Helene Hegemann : Bungalow

Bungalow
Bungalow Originalausgabe: Hanser Berlin, Berlin 2018 ISBN 978-3-446-25317-9, 282 Seiten ISBN 978-3-446-26150-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Charlie erinnert sich, wie sie als Schülerin mit ihrer geschiedenen, alkoholkranken Mutter in einem Plattenbau wohnte, bis diese in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Dass es auch ein anderes Leben gab, beobachtete sie bei dem unangepassten Paar, das einen Bungalow gegenüber bezog, als Charlie zwölf Jahre alt war. Maria und Georg vermittelten ihr eine Idee von Freiheit und Ungebundenheit …
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Kritik

"Bungalow" kann man als Coming-of-Age-Roman, Memoir und Sozialdrama lesen. Obwohl die Handlung etwa 2007 bis 2017 spielt, weist der Roman dystopische Züge auf. Helene Hegemann lässt eine Ich-Erzählerin zu Wort kommen, die ihre Erinnerungen wie in einer grotesken Collage zusammenstellt.
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Bungalows und Plattenbauten

Charlotte („Charlie“) wurde „zur Jahrtausendwende“ geboren und von ihrer Mutter nach der Schauspielerin Charlotte Rampling benannt. Die Eltern, die sich in Moskau kennengelernt und dort wohl auch das Kind gezeugt hatten, trennten sich, als Charlie sieben Jahre alt war.

Ihren Vater sieht sie nur noch, wenn er ihr ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk bringt. Sie wohnt mit ihrer Mutter in einem Viertel von Berlin oder irgendeiner anderen Großstadt, das im Zweiten Weltkrieg zerbombt und Mitte der Fünfzigerjahre wieder aufgebaut wurde. In der Mitte befinden sich sechzehn von Millionären bewohnte Bungalows, auf deren Dächer Charlie blickt, wenn sie auf dem Balkon der Wohnung ihrer Mutter in einem Plattenbau auf der anderen Straßenseite steht.

Für eine Wohnung in unseren Zeilenbauten brauchte man kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein. Den bekam man erst, wenn man sein Leben so schwer vor die Wand gefahren hatte, dass man sich keine im regulären Markt zu mietende Wohnung mehr hätte leisten können.

Abhängigkeit

Im Alter von acht Jahren kauft Charlie hin und wieder Industriegebäck beim Discounter, wickelt die einzelnen Kekse neu ein und verteilt sie mit der Behauptung, ihre Mutter habe sie gebacken. Damit versucht sie die Meinung der Nachbarn zu widerlegen, ihre alkoholkranke Mutter sei nicht mehr in der Lage, ihr Leben zu organisieren. Wenn die Mutter betrunken ist, glaubt sie zuweilen, Stimmen zu hören, die ihr befehlen, der Tochter ein heißes Bügeleisen auf den Rücken zu pressen. Des Öfteren schaut Charlie nach, ob ihre ohnmächtig herumliegende Mutter noch atmet.

Sie hatte geschlossene Raviolidosen auf den Gasherd gestellt, unbeeindruckt der Explosion zugesehen und sich danach zurück ins Bett gelegt.

Trotz der Unberechenbarkeit ist Charlie auf ihre Mutter angewiesen.

Ich begriff, dass derselbe Mensch, der mir nachts wehtat, vor dem ich Angst hatte und um den ich Angst hatte, meine Mutter, gleichzeitig der einzige Mensch war, der mich am nächsten Morgen über meine Schmerzen hinwegtrösten konnte, einfach nur dadurch, dass sie wieder da war und normal und ich sonst niemanden hatte, echt niemanden.

Eine Woche vor dem Monatsende geht in der Regel das Geld aus, aber die Mutter fühlt sich den Nachbarn überlegen. Sie äußert sich verächtlich über die junge Familie in der Wohnung darüber, der im Winter das Gas abgedreht wurde und die deshalb den Wäschetrockner ins Kinderzimmer stellte. Und wenn das stille Ehepaar Jovanovic von nebenan Charlie einen Nikolaus-Stiefel mit Süßigkeiten vor die Tür stellt, malt die Mutter dem Kind aus, wie schmutzig Rumänen seien, um sie vom Essen abzuhalten.

