ausland. Wenn er Suzanne anrief, auch nachts, war sie stets zu Hause. Er hatte aber immer Mühe, den Gedanken zu verdrängen, dass sie mehrmals in der Woche im Quartett spielte.

Als er wieder zurück war, machte er sie auf ihre Zerstreutheit, Verspätungen und andere Ungereimtheiten in ihrem Verhalten aufmerksam. Die Vorwürfe versuchte sie mit Ausreden zu entkräften. Zu der Zeit sprachen sie auch wieder häufiger über seinen Kinderwunsch. Suzanna wollte damit lieber noch warten.

Im Jahr darauf war sie jedoch schwanger. Van Vlooten war überglücklich. Bei der Geburt war er dabei und ließ sich von der Hebamme detailliert das Aussehen des Neugeborenen beschreiben.

Er wollte noch weitere Kinder von Suzanna und bat sie, nicht mehr mit dem Ensemble aufzutreten. Außerdem verlangte er, das Verhältnis mit dem Bratschisten zu beenden. Seinen Verdacht sah er dadurch erhärtet, dass jedes Mal, wenn er weg gewesen war, die Möbel nicht mehr so standen, wie vorher. Ihre Streitereien, die teilweise sogar handgreiflich wurden, hielten tagelang an, weil Suzanna nicht zugeben wollte, wovon er seit langer Zeit absolut überzeugt war.

Es war Brauch, dass nach jeder Premiere des Quartetts van Vlooten den Musikern die Hand schüttelte. Da konnte er Emile Bronckhorst nicht übergehen. Auf der Rückfahrt im Auto schrie er Suzanne plötzlich an, dass er diesen Zustand nicht mehr ertrage; sie und ihr Liebhaber gingen entschieden zu weit.

„Meine Eifersucht“, sagte er langsam, und es war das erste Mal, dass ich [der Erzähler] ihn dieses Wort aussprechen hörte, „meine Eifersucht riss unsere Liebe, die an tausendundeinem Ding festgemacht war, los und verwandelte sie in eine Wolke von hin und her schießenden Stechfliegen.“ (Seite 102)

Das Ehepaar kam während einer Bahnfahrt auf den Seitensprung von Marius‘ Schwester zu sprechen. Er solle sich nicht darüber ärgern, in jeder Ehe passiere doch mal was, fand Suzanne. „Ja, natürlich“, sagte er. Auf Nachfrage seiner Frau rechtfertigte er „eine süße Banalität“ vor ein paar Jahren mit einer englischen Kollegin. Da die beiden zu dieser Zeit in Harmonie miteinander lebten, reagierte Suzanne lediglich „in einem Ton gutmütiger Schockiertheit“ (Seite 110). In der entspannten Atmosphäre beichtete auch sie eine Verfehlung von früher.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Dass ihr ein Irrer gegenübersaß, ein Mann dem es schwindelte von einer Unruhe der Art, die immer einen Ausweg findet, wusste sie nicht. (Seite 111)

Van Vlooten war davon überzeugt, dass seine Frau ihn seit Jahren „in aller Gemütsruhe und unter äußerst günstigen Umständen“ (Seite 112) betrog. Suzanne widmete den Großteil ihres Lebens dem Schulhoff Kwartet; das erleichterte die Fortsetzung der Affäre, zumal in der Wohnung des Bratschisten die Proben stattfanden.

Jacques, der Bauunternehmer, konnte seinen Schwager davon überzeugen, mit ihm eines seiner neuesten Projekte aufzusuchen. Blinde hätten ein feines Gespür, sich aufgrund der reflektierenden Akustik des Raumes eine Vorstellung von der Konstruktion zu machen, meinte Jacques, sie könnten also quasi „mit den Ohren sehen“. Statt des Lifts wollte van Vlooten lieber die Treppe nehmen. In sechs, sieben Minuten waren sie oben auf der Plattform. Jacques pries alle Vorzüge dieses geplanten Penthouses. Die noch fehlende Balustrade würde aus weißem Marmor bestehen, prahlte er. Marius vergaß nicht, sich mit Hilfe des Blindenstocks die Abmessungen und die Lage der Dachterrasse einzuprägen.

Obwohl die Stimmung zwischen den Eheleuten in der letzten Zeit so angespannt war, dass sie sich gegenseitig anschrieen, ließ Suzanne sich herbei, die Bauzeichnungen anzusehen. Sie könne sich die Wohnung mit ihm zusammen ansehen, schlug Marius vor. Er war vorher nochmals allein in der Wohnung gewesen, um sich zu vergewissern, dass er sich in den Räumen orientieren konnte.

Am nächsten Morgen fuhren sie zu dem Neubau. Er ging voraus die Treppen hoch, und sie keuchte hinterher. Als sie ins Freie traten, war er am Ende seiner Kräfte.

