Leon de Winter : Place de la Bastille

Place de la Bastille
Originalausgabe: La Place de la Bastille Knipscheer, Amsterdam 1981 Place de la Bastille Übersetzung: Hanni Ehlers Diogenes Verlag, Zürich 2005 158 Seiten, ISBN3-257-86126-5
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Paul de Wits Eltern wurden in Auschwitz umgebracht, als er gerade ein paar Wochen alt war. Während der in Amsterdam verheiratete Historiker in Paris für ein Buchprojekt recherchiert, lernt er eine Jüdin kennen, mit der er ein Verhältnis beginnt. Auf seinen Schnappschüssen von ihr, die auf der Place de la Bastille entstanden, entdeckt er einen Mann, der ihm ähnlich sieht. Hatte sich die Hebamme, die ihm von einem Zwillingsbruder erzählte, doch nicht getäuscht?
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Kritik

Leon de Winter erzählt in der Ich-Form aus der Sicht des Protagonisten und nicht chronologisch, sondern mit sorgsam komponierten Zeitsprüngen. Trotz der tragischen Thematik ist die Lektüre des Romans "Place de la Bastille" ein anspruchsvolles Vergnügen.
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Paul

Paul de Wit wurde am 17. November 1943 in Amsterdam geboren. An seine Eltern konnte er sich später nicht erinnern, denn er war als Waise bei Pflegeeltern aufgewachsen, bis diese ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Heim hatten unterbringen können. Auch die Pflegeeltern wussten nicht mehr als seinen Namen und sein Alter. Weil Paul weder Fotos noch Briefe von seinen Eltern besaß, erfand er selbst Anekdoten über sie, die er schließlich mit der Wirklichkeit verwechselte: So beschloss er einmal, die Musiker eines Orchesters nach seinem Vater zu befragen, aber dann fiel ihm ein, dass er sich nur ausgedacht hatte, sein Vater sei Geiger gewesen. Während Paul Geschichte studierte, erkundigte er sich beim Roten Kreuz und beim Reichsinstitut für Kriegsdokumentation und erfuhr, dass die Nationalsozialisten seinen damals neunundzwanzigjährigen Vater Aaron und seine sechs Jahre jüngere Mutter Elsje am 8. Februar 1944 zusammen mit 1013 anderen Juden von Westerbork nach Auschwitz deportiert hatten. Als Paul herausfand, wer die Hebamme bei seiner Geburt war, besuchte er sie. Die Neunundsiebzigjährige erinnerte sich an seine Mutter und behauptete, auch bei der Geburt seines zwei Stunden älteren Zwillingsbruders geholfen zu haben. Bis dahin hatte er von einem Bruder noch gar nichts gewusst. Es könnte jedoch auch sein, dass die Hebamme sich nach Jahrzehnten irrte und in ihrer Erinnerung etwas verwechselte.

Die Sommerferien 1965 verbrachte Paul mit der Soziologie-Studentin Mieke in Italien. Sie stellte ihn dort ihren konservativ-katholischen Eltern vor, die in Umbrien ein Häuschen gemietet hatten.

Als wir am Tisch Platz genommen hatten und ihr Vater den Wein einschenkte, erzählte sie jählings, dass ich Jude sei und wir in den vergangenen Wochen jede Nacht miteinander geschlafen hätten. Der Wein spritzte über das weiße Tischtuch und das blitzende Porzellan, ihre Mutter schrie ihren Namen, und dann ertönte die laute Stimme ihres Vaters, der uns hinauswarf. (Seite 26)

Nach dem Zerwürfnis mit ihren Eltern wechselte Mieke von Soziologie auf Französisch.

„Place de la Bastille. Eine Untersuchung über die Zufälligkeit der Geschichte“

1966 saß Paul erstmals in der Bibliothèque Nationale in Paris, um Material für eine Hausarbeit über die Flucht König Ludwigs XVI. von Paris nach Varennes (21. – 25. Juni 1791) während der Französischen Revolution zu suchen. Anschließend aß der Dreiundzwanzigjährige in einem Restaurant zum ersten Mal in seinem Leben Schweinefleisch.