Iskender

Charlie freundet sich mit ihrem Mitschüler Iskender an, dessen Vater eine „Zum Flachbau“ genannte Mischung aus Rauchercafé und Automatencasino betreibt.

Im Alter von zwölf Jahren schauen die beiden zusammen auf dem Laptop seines Vaters Pornos an, Charlie in Unterwäsche, Iskender in einem „Rentier-Schlafanzug mit krebserregenden Farbstoffbestandteilen“.

Trotz der Souveränität, mit der er sich durch die Cumshot-Kategorie von youporndeutsch geklickt hatte, zeigte er keine Reaktion, die über Staunen oder Ekel hinausging. […] ich hatte meine Tage, ich wusste, wie Kinder gemacht wurden, trotzdem war Sex bis jetzt bloß die Szene im Vorabendprogramm gewesen, in der ein Großstadtpolizist bei Kerzenschein am Zeh seiner Kollegin lutscht. Die Tatsache, dass Ficken im Ein- und Ausführen eines Begattungsorgans in Körperöffnungen bestand, hatte ich zwar intellektuell, aber noch nicht emotional verarbeiten können. Der Vorgang wurde langsam deutlich.

Neue Nachbarn

Charlie beobachtet vom Balkon, wie die 70 oder 80 Jahre Frau Hensel aus dem Bungalow gegenüber von Sanitätern abgeholt wird. Die alte Frau kommt nicht zurück, und nach einiger Zeit zieht ein jüngeres Paar in den Bungalow. Später wird Charlie die Frau im Fernsehen erkennen und herausfinden, dass es sich um eine russisch-stämmige Schauspielerin handelt. Sie und ihr Mann heißen Maria bzw. Georg.

Wenn Maria nicht gerade Penthesilea oder einen umfallenden Baum spielte, spielte sie, dass sie eine gute Schauspielerin, eine gute Ehefrau oder eine gute Trinkerin war.

Das unkonventionelle Paar fasziniert Charlie, und sie klettert über die Gartenmauer, um es durch das bodentiefe Wohnzimmerfenster zu beobachten.

Nachdem die Mutter mit einem Messer, mit dem sie sich zuvor dreimal den Arm geritzt hat, auf Charlie losgegangen ist, rennt die 13-Jährige barfuß durch den Schnee hinüber zu dem Bungalow und klingelt Hilfe suchend. Die Schauspielerin öffnet.

Sie blies Rauch aus, der nicht nach Nikotin roch. Ich wusste da noch nicht, wie Hasch riecht.

Maria nimmt an, das Kind habe sich in der Adresse geirrt. Charlie dreht sich um und geht weg. Sie fühlt sich verstoßen und einsam. Um sich zu rächen, holt Charlie das Vorhängeschloss vom Kellerverschlag und kettet damit das Fahrrad der Schauspielerin fest.

Katastrophen

Auf dem Weg zur Schule kommt Charlie an zahlreichen Tierkadavern vorbei.

Sie ist 13, als Iskender ihr vom Selbstmord seines 29-jährigen Nachhilfelehrers erzählt. Fast zur gleichen Zeit erdrückt der Stiefvater ihrer Mitschülerin Melissa sein neugeborenes Kind versehentlich im Schlaf und wirft sich am nächsten Tag vor einen Regionalexpress. Eine Woche später stirbt das 13-jährige Kind einer Nachbarin an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Terroristen nehmen die Leute in einem Supermarkt als Geiseln und enthaupten zwei von ihnen. Im Theater werden 120 Menschen erschossen.

Der Vater der beiden Kinder in der Wohnung über Charlie und ihrer Mutter – wo schon einmal das Gas abgedreht wurde – stürzt sich an Silvester vom Dach.

In den Wochen nach Silvester prasselten Videos auf uns ein, die weit darüber hinausgingen, Hunderte, in denen echte Menschen in der einen Sekunde von links nach rechts laufen und in der nächsten nur noch ein bewegungsloser abgeknallter Haufen Dreck sind, Videos von Leuten, die vor der Kamera einen widernatürlichen Tod sterben, nicht sechzig Jahre früher auf einem anderen Kontinent, sondern vor unseren Haustüren, jetzt, während wir zu Mittag aßen oder unsere Unterhosen wechselten, jeden Tag hatte man die Möglichkeit, sich neue Live-Aufnahmen von Hinrichtungen oder Selbstmorden anzusehen, sodass wir sie nach dem fünften oder sechsten hinzunehmen begannen wie McDonald’s-Werbung und Wespenstiche.

