Jonathan Franzen : Crossroads

Crossroads
Crossroads A Key to All Mythologies, Book 1 Verlag Ferrar, Straus and Giroux, New York 2021 Crossroads Übersetzung: Bettina Abarbanell Rowohlt Verlag, Hamburg 2021 ISBN 978-3-498-02008-8, 826 Seiten ISBN 978-3-644-00208-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der protestantische Geistliche Russ Hildebrandt lebt mit seiner Familie in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre in New Prospect bei Chicago. Marion hat ihm traumatische Erlebnisse vor der Ehe verheimlicht. Er begehrt eine deutlich jüngere Witwe. Clem, der älteste Sohn, bricht sein Studium ab und will nach Vietnam, um solidarisch zu sein. Becky spannt einer Konkurrentin den festen Freund aus. Perry wird zum Dealer und Betrüger, um seinen eigenen Drogenkonsum zu finanzieren.
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Kritik

Der erste Teil des Romans "Crossroads" von Jonathan Franzen spielt im Advent 1971, der zweite reicht bis Ostern 1974. Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Perspektiven von Russ und Marion, Clem, Becky und Perry. Judson, das jüngste der Hildebrandt-Kinder, bleibt im Hintergrund. Jonathan Franzen entwickelt die melodramatische Handlung des ersten Romans der geplanten Trilogie "Ein Schlüssel zu allen Mythologien" weitschweifig und ausufernd auf mehr als 800 Seiten.
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Russ

Der 47-jährige Geistliche Russell („Russ“) Hildebrandt lebt 1971 in New Prospect, einer Stadt in der Nähe von Chicago.

Sein Vater war Pfarrer einer protestantischen Gemeinde in Lesser Hebron. 1945 war Russ in einem Zivildienstlager bei Flagstaff / Arizona und überredete den Leiter George Ginchy, ihn 40 Tage lang in Diné Bikéyah im Navajo Nation Reservation arbeiten zu lassen. Dort freundete er sich mit dem Navajo Keith Durochie an.

Im selben Jahr begegnete er Marion. Als die beiden in Flagstaff heirateten, fehlte Russ‘ Familie, denn mit einer Katholikin wollten die Eltern nichts zu tun haben.

Marion

Marions Vater Ruben war der Sohn eines deutsch-jüdischen Einwanderers, der in San Francisco Schuhe reparierte. Die Mutter Isabel stammte aus einer reichen kalifornischen Familie. Ruben, der in Berkeley studiert hatte, baute eine Villa im Stadtviertel Pacific Heights, in der Marion und ihre jüngere Schwester Shirley aufwuchsen.

Der Börsencrash 1929 ruinierte die Familie. Der Vater ertränkte sich und hinterließ nichts als Schulden. Marion wurde deshalb von ihrem Onkel Roy Collins, einem jüngeren Bruder der Mutter, im Sonoma County aufgenommen, bis sie die Highschool abgeschlossen hatte. Shirley zog 1935 an die Ostküste, um am Vassar College in Poughkeepsie / New York zu studieren.

Als Marion 1940 im Büro von Lerner Motors in Los Angeles arbeitete, verliebte sie sich in den 15 Jahre älteren erfolgreichen Autoverkäufer Bradley Grant, ließ sich von ihm deflorieren und fing eine Affäre mit ihm an, obwohl er verheiratet war und Kinder hatte.

Um seine Familie nicht aufs Spiel zu setzen, beendete Bradley schließlich die Affäre mit Marion. Weil sie schwanger war, suchte sie nach ihrer Freundin Isabelle Washburn, um sich mit ihr zu beraten. Isabelle wohnte jedoch nicht mehr unter der letzten Adresse, die Marion kannte. Dort traf Marion auf den Vermieter, der rasch durchschaute, welches Problem sie hatte und ihr seine Hilfe aufdrängte. Weil sie kein Geld hatte, musste sie ihm elf Tage lang sexuell gefügig sein, bis er sie zu einem Arzt brachte und auch die Kosten für die Abtreibung übernahm.

Am Weihnachtsmorgen 1941 wurde Marion in Los Angeles von der Polizei aufgegriffen. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und musste 14 Wochen lang im Rancho Los Amigos National Rehabilitation Center in Downey / Kalifornien behandelt werden.

