Martin Walser : Der Lebenslauf der Liebe
Inhaltsangabe
Kritik
Martin Walser verbreitet sich in aller Ausführlichkeit auch über belanglose Einzelheiten. Wer jedoch genügend Geduld aufbringt, wird mit einem maliziösen Gesellschaftsporträt und dem sorgfältig ausgeleuchteten Psychogramm einer Neureichen belohnt: "Der Lebenslauf der Liebe".
Düsseldorf 1987. Der achtundfünfzigjährige Rechtsanwalt Edmund Gern und seine zwei Jahre jüngere Frau Susanne („Susi“) sind seit zweiunddreißig Jahren verheiratet und bewohnen mit ihrer Tochter Cornelia („Conny“) sowie den Katzen Domino und Jeannie ein Penthouse („Dachpalast“).
Conny ist achtundzwanzig. Seit sieben Jahren uriniert sie nicht mehr ins Bett. Weil der Gynäkologe bei ihrer Geburt gerade seine leukämiekranke Tochter verloren hatte und nach Hause wollte, um sich zu betrinken, war Susi eine zu hohe Dosis Wehen fördernder Mittel injiziert worden. Ein Jahr nach der Geburt stellte sich heraus, dass Conny geistig behindert war.
Connys Bruder Andreas gab auch immer wieder Anlass zu Sorgen: Er ließ sich von seiner Mutter zu Nachhilfestunden bringen, wartete im Treppenhaus des Lehrers, bis sie fort war und trieb sich dann in der Düsseldorfer Altstadt herum. Er knackte ein Auto, verkaufte Susis beste Pelzjacke und Edmunds teuerste Uhr, fuhr den Jaguar zu Schrott und fälschte die Unterschrift seines Vaters, um Geld von dessen Bankkonto abzuheben. Inzwischen ist er mit einer vier Jahre älteren Jugoslawin verheiratet – Ksenija –, mit der er eine Tochter hat, die den Namen Alexandra („Xandra“) trägt.
Als Susi und Edmund sich kennen lernten, war er noch ein mittelloser Referendar und sie arbeitete als Sprechstundenhilfe bei einem HNO-Arzt. Als erfolgreicher Anwalt konnte Edmund Gern sich bald handgefertigte Straußenlederschuhe aus Brüssel schicken lassen, Erstausgaben in seine Bibliothek stellen, Gemälde von Piet Mondrian und Andy Warhol aufhängen und einen Bentley fahren. Nach fünf Jahren Ehe versuchte Edmund seine Frau für Gruppensex zu gewinnen, und als sie das ablehnte, warf er ihr vor, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zu stammen. Er konnte nicht am Zaun des Freibads vorbeigehen, ohne mit einer Frau auf der Liegewiese zu flirten und mit ihr ein Hotelzimmer zu nehmen. Edmund hat mit zahlreichen anderen Frauen geschlafen und Susi immer davon erzählt. Sie packt ihm sogar den Koffer, wenn er mit einer seiner Mätressen verreist. Das ist eine Art Vertrag wie bei Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir: Freiheit gegen Ehrlichkeit. Seit längerer Zeit hat Edmund drei feste Geliebte: Dörte („Heimchen“) Pudlich und die Prellmann, beide ein paar Jahre jünger als Susi, dazu die achtundzwanzigjährige Edelnutte Ruth Proll. Als Herr Pudlich vor sieben Wochen starb, verlangte Susi von ihrem Mann, dafür zu sorgen, dass die Witwe sich wieder einen Lebensgefährten sucht.
Susi konnte verlangen, dass die Geliebten ihres Mannes feste Partnerschaften hatten […] Entweder du bringst das Heimchen sofort dazu, dass sie wieder mit einem zusammenlebt und den dann wieder mit dir betrügt, oder ich kündige den Vertrag. (Seite 17)
Die Freiheit, die Edmund einforderte, wurde auch von Susi beansprucht: Von 1962 bis 1965 hatte sie den libanesischen Studenten Salim als Geliebten. Darauf folgte Shankar, ein Inder aus Kenia. Die Affäre mit dem Tunesier Dababi Lotfi dauerte von 1968 bis 1972. In dieser Zeit steckte sie ihm 55 000 D-Mark zu, und als er wegen Drogenhandels ins Gefängnis musste, besuchte sie ihn dort drei Jahre lang. Nach dem Verhältnis mit Dirk Pfeil von 1974 bis 1977 gab Susi bis vor zwei Jahren immer wieder Kontaktanzeigen auf, um sich Liebhaber zu beschaffen. Aus Angst, zu dick zu werden und den Männern nicht mehr zu gefallen, litt sie zwanzig Jahre lang unter Bulimie. Zu den „Annoncenmännern“ gehörten auch Ferdi und Klaus. Als sie herausfand, dass Ferdi sich nur aufgrund einer Wette mit ihr eingelassen hatte, zerstach sie die Reifen seines Cabrios und verlangte, dass er zur Strafe 100 Mark für UNICEF spendete. Klaus ließ sie gleich nach der ersten Nacht sitzen. Um sich zu rächen, zeigte Susi ihn bei der Polizei an und behauptete, er habe sie bestohlen. Der Name, den er ihr genannt hatte – Klaus Schneider – war zwar falsch, aber Susi konnte das amtliche Kennzeichen des Porsche angeben, in dem er sie nach Hause gefahren hatte. Die Ermittlungen ergaben, dass der Wagen seiner Freundin gehörte; er hieß Klaus Gottschling, war zweiundvierzig und arbeitete als Dekorateur in einem Kaufhaus.