Was kümmerten mich die Gebräuche eines Nomadenvolkes, das vor Jahrtausenden in unwirtlichen Gebieten umhergezogen war […] 1966 noch nach Hygienevorschriften von vor dreitausend Jahren zu leben war unsinnig. (Seite 17)

Ich musste eine Tat vollbringen, hatte ich mir unterwegs überlegt, ich musste mir beweisen, dass ich frei war und von dem scheußlichen Gewicht, das ich mit mir herumgeschleppt hatte, nichts als einen leichten Muskelkater zurückbehalten hatte. Und Schweinefleisch zu essen war für mich eine Tat. Das Tischchen, an dem ich saß, bebte, als ich den ersten Bissen nahm – nicht etwa, weil der Himmel seinen Zorn entlud (obwohl mir schon blitzartig durch den Kopf schoss: Das ist eine Warnung, lass das!), sondern weil gerade ein Düsenflugzeug herunterkam […] (Seite 15f)

Eine Viertelstunde später musste Paul sich übergeben.

Während der Rückfahrt nach Amsterdam dachte er sich im Zug ein Konzept für ein Buch über die Flucht König Ludwigs XVI. nach Varennes aus, mit dem er zeigen wollte, dass es in der Geschichte keine zwangsläufigen Entwicklungen gibt, sondern nur die Verkettung von Zufällen. Das Buch sollte den Titel „Place de la Bastille. Eine Untersuchung über die Zufälligkeit der Geschichte“ tragen.

Die Geschichte trug keinen Sinn in sich, führte nirgendwohin, war eine amorphe Masse, in der einige trügerische kleine Fakten eine dubiose Kette aus Ursache-und-Wirkung-Verbindungen gebildet hatten, um die Arbeit von Historikern zu legitimieren und die Wahrheit von Ideologien zu belegen. (Seite 31)

In der Wissenschaft wird etwas als wissenschaftlich anerkannt, wenn die Theorie Prozesse nicht nur im Nachhinein, sondern auch im Voraus erklärt. In der Geschichte ist so was unmöglich, obwohl viele die Resultate des historischen Prozess schon als zwangsläufig und wissenschaftlich auffassen. (Seite 81)

1970 machte Paul sein Examen und begann, an einer Schule in Amsterdam Geschichte zu unterrichten. Er und Mieke vermählten sich. 1972 wurde ihre Tochter Hanna geboren, zwei Jahre später Mirjam.

Die Idee mit dem Buch griff Paul 1977 wieder auf. Auf das Manuskript schrieb er als Titel: „Die Flucht nach Varennes. Eine Geschichte ohne Historie“.

Paris

Im Rahmen der Recherche fuhr Paul im Sommer 1980 erneut für zwei Wochen nach Paris. Eines Abends begegnete er in einem Antiquariat in der Nähe seines Hotels der Rezeptionistin, die ihm bei seiner Ankunft aufgefallen war, weil sie einen Davidstern am Hals getragen hatte. Er lud sie höflich auf einen Kaffee ein, aber sie ging nicht darauf ein. Stattdessen klopfte sie wenig später an seiner Tür und beschwerte sich:

[…] dass ich hier ein Zimmer hätte, bedeute noch lange nicht, dass ich frei über das weibliche Personal verfügen könne, und im Übrigen arbeite sie hier nur zeitweilig, sie sei Studentin, und es sei ihr gleichgültig, wenn sie jetzt, weil sie mir die Meinung sage, entlassen werde, ich sei ein männlicher Chauvinist, der denke, Frauen wären zu seinem Vergnügen da […] (Seite 63)

Einige Minuten später kam sie zurück und ging mit ihm aus. Am dritten Tag schliefen sie erstmals miteinander. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Paul und hieß Pauline Moskovitsch. Bis zu seiner Abreise eine Woche später waren Paul und Pauline jeden Tag zusammen. Als er nach Amsterdam zurückkehrte, wusste er nicht, wie es mit Pauline bzw. Mieke und seinen Töchtern weitergehen sollte.

Ich kann keinen einzelnen Vorfall anführen, der das bösartige Scharnier dargestellt hätte, welches mich von Mieke abkehrte; in einem schleichenden Prozess wurde über winzige Schocks deutlich, wie verschieden die Motive waren, die uns veranlasst hatten, nebeneinander zu leben. (Seite 28f)

Widerwillig nahm er seine Berufstätigkeit wieder auf.