All das hat sie Russ nie anvertraut. Um ihm zu erklären, warum sie keine Jungfrau mehr war, sagte sie ihm, sie sei sechs Monate lang verheiratet gewesen − und er war entsetzt, als er begriff, dass sie nicht mehr unberührt war.

Familie Hildebrandt

1949 übernahm Russ eine ländliche Gemeinde im Süden von Indiana. Am 12. Dezember 1951 wurde das erste der Kinder geboren: Clement („Clem“). Es folgten Rebecca („Becky“), Perry und Judson. Als Becky acht Jahre alt war, zog die Familie nach New Prospect / Illinois, wo Russ von Dwight Haefle, dem leitenden Pfarrer der First Reformed Gemeinde eingestellt wurde.

Im Frühjahr 1969 wollten die von Sally Perkins und Laura Dobrinsky aufgestachelten Mitglieder des „Crossroads“ genannten Jugendprogramms der First Reformed Gemeinde nicht länger mit dem spießigen Geistlichen Russ zusammenarbeiten, und er wurde nach dieser Demütigung von Rick Ambrose als Leiter von „Crossroads“ abgelöst. Rick verschob den Akzent vom Beten und Predigen zur Selbsterfahrung durch Gruppenübungen.

Acht Monate nach dem Tod ihrer Tante Shirley am 16. Januar 1970 in New York feierte Becky ihren 18. Geburtstag und erfuhr, dass sie eine größere Geldsumme geerbt hatte. Die 13 000 $ waren für eine Europa-Reise gedacht, die Shirley eigentlich mit ihrer Nichte gemeinsam hatte unternehmen wollen. Russ und Marion drängten Becky jedoch, das Erbe unter den Geschwistern aufzuteilen.

Was niemand außer Marion weiß: Sie veruntreute Schmuck und Wertsachen aus dem Nachlass ihrer Schwester. Der Erlös ermöglicht es ihr, seither Therapiestunden bei der Psychiaterin Dr. Sofia („Sophie“) Serafimides zu bezahlen.

Weihnachten 1971

Clem studiert an der University of Illinois in der Doppelstadt Urbana und Champaign 250 Kilometer südlich von Chicago bzw. New Prospect.

Seit kurzem hat er eine Liebesbeziehung mit seiner Kommilitonin Sharon, die auf einer Farm bei Eltonville / Illinois aufwuchs und als erstes Familienmitglied studiert. Als sie 12 Jahre alt war, starb ihre Mutter. Und sie sorgt sich um ihren Bruder Mike, der mit der Army im Vietnam-Krieg kämpft.

Clem, ein überzeugter Pazifist wie sein Vater, lehnt den Vietnam-Krieg ab:

„Es ist ein unmoralischer Krieg. Jeder Krieg ist unmoralisch, aber der besonders. Wer immer da mitkämpft, hat teil an dieser Unmoral.“

Aber er hält es für unsolidarisch, dass sein Militärdienst wegen des Studiums erst einmal aufgeschoben ist, während Sharons Bruder und all die anderen riskieren, in Vietnam verwundet oder getötet zu werden. Bevor er über Weihnachten zu seiner Familie fährt, lässt er sich exmatrikulieren und schreibt dem Musterungsausschuss in Berwyn / Illinois am 23. Dezember 1971, es gebe keinen Grund mehr für die Zurückstellung und er erwarte deshalb seine Einberufung.

Sharon ist entsetzt, als er ihr das zum Abschied mitteilt. Auch die Eltern können es kaum fassen, dass ihr Sohn nach Vietnam will. Marion drängt ihn, noch am selben Abend zu Sharon nach Champaign zurückzukehren, aber stattdessen nimmt er einen Überlandbus nach New Orleans.

Des Öfteren bringt Russ nützliche Sachen zu der von Theo Crenshaw geleiteten afroamerikanischen Gemeinde Community of God. In der Regel begleitet ihn dabei Kitty Reynolds. Aber am 23. Dezember fährt Frances Cottrell mit ihm. Russ, den seine zu dick gewordene Ehefrau anwidert, begehrt die 36-jährige Witwe und ist eifersüchtig auf den Chirurgen Philip, mit dem sie offenbar ein lockeres Liebesverhältnis hat.

