Juli Zeh : Adler und Engel

Adler und Engel
Adler und Engel Originalausgabe: Verlag Schöffling & Co, Frankfurt/M 2001 ISBN: 3-89561-054-2, 444 Seiten ISBN: 978-3-89561-970-0 (eBook) Taschenbuch: btb, München 2009 978-3-442-73967-7, 568 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während die 28-jährige Jessie mit dem angesehenen Völkerrechtler Max telefoniert, erschießt sie sich in seiner Wohnung in Leipzig. Die Psychologie-Studentin Lisa alias Clara drängt Max, ihr seine Lebensgeschichte für ihre Diplom­arbeit zu erzählen und fährt mit ihm nach Wien, um seine Erinnerungen zu stimu­lie­ren, denn Jessie war die Tochter eines Drogenbarons in Wien und Max arbeitete dort in einer renommierten Kanzlei ...
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Kritik

Der anspruchsvolle Thriller "Adler und Engel" besteht aus der in eine Rahmen­hand­lung eingebetteten Lebensbeichte des Ich-Erzählers. Juli Zeh wechselt in rascher Folge hin und her und lässt aus den Puzzle-Teilen allmählich ein Gesamtbild entstehen.
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Während der 33-jährige Jurist Max in der von ihm seit zwei Jahren geleiteten Korrespondenz­kanzlei einer Wiener Kanzlei in Leipzig telefoniert, zerreißt ihm ein Knall das Trommelfell des Ohres, an das er das Telefon gehalten hat. Was er sofort ahnt, bestätigt sich, als er nach Hause kommt: die fünf Jahre jüngere Jessie hat sich in seiner Wohnung erschossen. Es war ihm nicht gelungen, ihr die panische Angst zu nehmen. Bevor sie sich durch einen Kopfschuss tötete, hatte sie noch geflüstert: „Ich glaube, die Tiger sind wieder da.“

Max vernagelt die Tür zum Schlafzimmer mit Brettern. Er kokst noch exzessiver als bisher und geht nicht mehr in die Kanzlei. Rufus, der amerikanische Chef der Hauptkanzlei, für den er in Wien gearbeitet hatte, ruft ihn nach einigen Wochen an und fordert ihn auf, seinen Pflichten nachzukommen, aber Max will entlassen werden. Er sieht keine Zukunft mehr für sich und will sich nur noch totkoksen. Dass in spätestens drei Monaten alles vorbei sei, hofft er.

Acht Wochen nach Jessies Suizid ruft Max in einer mittwochs und sonntags spätabends übertragenen Kummerkasten-Radiosendung an.

Die Sendung für Verzweifelte, für Nihilisten, Zurückgebliebene und Einsame, für Atomforscher, Diktatoren und das einfache Arschloch von der Straße. Hier reden wir gemeinsam ÜBER EINE KARGE WELT.

Nachdem Max dem Telefonisten kurz berichtet hat, was geschehen ist, wird er zu der mitleidlosen Moderatorin Clara in die Live-Sendung durchgestellt. Er beantwortet ihre Fragen. Dann legt er auf und übergibt sich.

In der Nacht klingelt es. Die Stimme der Frau an der Tür ist die der Moderatorin Clara.

Ich bin wie gelähmt von der Erkenntnis, dass es sie erstens wirklich gibt und dass sie zweitens tatsächlich hier auftaucht.

Die 23-Jährige, die eigentlich Lisa Müller heißt, studiert Soziologie und Psychologie. Sie möchte über Max ihre Diplomarbeit bei dem auf die Pathologie von Verbrechen spezialisierten, aus Belgrad stammenden Psychologie-Professor Milan Kucia schreiben, den alle wegen seiner literarischen Vorliebe „Schnitzler“ nennen. Max ohrfeigt sie, kann sie aber nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Nachdem er sie vor die Tür gesetzt hat, klingelt sie erneut und verlangt ihr verlorenes Haarband. Bei der Suche danach bemerkt sie unter dem Telefonschränkchen laienhaft zersägte Dielenbretter und entdeckt ein Geheimfach, dem sie Banknotenbündel entnimmt: 500 000 Schilling, 50 000 Dollar und 130 000 D-Mark. Nachdem sie das Geld gezählt und Max gezeigt hat, stopft sie alles zurück ins Loch, deckt es ab und rückt das Schränkchen darüber. Dann verlässt sie die Wohnung.