Als Susi einen Hörsturz erlitt, wollte Edmund ihr die gerichtliche Auseinandersetzung mit Klaus ersparen und überredete sie deshalb, die Anzeige zurückzuziehen.
Dann musste sie Conny noch mitteilen, dass sie nie einen Geliebten gewollt hätte, der dem Vater hätte das Wasser reichen können. Conny wollte wissen, was das bedeute, das Wasser reichen. Das seien Männer gewesen unter dem Niveau des Vaters. Sie habe auch Männer kennen gelernt, die Niveau hatten. Hat sie abgelehnt. Akzeptiert nur solche, denen gegenüber sie die Stärkere war. Sie hat eigentlich gar nicht nachgedacht darüber, ganz instinktiv blieb sie nur bei Männern, die keine Konkurrenz waren für den Vater. (Seite 337)
Susi hatte sich selbst noch nie für intelligent gehalten. Lebensklug, ja. Aber intelligent? Nein. Edmund war lebensdumm, aber furchtbar intelligent. (Seite 24)
Sie genoss es, Ordnung zu haben. Gerechtigkeit und Ordnung, für sie eigentlich ein und dasselbe. (Seite 26)
Mit auf Kredit gekauften Aktien verspekuliert Edmund Gern sich an der Börse. Obwohl er inzwischen an Parkinson erkrankt ist und wegen seiner Blasenschwäche Windeln tragen muss, besucht er weiterhin regelmäßig seine Geliebten. Am 1. September 1995 tritt er aus seiner Sozietät aus und beginnt, millionenschwere Investitionen überall in der Welt zu vermitteln. Weil er bei seinen Geschäften längst den Überblick verloren hat und die erträumten Gewinne ausbleiben, werden aus 7,5 Millionen D-Mark Vermögen 2,5 Millionen Schulden.
Das Penthouse kommt am 14. Dezember 1995 unter den Hammer. Bei der Zwangsversteigerung erhält ein gewisser Helmut Hellpapp den Zuschlag. Der wurde vor zwanzig Jahren von seiner Frau mit einem Piloten betrogen und möchte jetzt mit seiner japanischen Geliebten Yumiko hier einziehen. Mit Susi und Conny verspürt er Mitleid, zumal sein Sohn Arthur ebenfalls behindert ist.
Mit juristischen Finessen erreicht Edmund zwar einen Aufschub, aber dann setzt das Gericht die Zwangsversteigerung für den 4. März 1996 an.
Kurz vorher wird Edmund vom Notarzt ins Krankenhaus eingewiesen. Er stirbt am 29. Februar.
Susi und Conny müssen von dem 390 Quadratmeter großen Penthouse in eine 66 Quadratmeter große Mietwohnung umziehen. Auf einem Türschild im Erdgeschoss lesen sie: „K. &. K. Czlonieczek“. Dort empfangen die beiden aus Polen stammenden Zwillinge Kirke und Kalypso ihre Freier.
Ksenija lebt seit einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in der Nähe ihrer Schwester Ljubinka in Oberkassel. Andreas ist dabei, sich von ihr scheiden zu lassen. Xandra ist in einem Internat in Kaiserswerth. Andreas lebt jetzt mit einer anderen Frau zusammen, die Christelle heißt. Am 1. März 1996 eröffnet er ein Büro als selbstständiger Anlageberater. Ksenija schluckt ihre gehorteten Beruhigungstabletten, wird jedoch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht und überlebt den Selbstmordversuch. Einige Zeit später springt sie von der Oberkasseler Brücke in den Tod.
Andreas bleibt Christelle nicht lange treu. Er verlässt sie für Rocí, eine Farbige aus Südamerika, die bereits drei Kinder von drei verschiedenen Männern hat und nun noch einen von Andreas gezeugten Sohn zur Welt bringt: Alessandro. Weil das Geld hinten und vorne nicht reicht, richtet Andreas mit Rocí und zwei anderen Mädchen in Bordell ein: „Der kleine Club“. Schließlich ziehen Rocí und Andreas mit den vier Kindern nach Südamerika und heiraten dort.