Marion ahnt, dass Russ dieses Mal mit Frances Cottrell statt mit Kitty Reynolds unterwegs ist. Sie schläft seit längerem getrennt von ihm und spielt selbst mit dem Gedanken, ihn zu verlassen.

Becky probiert erstmals einen Joint aus, und es gelingt ihr, Tanner Evans für sich zu gewinnen. Er trennt sich dshalb von seiner festen Freundin Laura Dobrinsky − ausgerechnet an dem Tag, an dem der Musikagent Guglielmo („Gig“) Benedetti nach New Prospect kommt, um die von Tanner Evans, Kim Perkins, David Goya, Quincy Travers und der Sängerin Laura Dobrinsky gebildete Band „Blue Notes“ zu hören. Im letzten Augenblick gelingt es Becky, Laura zu überreden, noch einmal mit der Band aufzutreten, die daraufhin von Gig Benedetti unter Vertrag genommen wird.

Ostern 1972

Frances beabsichtigt, als Betreuerin mit „Crossroads“ ins Osterferienlager in Arizona zu fahren. Wie in jedem Jahr will die Jugendgruppe Arbeiten im Navajo Nation Reservat durchführen. In der Hoffnung, dort mit Frances zusammen sein zu können, versöhnt Russ sich mit Rick.

Mit drei Bussen werden die Jugendlichen und ihre Betreuer von Chicago nach Many Farms gebracht. Im Büro des Stammesrats der Navajo erfährt Russ von einer Frau namens Wanda, dass sein Freund Keith Durochie krank ist.

Während zwei Drittel von „Crossroads“ in Many Farms bleiben, fährt ein Bus weiter nach Kitsillie auf der Hochebene, wo sie von Daisy Benally, einer angeheirateten Tante von Keith Durochie und deren Schwester Ruth erwartet werden. Aber vier junge Navajo verstellen den Weg mit ihrem Pick-up. Russ erklärt ihnen, dass die Gruppe beim Bau des Schulgebäudes in Kitsillie helfen wolle, wie mit dem Stammesrat abgesprochen, aber der Anführer Clyde fordert die Weißen auf, das Reservat zu verlassen. Erst nach einiger Zeit geben die Navajo den Weg frei.

Obwohl der Betreuer Ted Jernigan Bedenken wegen der Sicherheit äußert, richten sich die Besucher in ihrem Quartier auf der Hochebene ein. Als sie von der Arbeit zurückkommen, finden sie die Tür aufgebrochen vor. Ihre Sachen wurden durchwühlt, und zwei Gitarren gestohlen. Wer anders als Clyde soll das gewesen sein?

Gegen Daisy Benallys Rat will Russ den Navajo zur Rede stellen, und Frances begleitet ihn trotz der Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Unterwegs sehen sie, dass im Reservat ein riesiger Abbau von Kohle begonnen hat.

Clyde finden sie in seinem Wohnwagen. Wegen der Zerstörung des Landes ist er nicht gut auf den Stammesrat zu sprechen, der die Verträge abgeschlossen hat, die es dem Peabody-Konzern ermöglichen, mit Kohle aus dem Navajo Nation Reservat Strom für die Städte der Weißen zu produzieren. Besonders von Keith Durochie fühlt sich Clydes Familie über den Tisch gezogen.

Russ‘ beherztes Auftreten verschafft ihm Clydes Respekt und Frances‘ Bewunderung. Russ und Frances fahren zurück. Unterwegs halten die beiden an − und in einem verlassenen Gebäude kopulieren sie im Stehen.

Während „Crossroads“ nach Arizona fuhr, flog Marion mit dem neunjährigen Sohn Judson von Chicago nach Los Angeles. Den Aufenthalt dort nutzt sie, um Bradley Grant nach 30 Jahren erstmals wiederzusehen. Sie besucht den Witwer auf der Halbinsel Palos Verdes. Er begehrt sie noch immer, aber sie verabschiedet sich unter einem Vorwand vorzeitig von ihm und kehrt zu ihrem Sohn zurück.

Russ ruft sie aus einem Krankenhaus in Farmington / New Mexico an: Perry, der mit im Osterferienlager von „Crossroads“ war, wird dort behandelt. Während Russ und Frances fort waren, geriet der 16-Jährige in Schwierigkeiten und brannte eine Scheune im Reservat ab. Er soll nun in eine Anstalt für psychisch kranke Minderjährige in Albuquerque überführt werden.