Maria Huygstetten, eine der beiden Sekretärinnen von Max, ruft an. Weil Jessie sich nicht anfassen ließ und ihn nur immer wieder um Verständnis bat, dass sie noch nicht so weit sei, mit ihm zu schlafen, verbrachte er in den zwei Jahren in Leipzig vielleicht zehn Nächte mit Maria, während Jessie glaubte, dass er so viel zu arbeiten habe und ein paar Stunden in der Kanzlei schlafe.

Hör zu, sagt Maria Huygstetten, ich weiß, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben werden. Keine Illusionen. Aber du kommst jetzt vorbei und holst den Hund.

Den Einwand, dass es sich bei der Dogge Jacques Chirac um Jessies Hund gehandelt habe, lässt Maria nicht gelten. Max bleibt nichts anderes übrig, als das Tier zu sich zu nehmen.

Während Claras Sendung läuft, bringt er ihr ein Stieleis ins Studio.

Ich habe dir was mitgebracht, sage ich. […]
Das Einzige, was ich von dir will, sagt sie leise, ist deine Geschichte. Was anderes interessiert mich nicht.

Zu Hause hört er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Eine ihm unbekannte Männerstimme. Wienerisch. Entsetzt reißt er das Kabel aus der Wand, stopft im Wohnzimmer ein paar Kleidungsstücke in eine Plastiktüte, ohne das Licht einzuschalten, schubst Jacques Chirac aus der Wohnung und rennt los.

Als er am nächsten Morgen zu sich kommt, liegt er bei Clara im Bett.

Mit Sicherheit hat sie keinen festen Freund. Er wäre längst bei mir vorbeigekommen um mich zu verprügeln, es sei denn er ist Intellektueller, was aber nicht zu ihr passt. […] Wenigstens kann ich sicher sein, sie nicht gevögelt zu haben. Ich kriege seit Wochen keinen mehr hoch, darauf kann ich mich verlassen.

Dann fällt mir der Hund ein. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn zuletzt gesehen und wo gelassen habe. […]
„CLARA!!!, brülle ich.
Eine der Türen öffnet sich, Clara steckt den Kopf heraus, und da ist auch Jacques Chirac […].

Du wolltest unbedingt bei mir einziehen, sagt Clara, und da haben wir einen Handel geschlossen.
Ich presse mir die rechte Hand flach aufs Ohr, so dass ich nur noch das Pfeifen höre von links, das Pfeifen und die Stille, die in meinem eigenen Kopf herrscht.
Habe ich dir erzählt, frage ich, warum ich bei dir einziehen will?
Sie schüttelt den Kopf. Vielleicht lügt sie. Ich entdecke eine leere Wodkaflasche auf dem Boden, die habe ich mit Sicherheit selbst ausgetrunken. […]
Letzte Nacht war auf meinem AB eine Nachricht, sage ich, des Inhalts, dass es wirklich höchste Zeit sei, die gewünschte Nummer zu übermitteln, und dass ich eine Drittelmillion D-Mark beilegen könne.
Aufregend, sagt Clara.
Zuzüglich der Beerdigungskosten, sage ich.
Deiner eigenen?, fragt sie.
Schön wär’s, sage ich.

Aber, fragt Clara, was ist denn das für eine Nummer?
Ich WEISS ES DOCH NICHT, sage ich.
Und was haben sie noch erzählt, fragt Clara.
Dass sie mich wegen Mordes anzeigen, sage ich, wenn ich mich stur stelle.

Die von Clara erwähnte Abmachung besteht darin, dass sie ihm Zuflucht gewährt hat als Gegenleistung für seine Zusage, ihr seine Lebensgeschichte auf Band zu sprechen.

Als Max doch noch einmal in sein Apartment zurückkehrt, um ein paar Sachen zu holen, ist die Wohnungstüre nur angelehnt. Das Telefonschränkchen liegt umgekippt am Boden, das Geheimfach wurde ausgeräumt. Die von ihm mit Brettern vernagelten Türen hat man aufgebrochen, die Matratzen zerfetzt. Der PC fehlt.