Es waren weniger die bornierten Sprüche meiner Kollegen oder das Desinteressse und die einen zur Verzweiflung treibenden Moden der Schüler als vielmehr der tägliche Umgang mit den blinden Jahreszahlenlisten und dem Geschwafel und den simplifizierenden Geschichtchen über Karl den Großen, die Erfindung der Dampfmaschine, den Wiener Kongress und von Clausewitz, die mir erneut zuwider waren. (Seite 120)

Die in Paris verknipsten Filme ließ Paul in einem Fotogeschäft entwickeln, in dem ihn niemand kannte. Auf drei der Fotos bemerkte er hinter Pauline, die auf der Place de la Bastille stand, einen Passanten, der aussah wie er selbst und offensichtlich in die Kamera lächelte. Sein Zwillingsbruder! War er am Leben und wohnte irgendwo um die Place de la Bastille herum? Für Paul wurde es zu einer Obsession, sich Szenen mit seinem Zwillingsbruder Philip vorzustellen. Um seine Fantasie zu unterdrücken, zeichnete er mehr oder weniger wahllos Fernsehsendungen auf, die er sich nachts anschaute.

[…] machte mich zur Unterrichtsmaschine, die sich Stunde um Stunde automatisch von der einen in die andere Klasse begab und reibungslos die verlangten Informationen ausstieß, auch wenn es in meinen Ohren sauste und mir in dem unerträglichen Tageslicht die Augen brannten. Ich brachte mich vorsätzlich an den Rand eines physischen Zusammenbruchs […] (Seite 8)

Mieke entging nicht, wie kaputt er war. Sie führte es darauf zurück, dass er nicht über die Ermordung seiner Eltern hinwegkam und sah auch sein Buchprojekt in diesem Zusammenhang: Paul wollte die Geschichte korrigieren. Auschwitz sollte es nicht gegeben haben. Dann hätten seine Eltern vielleicht noch gelebt. Sie schlug ihm deshalb vor, die zwei freien Wochen über Weihnachten und Neujahr in Paris zu verbringen und noch fehlende Informationen über die Flucht König Ludwigs XVI. nach Varennes zu beschaffen, während sie mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Zeeland fahren und dort Weihnachten feiern wollte.

Paul griff den Vorschlag auf, um in Paris nach Philip suchen zu können.

Komischerweise begann ich selbst an die Geschichte zu glauben, dass ich des Buches wegen nach Paris fuhr. (Seite 13)

Ein paar Tage vor der Abreise kam Pauline zufällig nach Amsterdam. Paul traf sich mehrmals heimlich mit ihr. Sie begleitete ihn auch im Zug nach Paris, stieg jedoch in Compiègne aus, um ihre Eltern zu besuchen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Paul forschte in Paris nach Männern, die ihm ähnlich sahen. Marcel Groff und Jules Richert erfüllten zwar diese Voraussetzung, aber bei keinem der beiden konnte es sich um seinen Zwillingsbruder handeln. Eines Abends nahm er ein Taxi von Les Sables nach Jard-sur-Mer. Dort wohnte ein Ingenieur Paul Mendel, der vor sieben oder acht Monaten aus Lyon gekommen war. Der Taxifahrer kannte ihn flüchtig. Unterwegs ließ Paul ihn anhalten und drängte ihn, sich sein Gesicht genau anzusehen. Der Taxifahrer urteilte, er sehe dem Ingenieur zwar ähnlich, aber nicht wie ein Zwillingsbruder. Daraufhin bat Paul ihn, zu wenden und zurückzufahren.

Möglicherweise war er selbst auf den drei auf der Place de la Bastille geknipsten Schnappschüssen. Er könnte einen Passanten gebeten haben, ihn und Pauline zu fotografieren. Vielleicht hat er das einfach vergessen.

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Paul de Wit kommt nicht darüber hinweg, dass die Nationalsozialisten seine jüdischen Eltern elf, zwölf Wochen nach seiner Geburt von Amsterdam nach Auschwitz deportierten und sie dort ermordeten. Paul mag deshalb nicht an die Zwangsläufigkeit historischer Ereignisse glauben und denkt obsessiv darüber nach, wie man die Geschichte korrigieren könnte. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn die Flucht König Ludwigs XVI. nach Varennes nicht gescheitert wäre? Wenn es die Vernichtungslager der Nationalsozialisten nicht gegeben hätte, wären seine Eltern vielleicht noch am Leben.

Leon de Winter erzählt die Geschichte nicht chronologisch, sondern er springt zwischen Sommer 1980 und Winter 1980/81 hin und her. Was davor geschah, erfahren wir in eingestreuten Rückblenden. Alles wird konsequent in der Ich-Form aus der Sicht des Protagonisten Paul de Wit geschildert. Dieser gut komponierte Aufbau und die mit hintergründiger Ironie gewürzte lakonische Sprache machen die Lektüre des Romans „Place de la Bastille“ trotz der tragischen Thematik zu einem anspruchsvollen Vergnügen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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