Marion nimmt das nächste Flugzeug und wird nach der Landung in Albuquerque von Russ abgeholt.

Perry nahm schon längere Zeit Drogen. Mit Marihuana fing es an, aber dann bekam er von Randy Toft Dexedrine, und schließlich schnupfte er Kokain. Um seinen eigenen Konsum zu finanzieren, verkaufte er auch Drogen, unter anderem an Frances‘ 15-jährigen Sohn Larry. Er verbrauchte seinen Teil des Geldes, das Becky von Tante Shirley geerbt und unter den Geschwistern aufgeteilt hatte. Außerdem hob er mit einem gefälschten Ausweis heimlich 2825 $ vom Sparbuch seines Bruders Clem ab. In Kitsillie lernte er zwei Navajos kennen, die er nach Peyote fragte. Sie taten so, als würden sie einen Deal vermitteln, brachten ihn jedoch um sein Geld und setzten ihn irgendwo im Reservat aus. Er suchte Zuflucht in einer Scheune, und weil ihn so fror, entfachte er ein Feuer. Dabei wurden das Gebäude und die darin stehenden Traktoren zerstört.

Der von Russ beauftragte Rechtsanwalt Clark Lawless ist zuversichtlich, dass Perry nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, sondern mit einem Aufenthalt zunächst in einer psychiatrischen Einrichtung, dann in einer Erziehungsanstalt davonkommt. Die Eltern müssen allerdings mit horrenden Kosten für Schadenersatz und Therapien rechnen.

Als Marion hört, dass Frances Cottrell mit ins Ferienlager von „Crossroads“ gefahren ist, begreift sie, warum Russ sich mit Rick versöhnte. Er gesteht ihr denn auch den Ehebruch genau zu der Zeit, als Perry übertölpelt und ausgesetzt wurde. Marion verzeiht ihrem Mann – und Becky wundert sich bald darauf, dass die Eltern wie Frischverliebte aus Albuquerque zurückkommen.

Ausklang

Der Gedanke an die Europa-Reise, die sie eigentlich schon mit ihrer Tante Shirley geplant hatte, lässt Becky nicht mehr los. Sie fliegt mit Tanner nach Amsterdam, und die beiden reisen nach Utrecht, Aarhus, Heidelberg und Rom. Dort lernen sie ein deutsches Paar Mitte 20 kennen, das sie mit in ein Landhaus in der Toskana nimmt.

Obwohl sich Becky auf Wunsch ihrer Mutter vor der Europa-Reise ein Diaphragma anpassen ließ, wird sie schwanger. Das 1973 geborene Kind erhält den Namen Gracie.

Clem erhielt in New Orleans die Absage des Musterungsausschusses. Dass er die Liebesbeziehung mit Sharon zerstörte und den Eltern Sorgen machte, war also völlig umsonst. Frustriert reiste er nach Mexiko und von dort weiter nach Peru, wo er sich bei der Arbeit auf einer Baustelle mit Felipe Cuéllar anfreundete.

Aus einem Brief seiner Mutter vom 26. Januar 1974 erfährt er, dass der Vater in Kürze eine neue Stelle in der United Church of Christ in Hadleysburg / Indiana antreten will. Es wird das letzte Osterfest der Familie in New Prospect sein. Um dabei zu sein, fliegt Clem nach Hause.

Becky erwartet an Ostern den Besuch der Schwiegereltern und lädt auch ihren überraschend in New Prospekt aufgetauchten älteren Bruder ein. Clem wundert sich darüber, dass Becky nicht auch die eigenen Eltern erwartet, aber sie erklärt ihm, dass die beiden Perry mitbringen würden, der dann unbedingt im Mittelpunkt stehen müsse, und das wolle sie Tanner und seinen Eltern nicht zumuten.

Clem muss sich entscheiden, ob er Ostern mit seiner Schwester oder mit den Eltern verbringt.