Bald darauf verlässt Clara mit ihm vorzeitig ihre eigene Geburtstagsparty, steigt mit ihm in das grüne Auto des Tontechnikers Tom, der während ihrer Sendung üblicherweise am Mischpult sitzt und einmal meinte, Max klemme bei Clara auf dem Objektträger. Beim Ausparken stößt Clara gegen das Auto dahinter, aber ohne sich weiter darum zu kümmern, fährt sie los – nach Wien. Im Seitenfach findet Max seinen Kokain-Vorrat: ungefähr 100 Gramm. Sie hofft, dass Max‘ Erinnerungen in Wien stimuliert werden. Er hat in Leipzig bereits angefangen, auf ihren DAT-Recorder zu sprechen.

Nur eins macht mir Sorgen.
Und das wäre?
Naja, sagt sie, möglicherweise hat es einen therapeutischen Effekt auf dich, dass du meine Bänder vollquatschst, und dann wirst du normal, bevor ich fertig bin.

In Wien quartieren sich die beiden auf einem früher von Jessie bewohnten, inzwischen leer stehenden Hof ein. Wie vereinbart, macht Max mit seinen Erinnerungen weiter.

Im Internat war Max ein pickeliger, übergewichtiger Außenseiter. Seine geschiedene Mutter hatte ihn allein aufgezogen, mit Fertiggerichten vollgestopft und zwischendurch in Heimen für Essgestörte untergebracht.

Meine Mutter besaß nichts, abgesehen von mir und einem Daimler der S-Klasse, für dessen Erhaltung sie die Alimente meines Vaters verbrauchte, die eigentlich für die Internatskosten bestimmt waren.

Shershah, der Sohn des iranischen Botschafters in Äthiopien, mit dem er sich seit ein paar Wochen ein Zimmer teilte, beeindruckte die Mädchen mit seiner Schönheit.

Seit ich ihn kannte, waren bereits drei Mädchen in sein Bett und wieder herausgestiegen, weiß Gott keine Mauerblümchen, und er fand nicht, dass er sie deshalb nach ihren Namen fragen müsste.

Max und Shershah waren 18 Jahre alt, als sich die fünf Jahre jüngere, sogar auf heißem Asphalt barfuß laufende Mitschülerin Jessie wie eine Klette an den Diplomatensohn hängte. Sie dealte mit Kokain. Als Jessie und Shershah nach Wien wollten, luden sie Max zum Mitkommen ein. Er wusste, dass es nur geschah, weil er im Gegensatz zu ihnen über ein Auto verfügte, auch wenn es nur ein Kleinwagen war. In Wien hausten sie in einer Wohnung, die Jessies Vater Herbert gehörte. Der war zunächst nicht da, tauchte dann aber zusammen mit Jessies älterem Bruder Ross auf. Herbert beschwerte sich nicht über die zugemüllte Wohnung, wunderte sich aber darüber, dass Jessie unerwartet einen zweiten Kerl mitgebracht hatte und wurde erst ärgerlich, als er erfuhr, dass Shershah keinen Führerschein besaß.

Kleine, sagte er, wie seid ihr denn hergekommen?
Mit dem roten Fiat, sagte Jessie.
Und wer ist gefahren?
Der da, sagte sie und zeigte auf mich.

Kurzerhand schickte Herbert die beiden 18-Jährigen gemeinsam mit einem Wagen nach Bari. Jessie werde sie dort erwarten, sagte er. Max begriff schließlich, was Shershah längst wusste: Jessie war die Tochter eines Drogenbarons, und sie sollten als Drogenkuriere eingesetzt werden. Ohne groß darüber nachzudenken, ließ Max sich darauf ein und fuhr mit Shershah neben sich los. Erst hinter Klagenfurt stellten sie beim Tanken fest, dass der Wagen, den sie in Wien übernommen hatten, gepanzert war. Als Max kaum noch die Augen offen halten konnte, ließ Shershah ihn etwas Kokain lecken.

Ich beugte mich über seine Hand wie ein Pferd, das sich behutsam ein Stück Zucker nimmt.
Danach bediente ich den Wagen, als wäre er ein Teil von mir. Gangschaltung Kupplung Bremse Gas, es war wie Tanzen. Ich hörte erst zwei Stunden später bei Pescara wieder auf zu grinsen.