Voller Anspannung, schon so lange am Rande eines Nervenzusammenbruchs, verspürte er keinerlei Zweifel, denn ihr Betrug stand absolut fest, auch wenn er jetzt nicht mehr sehr schmerzte. (Seite 124)

Suzanna merkte, dass es ihm nicht gut ging. „Du zitterst ja am ganzen Leib“, sagte sie, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Sie schlenderte durch die Räume und stellte sie sich möbliert vor. Marius stand neben der vollständig aufgeschobenen Glastüre und lauschte, wann sie die Terrasse betreten würde. Sie befand sich nun genau an dem Platz, den er für sein Vorhaben bestimmt hatte und war keine Handbreit von ihm entfernt, als er sie hinter sich tief atmen hörte. Sie wird doch keinen ihrer kmischen Niesanfälle bekommen, schoss es ihm durch den Kopf – und in dem Augenblick wich sie zurück.

Die gesamte Konstellation, bis auf einen Millimeter genau stimmend, hatte sich bereits verschoben, unmöglich weit, und die Welt hatte sich seinem Griff entwunden. […].er war sich sicher, hundertprozentig sicher, dass sie sich jetzt genau ins Gesicht blickten, er mit einer Grimasse, die alles zugab und für immer sein wahres Gesicht sein würde, sie so gnadenlos scharf, dass sie ihn gleichsam denken hören konnte: Ich hätte dich lieber tot, tot! (Seite 127)

Sie lief alle sieben Treppen hinunter und war schon mit dem Auto weggefahren, als van Vlooten unten ankam. Er hatte Mühe, sich auf der Baustelle zurechtzufinden; ein zufällig vorbeifahrender Autofahrer las den herumstolpernden Blinden auf und brachte ihn nach Hause.

Vor der Garage standen zwei Autos mit laufenden Motoren. Sie fuhren so dicht an ihm vorbei, dass der Kies gegen seine Füße spritzte.

„Ich spürte meinen Verstand wie ein Fallbeil wiederkehren. Im vollen Bewusstsein, dass ich mein Leben zugrunde gerichtet hatte, wich ich an den niedrigen Holzzaun zurück.“ (Seite 129)

Damit beendet van Vlooten seine Lebensbeichte. Nach der Landung des Flugzeugs verabschieden sich der Blinde und sein Bekannter in der Ankunftshalle.

Suzannas Jugendfreund war seither davon ausgegangen, dass diese Frau nicht mehr mit dem schwierigen und überdies behinderten Mann leben wollte. Vielmehr vermutete er, dass die ehrgeizige Geigerin mit ihrem Ensemble von einer Veranstaltung zu anderen tourte und sich nebenher liebevoll um ihren Sohn kümmerte.

Sechzehn Jahre später:
Der Musikwissenschaftler reist zu einer Gastvorlesung von seinem Wohnort Boston nach Paris. Im Flugzeug blättert er in einer Zeitung und stößt zufällig auf eine Todesanzeige: Suzanna Flier. Sie kam bei einem Flugzeugabsturz vor einigen Tagen ums Leben. Offenbar war sie ohne Begleitung an Bord gewesen, jedenfalls nicht mit Angehörigen, denn die Trauernden sind Marius van Vlooten, Benno, Beatrijs und Lidwien. Von den drei Kollegen des Schulhoff Kwartets gibt es eine eigene Anzeige.

Sie haben sich also versöhnt, freut sich der Erzähler. Und Beatrijs und Lidwien werden wohl dreizehn-, vierzehnjährige Mädchen sein, mit denen Suzanna ihrem Mann eine große Freude gemacht hatte.

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Wie in Leo Tolstois Novelle „Die Kreutzersonate“ ist Eifersucht in Margriet de Moors gleichnamiger Erzählung das Hauptthema, und Musik spielt ebenfalls eine große Rolle. Die unglückliche Entwicklung der Liebesgeschichte ist in eine Rahmenhandlung gepackt; da verfährt die Autorin ganz ähnlich wie Tolstoi. Das ist insofern geschickt, weil auf diese Weise dem emotionalen Protagonisten ein neutraler, nachfragender Erzähler gegenübersteht. Man würde Margriet de Moor aber nicht gerecht, wenn man ihr einen eigenen Stil abspräche. Überaus facettenreich und nachvollziehbar schildert sie, wie das Leben des misstrauischen Ehemanns immer mehr von seiner Eifersucht bestimmt wird.

Sofja Tolstaja, die Ehefrau des russischen Schriftstellers, hat sich ebenfalls mit diesem Thema befasst. In ihrem Roman „Eine Frage der Schuld“ legte sie einen Gegenentwurf zu der Novelle ihres Mannes vor.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2010
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Leo Tolstoi: Die Kreutzersonate
Sofja Tolstaja: Eine Frage der Schuld

Margriet de Moor (kurze Biografie / Bibliografie)
Margriet de Moor: Auf den ersten Blick / Schlaflose Nacht
Margriet de Moor: Bevorzugte Landschaft
Margriet de Moor: Erst grau dann weiß dann blau
Margriet de Moor: Der Virtuose
Margriet de Moor: Die Verabredung
Margriet de Moor: Sturmflut
Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen

Sebastian Barry - Tausend Monde
Sebastian Barry präsentiert in "Tausend Monde" ein düsteres Bild der USA nach dem Bürgerkrieg: Weiße gegen indigene Völker, Rassisten gegen Afroamerikaner, Unionisten gegen Konföderierte. Er entwickelt nicht nur eine ungewöhnliche Geschichte mit Versatzstücken eines Westerns, sondern schreibt auch in einer eigenen Prosa abseits der Alltagssprache.
Tausend Monde

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.