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In seinem Roman „Crossroads“ beobachtet Jonathan Franzen die Familie eines protestantischen Geistlichen in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre in New Prospect, einem fiktiven Vorort von Chicago. In dieser Welt, in der es weder Internet noch Mobilfunk gibt, in der die Gewissheit des Glaubens verloren geht und der Drogenkonsum sich ausbreitet, ringen die Eltern Russ und Marion Hildebrandt, ihre Kinder und einige der Kontaktpersonen mit moralischen Konflikten:

Marion hat ihrem Mann traumatische Erlebnisse vor der Ehe verheimlicht. Russ begehrt statt seiner unattraktiv gewordenen Frau eine deutlich jüngere Witwe und riskiert alles, um mit ihr intim zu werden. Clem, der älteste Sohn, bricht sein Studium ab, um nicht länger vom Militärdienst bzw. Kriegseinsatz in Vietnam zurückgestellt zu werden, weil er das für unsolidarisch hält. Becky zerstört die Liebesbeziehung einer Konkurrentin und gewinnt deren festen Freund für sich. Perry nimmt Drogen und wird zum Dealer und Betrüger, um seinen eigenen Konsum zu finanzieren.

500 Seiten umfasst der Teil „Advent“. Die Handlung spielt am 23. Dezember 1971, aber wir erfahren auch, was vorher geschah. Der zweite Teil setzt zwar nahtlos an Weihnachten 1971 ein, ist jedoch mit „Ostern“ überschrieben, und auf den meisten dieser 300 Seiten beschäftigt sich Jonathan Franzen mit den dramatischen Ereignissen an Ostern 1972. Die letzten Seiten liefern wie in einem Epilog einen Ausblick auf Ostern 1974.

Von Kapitel zu Kapitel wechselt Jonathan Franzen in „Crossroads“ zwischen den Perspektiven von Russ und Marion, Clem, Becky und Perry. Judson, das jüngste der Hildebrandt-Kinder, bleibt im Hintergrund, und wir erfahren in „Crossroads“ kaum etwas über ihn (ahnen allerdings, dass das dem zweiten Teil der Trilogie vorbehalten sein könnte).

Die Charaktere in „Crossroads“ sind nicht wirklich überzeugend. Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass Jonathan Franzen sie nur benötigt, um die moralischen Konflikte zu veranschaulichen, die ihn beschäftigen.

Er entwickelt die melodramatische Handlung weitschweifig und ausufernd. Statt das eine oder andere nur anzudeuten, führt er alles aus, und eine literarische Ellipse gibt es erst ganz am Ende.

Wie „daneben“ manches in „Crossroads“ ist, veranschaulicht folgende Leseprobe:

[Clem] drückte eine flache Hand zwischen ihre Beine, prüfte die Elastizität der Locken unter dem Flanell. Während er ihr die Schlafanzughose herunterzog, rückte er näher, um besser sehen zu können. Oh, die Schönheit dessen, was er da enthüllte! Dieser unerschöpfliche Reiz! Sicher, wenn er mit seinen Vorlieben genauso offenherzig umgegangen wäre wie sie mit ihren, hätte er sie vielleicht gebeten, ihr Schlafanzugoberteil anzulassen. Er war mit ihren Brüsten an sich durchaus im Reinen, nur hatte er zu einem so frühen Zeitpunkt Zugang zu ihnen gewonnen, dass ihm keine Zeit geblieben war, sie als einen Schatz, von dessen Enthüllung man träumen konnte, angemessen faszinierend zu finden, und seither waren sie etwas irrelevant für ihn. Er mochte sie lieber bedeckt. Am schönsten hätte er es gefunden, Sharon oben mit und unten ohne zu nehmen, wie einen weiblichen College-Faun, oberhalb der Taille Elitestudentin, darunter Geschöpf seiner feuchtesten Träume.

Der Titel des Romans stammt von einem 1936 aufgenommen und im Jahr darauf veröffentlichten Song des Bluessängers Robert Johnson: „Cross Road Blues“ (auch: „Crossroads“).

„Crossroads“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie von Jonathan Franzen, deren Titel „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ aus dem 1871 veröffentlichten Roman „Middlemarch“ von George Eliot (Pseudonym von Mary Anne Evans, 1819 – 1880) stammt. Das kann nur (selbst)ironisch gemeint sein, denn Reverend Edward Casaubon versucht in „Middlemarch“, alle vorgeschichtlichen Mythologien der Völker in ein systematisch wissenschaftliches System zu bringen − und arbeitet sich daran kaputt.

Den Roman „Crossroads“ von Jonathan Franzen gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sascha Rotermund.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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