Kurz vor San Severo ertrug Max die schmerzende Blase nicht mehr und hielt auf einem Parkplatz an. Nachdem die beiden jungen Männer uriniert hatten, war das Auto weg, obwohl Max den Schlüssel abgezogen hatte. Per Anhalter gelangten sie zum Bahnhof in Bari, wo sie sich mit Jessie trafen, die drei Flugtickets bei sich hatte: von Bari über Mailand und Paris nach Wien, wo Ross sie abholte und Shershah dessen und Max‘ private Sachen aus dem verschwundenen Auto aushändigte. Max begann zu begreifen, dass es gar nicht gestohlen worden war und wandte sich an Shershah:

Hör zu, Arschloch, sagte ich. Warum erklärst du mir nicht einfach, was hier abgeht?
Damit du es nicht verbocken kannst, sagte er schlicht.
WIE bitte?, fragte ich.
Was willst du, fragte er, hat doch alles gut geklappt. Eine perfekte Choreografie.
GEKLAPPT, sagte ich, ich bin fast krepiert vor Angst.
Mäxchen, sagte er, du hast einen Führerschein, und damit sind bereits alle Qualitäten aufgelistet, die dich auszeichnen.

Shershah hatte sich an Jessie überhaupt nur herangemacht, weil er für deren Vater arbeiten wollte.

Jessie und Shershah kamen nach diesem Sommer nicht mehr ins Internat zurück. Max verlor die beiden aus den Augen. Nach zweimaligem Sitzenbleiben schaffte er das Abitur und studierte Jura mit Schwerpunkt Völkerrecht.

Ich machte beim Hautarzt eine Art Chemotherapie, die Haare schnitten sie bei der Bundeswehr ab und mein Übergewicht ist mit der Hilfe von ein bisschen Speed auf dem Truppenübungsplatz geblieben.

Nach dem Examen bot ihm der renommierte Völkerrechtler Rufus eine Stelle in seiner Kanzlei in Wien an. Einmal fragte ihn eine Kollegin, wie er zu dem Job gekommen sei, und er antwortete, er habe den Aufnahmetest bestanden. Er sei von Rufus gefragt worden, warum die deutsche Politik in vielen Fragen den Interessen Ghanas, die österreichische dagegen den Australiern nahe stünden. Die richtige Antwort lautete: Wegen der alphabetischen Sitzordnung in Versammlungen und Arbeitsgruppen der internationalen Organisationen: Die Delegierten von Austria sitzen neben denen von Australia, die von Germany neben denen von Ghana. Deshalb kennen sie sich persönlich. Das ist entscheidend.

Max entwickelte sich zu einem auf Osteuropa spezialisierten Völkerrechtler und engagierte sich für die Befriedung des Balkans.

Zu seinen Aufgaben gehörte ein Gutachten für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag über den in Serbien als Volksheld gefeierten Željko Ražnatović („Arkan der Säuberer“), den die neue albanische Regierung beschuldigte, die UÇK zu unterstützen. Er galt als Anführer der paramilitärischen „Balkan Tigers“, deren Existenz er allerdings später in einem Interview mit dem britischen Balkankorrespondenten Marc Bell leugnete. Louise Arbour, die Chefanklägerin in Den Haag, zählte zu Rufus‘ Freundeskreis. Ihr lag eine Anklage gegen Arkan vor, von der die Öffentlichkeit nichts wusste. Max legte in dem Gutachten dar, dass Eingriffe in die inneren Angelegenheiten souveränen Staaten dem Grundsatz der territorialen Integrität widersprächen, aber im Fall von schweren Menschenrechts­verletzungen geboten seien. Rufus prüfte das Gutachten und forderte Max dann auf, den zweiten Teil zu streichen. Nach Den Haag geschickt wurde also nur das Plädoyer für die Nichteinmischung in die Angelegenheiten Serbiens.

Nachdem Max zwölf Jahre nichts von Jessie gehört hatte, rief sie ihn unvermittelt im Büro an und fragte, ob jemand eine Nachricht für sie hinterlassen habe. Später erklärte sie Max, dass sie und Shershah ihn als Kontaktpunkt für Notfälle vereinbart hatten. Persönlich trafen sie sich dann in einer Mittagspause, und am Abend besuchte er sie in ihrer Wohnung, in der nur ein einziger Raum eingerichtet war. Im Kühlschrank lag nichts außer Plastikbeutel mit Kokain für den Straßenverkauf.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Jessie hatte panische Angst. Sie berichtete Max von schrecklichen Erlebnissen. Ihr Vater und ihr Bruder hatten die 23-Jährige dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Franko Simatovic in Sanski Most vorgestellt. In dessen Hollywoodschaukel lag ein großer Hund mit verdrehtem Körper.