Eine Straßenecke weiter übergießt sich jemand mit Benzin und verbrennt sich.

In den ersten beiden Januarwochen brachten sich in der Stadt, in der wir lebten, 985 von zwei Millionen Menschen um. Vier davon in unserem Viertel, drei weitere waren Elternteile von Kindern aus meiner Schule, von denen ich nur eins so richtig kannte.

Eine Nachbarin, die herausgefunden hat, dass ihr Mann sie betrügt, wartet am Küchenfenster im achten Stock darauf, dass er nach Hause kommt und stürzt sich dann hinab. Sie will vor seinen Augen sterben. Aber sie fällt auf ihn und überlebt – im Gegensatz zu ihm. Zwei Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zündet sich die Frau am Kanalufer an. Aber dann springt sie ins Wasser, um die Flammen zu löschen. Dabei ertrinkt sie.

Georgs Geliebte, die 27-jährige Genderphilosophin Judith Butler, verlässt ihn wegen eines jüngeren Mannes. Weil Maria in Brasilien dreht und er die Schlüssel verloren hat, schlägt er das Fenster der Gäste-Toilette ein, um ins Haus zu kommen.

Im Juli, einige Wochen nach Charlies 14. Geburtstag, tobt ein Sturm, bei dem 20 Menschen ums Leben kommen.

Nach den Sommerferien wechselt Charlie auf eine höhere Schule in einem Viertel, das als das multikulturellste der Stadt gilt. Die Monatskarte für den Bus bezahlt ihr Vater. Auf dem Weg von der Haltestelle zur Schule kommt sie an zwei Cafés und einer Bäckerei mit Tischen im Freien vorbei. Wenn sie einen noch nicht abgeräumten Teller  entdeckt, nimmt sie Essensreste mit und tut in der Pause dann so, als habe ihr die Mutter eine Lunchbox mitgegeben. Aber die Mitschüler ordnen sie rasch als „asozial“ ein.

Wieder einmal kauert Charlie im Garten der Bungalow-Bewohner gegenüber und beobachtet sie heimlich durchs Wohnzimmerfenster. Als Maria und Georg anfangen, es nackt auf dem Sofa miteinander zu machen, tritt Charlie ans Fenster und hämmert mit der Faust gegen die Scheibe, bis sie einen Riss bekommt. Maria schreit auf.

Trotzdem kommt Georg ein paar Tage später herüber und bittet Charlie um einen Gefallen. Sein Vater Wolfgang brauche Hilfe, aber er könne nicht weg, weil Maria krank sei und das neue Fenster eingebaut werden soll. Er gibt Charlie Geld, und sie fährt zu der angegebenen Adresse. Wolfgang fürchtet sich vor einer Fledermaus, die sich in seine Wohnung verirrt hat. Es dauert eine halbe Stunde, bis Charlie sie eingefangen und ins Freie gebracht hat. Aus Dankbarkeit will Wolfgang sie nach Hause fahren, aber unterwegs fällt ihm ein, dass er nicht genügend Zeit hat. Weitab von jeder Haltestelle lässt er sie aussteigen und gibt ihr eine CD für Maria mit (in der, wie Charlie bei der Übergabe erfährt, drei oder vier Gramm mit Paracetamol gestrecktes Heroin versteckt sind). Als sie zurückkommt, kehren die Handwerker gerade die Scherben des offenbar beim Transport zerbrochenen Ersatzfensters zusammen.

Ihr 64 Jahre alter Chemielehrer wird verhaftet, weil er einen Molotow-Cocktail zu den Nazis auf dem Schulhof warf.

Es regnet, 13 Tage lang ununterbrochen.

Zwei Bungalows weiter wohnt Frau Klöverkorn, die mit einem spielsüchtigen Kunstauktionator aus Bad Driburg verheiratet war und nach der Scheidung verrückt geworden ist. Als ein Tanker mit einer Heizöl-Lieferung vor dem Haus steht, entzündet sie das aus dem Küchenherd ausgeströmte Gas. Von dem LKW und dem Bungalow bleibt nichts übrig. Auf dem Mittelstreifen liegt der abgetrennte Oberkörper einer Frau.