Düsseldorf 1998. Susi und Conny leben von Witwenrente und Sozialhilfe. Zwar hat Susi heimlich ein zweites Konto bei der Bank, aber sie muss immer wieder Bettelbriefe schreiben, Arzthonorare herunterhandeln und etwas von ihren Sachen zur Pfandleihe bringen oder auf einem Trödelmarkt verkaufen.
Eine bei McDonald’s arbeitende Marokkanerin versucht, Conny mit dem marokkanischen Studenten Khalil Algat zu verkuppeln. Das gelingt zwar nicht, aber auf diese Weise lernen Khalil und Susi sich kennen. Das erste intime Zusammensein der Siebenundsechzigjährigen mit dem achtunddreißig Jahre jüngeren Mann gestaltet sich etwas unglücklich.
Aber peinlicher als die Enge auf dieser Bett-Couch war dann eine der Sprungfedern, auf die Susi zu liegen kam […] Dann lag er schließlich auf Susi, der sogenannte Geschlechtsverkehr fand statt, aber Susi spürte weniger Khalil als diese eine aufständische Sprungfeder der Bett-Couch. Alles, was von oben auf sie herunterkam, presste sie auf diese durch den Stoff so gut wie nicht mehr gedämpfte, offenbar messerscharfe Stahlfeder. Zum Glück war Khalil kein Hammer. Aber weh genug tat’s auch so. Innen genauso wie außen. Dass er sich überhaupt in sie hineinbrachte! Dagegen war ihre Entjungferung damals eine tolle Rutschpartie gewesen. Sie wollte nicht wissen, wo es mehr wehtat, da, wo die Sprungfeder in den Rücken stieß und schnitt, oder innen […] Wahrscheinlich ging das überhaupt nicht mehr. Mit ihr. Zu alt. Zwölf Jahre lang war da nichts und niemand mehr drin gewesen. Nein, elf. (Seite 402ff)
Khalil zieht in ein frei gewordenes Einzimmer-Apartment in der Etage, in der auch Susi und Conny wohnen. Dort lernt er für die Prüfungen. Zum Schlafen kommt er in Susis Bett. Die beiden heiraten am 16. April 1999 auf dem Standesamt, obwohl damit Susis Witwenrente wegfällt und Khalils Vater aus Protest keine Schecks mehr aus Casablanca schickt.
Ihn heiraten, das hieß nun wirklich, bei Rot über die Straße rennen. (Seite 412)
Als strenggläubiger Muslim blickt Khalil zwar keinen anderen Frau nach, aber er geht auch nicht auf Susis harmlose Sonderwünsche im Bett ein. Sein Studium bricht er schließlich ab. Zur Hochzeit seines jüngeren Bruders fliegt er für dreieinhalb Wochen nach Marokko. Sogar am Silvesterabend 1999 lässt er Susi allein. Erst gegen Mitternacht ruft er an und entschuldigt sich, weil seine gerade aus Marokko zurückgekommenen Landsleute Said und Fatima so viel zu erzählen hatten. Als die Glocken läuten, steht er in der Tür und nimmt Susi in die Arme. Conny meint: „Mer blewe zusamm wie Kätzke und Tätzke bes zom Lewejottsdach.“ (Seite 525)
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In „Der Lebenslauf der Liebe“ schildert Martin Walser, was eine aus kleinen Verhältnissen stammende, an der Seite ihres Mannes steinreich gewordene und nach dessen Tod verarmte Düsseldorferin in den Jahren 1987 bis 1999 durchmacht. Susi Gern ist ungebildet und unbelesen, kauft nur Edelmarken und beansprucht sexuell die gleichen Freiheiten wie ihr Mann, der seine Mätressen auch noch mit siebenundsechzig besucht. Der missratene Sohn scheitert als Anlageberater und eröffnet daraufhin mit seiner südamerikanischen Lebensgefährtin ein Bordell. Liebevoll kümmert Susi sich um ihre geistig behinderte Tochter Conny, und sie springt auch nicht wie ihre Schwiegertochter von der Oberkasseler Brücke, weil Conny sonst in ein Heim müsste. Mit achtundsechzig heiratet sie einen achtunddreißig Jahre jüngeren Marokkaner.
Obwohl der Roman „Der Lebenslauf der Liebe“ in der dritten Person Singular steht, wird ausschließlich aus der Perspektive Susis erzählt.
Bereits beim Durchblättern fällt auf, dass die meisten Absätze seitenlang sind. Beim Lesen hat man den Eindruck, da plaudere jemand, ohne zwischendurch Luft zu holen. Das ist zwar stilistisch durchaus interessant, aber auf die Dauer ermüdend, denn Martin Walser verbreitet sich in aller Ausführlichkeit auch über belanglose Einzelheiten. Wer jedoch genügend Geduld aufbringt, wird mit einem maliziösen Gesellschaftsporträt und dem sorgfältig ausgeleuchteten Psychogramm einer Neureichen belohnt.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
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