Die Zunge hing ihm aus dem Maul und er hatte keine Pfoten mehr, stattdessen stachen unten an seinen Beinen die weißen Knochen aus dem Fell. Eine Menge bunter Schmetterlinge saß überall auf seinem Körper.

Bosnische Frauen wurden zuerst von den Milizen serbischer Kriegsverbrecher vergewaltigt und dann gezwungen, für westliche Drogenhändler wie Herbert als Kuriere zu arbeiten, damit diese Waffen lieferten. Jessie sprach damals mit einer gefangenen Bosnierin namens Marta. Danach packte ein Mann, den sie alle den „Eisverkäufer“ nannten, die Frau, schnitt ihr die Ohren ab und schoss ihr ins Gesicht. Entsetzt rannte Jessie davon, aber ihr Bruder hielt sie auf, zog ihr die Ärmel lang und verknotete sie auf dem Rücken. Nach diesem traumatischen Erlebnis erklärte Jessie ihrem Vater in Wien, dass sie nicht länger mitmache.

Max spricht aufs Band:

Es gab den unbescholtenen Juristen M, seine Freundin J, das Opfer O und den Hintermann X.
J sucht eines Tages M auf und bittet ihn um Rat. Sie fühle sich von X verfolgt, erzählt sie. Aufgrund eines Streits im Rotlichtmilieu wolle der X sich an ihr rächen, und sie wisse genau, dass der X ihr einen seiner Männer vorbeischicken wolle, um sie „abholen zu lassen“. M weiß nicht, was er von der Geschichte halten soll. Er bietet an, einige Zeit in J’s Wohnung zu verbringen. J nimmt dankbar an.
M kocht für sie, aber sie isst nicht.

Max verbrachte einige Zeit bei Jessie. Eines Tages, es war 1997, sahen sie durchs Fenster einen Mann aus dem Auto steigen. „Nein nein nein nein“, schrie Jessie und forderte Max auf, ihr Präzisionsgewehr aus dem einzigen bewohnten Zimmer zu holen. Als er den Mann auf der Straße – Shershah – ins Visier nahm, schaltete Jessie die Deckenleuchte ein. Shershah blieb stehen, schaute hoch, erblickte wohl die Silhouette am Fenster und warf sich nach vorn. Max drückte ab. Im Gewehr knackte es nur, aber ein Lastwagen erfasste Shershah und tötete ihn.

Rufus erfuhr von Shershahs Tod, bevor die Medien darüber berichteten. Er versuchte Max einzuschärfen, dass es sich um nichts weiter als einen Verkehrsunfall gehandelt habe.

Getötet wurde ein Drogenkurier, sagte er, ein Mann, der seit über zehn Jahren sein Geld nur durch kriminelle Geschäfte erwarb.
Rufus, sagte ich, ich kenne Herbert, und ich bin recht sicher, dass Sie ihn auch kennen, und der Tote war einer von seinen Männern.

Rufus gab zu, dass er seit 20 Jahren mit Herbert befreundet war:

Sein Handelsgeschäft ist nicht der Punkt. Herbert kennt ein paar Leute, und er weiß, wie man mit ihnen umgeht. […]
Wir unterbinden hier den dritten Weltkrieg. Sie glauben doch nicht, dass die Menschheit ohne das Völkerrecht, ohne die Vereinten Nationen, ohne Abrüstungsabkommen und Atomverträge die letzten fünfzig Jahre überlebt hätte? Diese Leistung erlaubt uns eine gewisse moralische Emanzipation. Solange ein Mann dazu beiträgt, jährlich, täglich, stündlich das Schlimmste zu verhindern, schaut man ihm nicht im Einzelnen auf die Finger. Herbert ist ein moralisch autarker Mann. Er könnte seine Position auch gegen die Menschen verwenden, aber er nutzt sie für den Frieden.