Auf der Fahrbahn trat ich auf das Bein von einem Hund und erschreckte mich. Er lag mit offenen Augen auf der Seite, er bewegte sich auf und ab, als würde er atmen, aber sein Körper war offen, das sah aus, als hätte man bei einem Stofftier die Naht am Bauch aufgetrennt und die Füllung rausgeholt, seine Gedärme oder Organe oder wie man das nennt waren einfach nicht da, lagen nicht mal mehr neben ihm.
Wo waren diese Scheißorgane […]?

Nachdem Charlies Mutter nachts im Park ein Grab schaufelte und zwei Polizisten anschrie, sie sei längst tot, wird sie zwangseingewiesen.

Am selben Tag bricht Krieg aus.

Ein paar Jahre später

Iskender muss wegen mangelnder Konfliktkompetenz ein Anti-Aggressions-Training absolvieren. Aber es bringt offenbar nicht viel, denn mit 17 zündet er die Schule an, und mit 18 hetzt er seinen Pitbull auf seine Freundin Melissa, die ihn wegen eines 15 Jahre älteren Sozialarbeiters verlassen will.

Die verwaiste Charlie wohnt bei Maria und Georg im Bungalow. Wegen einer Ozon-Warnung dürfen sie tagsüber nicht ins Freie.

Mein Oberkörper liegt auf der Waschmaschine, Georg steht hinter mir, ich trage die horizontal gestreifte Strickjacke, in der Maria normalerweise den Müll wegbringt, und muss an das Blut und die Hautfetzen denken, die nach dem Scheren der Merinoschafe in ihrer Wolle hängen bleiben, daran, wie man Schafe ins Gesicht schlägt, um ihren Widerstand zu brechen. Maria hängt zu dem Zeitpunkt kiffend auf dem Sofa, die Tür steht offen. Ihr ist langweilig. Mir auch. Ihm auch, obwohl er kurz davor ist, zu kommen.

Charlies Mutter überlebt als einzige Patientin ein Feuer in der psychiatrischen Anstalt, weil sie ihre Tabletten nicht genommen hat. Es ist das Letzte, was Charlie – mittlerweile 17 Jahre alt – von ihr hört.

Gegenwart

Irgendwann später schreibt Charlie ihre Geschichte auf, nicht für andere, sondern für sich selbst.

Die Stadt, aus der wir kommen, ist austauschbar. Genauso wie das Land, in das wir später geflohen sind. Es ist auch egal, wie alt ich jetzt bin und ob ich ein Körperteil verloren habe oder nicht. Ich habe inzwischen Kinder. Eins von ihnen wird übermorgen sechs.

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Der Roman „Bungalow“ von Helene Hegemann dreht sich um die Ich-Erzählerin Charlie, die sich daran erinnert, wie sie als Schülerin mit ihrer geschiedenen, alkoholkranken Mutter in einem Plattenbau wohnte, bis diese in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Dass es auch ein anderes Leben gab, beobachtete sie bei dem unangepassten Paar, das einen Bungalow gegenüber bezog, als Charlie zwölf Jahre alt war. Maria und Georg vermittelten ihr eine Idee von Freiheit. „Bungalow“ handelt von Einsamkeit, Abhängigkeit und Selbstbefreiung. Die Perspektive ist zwar die des Opfers, aber Charlie kennt keine Larmoyanz.

Man kann „Bungalow“ als Coming-of-Age-Roman, Memoir und Sozialdrama lesen. Charlie schreibt, sie sei um die Jahrtausendwende geboren. Die eigentliche Handlung reicht von ihrem 7. bis 17. Lebensjahr, also ungefähr bis ins Jahr der Romanveröffentlichung. Aber „Bungalow“ weist dystopische Züge auf, zum Beispiel wenn Krieg ausbricht, Naturkatastrophen geschehen und die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht.

Helene Hegemann beginnt ihren Roman mit einer grotesken Sex-Szene. Erst im 5. Kapitel meint die Ich-Erzählerin: „Jetzt also langsam zu mir.“ Das Buch liest sich wie eine Collage aus bizarren, niederschmetternden Episoden.

Aufgrund der Plagiatsvorwürfe in Bezug auf ihren Debütroman „Axolotl Roadkill“ nennt Helene Hegemann im Anhang von „Bungalow“ vier Quellen.

„Bungalow“ kam auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Hanser Berlin

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill

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