Max erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass er seinen Job Herbert verdankte. Der sorgte nun auch dafür, dass Max Wien verließ und Rufus ihn mit der Leitung der Korrespondenz­kanzlei in Leipzig betraute. Außerdem wurde von Max erwartet, dass er Jessie in die psychiatrische Klinik auf der Baumgartner Höhe in Wien brachte. Max fügte sich, aber als er das Krankenhaus allein verließ, passte ihn Ross auf dem Parkplatz ab und drängte ihn, seine Schwester wieder heraus­zuholen und nach Leipzig mitzunehmen.

Max tat es. Er fuhr mit Jessie nach Leipzig und kaufte ihr dort eine Dogge, der sie den Namen „Jacques Chirac“ gaben, weil sie nicht wussten, wie man Giscard d’Estaing schreibt.

Durch seine Arbeit in der Leipziger Kanzlei galt Max zusammen mit französischen und polnischen Kollegen als juristischer Motor für die Ostintegration. Dass seine Tätigkeit mit der durch die Entwicklung auf dem Balkan erzwungene Verschiebung der Drogenroute nach Norden zu tun hatte, ahnte er nicht.

Tom taucht auf und will sein Auto wiederhaben. Beim Vater des Technikers, der etwa zehn Jahre jünger ist als Max, handelt es sich um einen Wiener Galeristen. Max hat inzwischen durch eine im Wagen gefundene, zwei Jahre alte Rechnung herausgefunden, dass Tom die Datenbank und das Computer-Netzwerk von Rufus‘ Kanzlei in Wien erweiterte. Jetzt erfährt er, dass Tom auch für Herbert arbeitet: als Drogenkurier auf der Polenroute.

Durch den selbstmörderischen Kokain-Konsum baut Max psychisch und physisch ab, aber Clara scheint es noch schlechter als ihm zu gehen, und er verabreicht ihr deshalb immer wieder eine Messerspitze Kokain. Längst hat sie aufgehört, die von ihm besprochenen Bänder abzutippen. Sie liegt nur noch apathisch im Schuppen, ohne auf Schläge und Tritte zu reagieren. Mit einem Nassrasierer versucht Max, ihr das Haar abzutrennen, aber nachdem er sie ein paarmal ungewollt in die Kopfhaut geschnitten hat, verwendet er ein Küchenmesser und erst danach die Rasierklinge. Anschließend müht er sich ab, die Glatzköpfige zu vergewaltigen.

[…] ich, ein Impotenter, der versucht, eine Scheintote zu vergewaltigen.

Max weiß nicht, ob Clara ihn versteht, als er sagt, er sei mit seiner Geschichte fertig. Doch als ob es sich um ein Zauberwort gehandelt hätte, steht sie kurz darauf in der Tür.

Was soll diese plötzliche Auferstehung?
Du hast gesagt, antwortet sie, dass du fertig erzählt hast.
Versuchen wir es anders herum, sage ich. Was sollte dieser Dornröschenschlaf?

Max trifft sich mit Ross. Der hat bereits von Clara erfahren, dass Max mit seinen Erinnerungen am Ende ist. Clara hatte eine Abmachung mit Ross bzw. Herbert. Sie wollte die „Hirnausscheidungen eines drogenabhängigen Psychotikers“ festhalten, die aus Max herausliefen wie „Eiter aus einem Geschwür“, und war bereit, das ganze Material auch den Drogenhändlern zur Verfügung zu stellen, die sich davon Aufschluss über etwas versprachen, das sie dringend benötigen.

Es ist so, sagt er, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach etwas hast, das wir sehr dringend brauchen.
[…] Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder du weißt, wovon ich rede, und machst schon die ganze Zeit auf Schauspieler. Oder du hast es, weißt aber selbst nichts davon. In diesem Fall, dachten wir uns, wäre es wichtig, dass du auch nicht erfährst, worum es geht. Denn sonst kriegen wir es nicht, oder es wird jedenfalls teuer.
Deshalb die Wohnungsdurchsuchung, sage ich.
Ja, sagt er.
Und deshalb, sage ich, vor allem: Clara.
Ja, sagt er.
Und die dritte Möglichkeit?
Du hast es tatsächlich nicht.

Ross bleibt nichts anderes übrig, als Max einzuweihen: Es geht um eine vierzehnstellige Nummer. Um deren Bedeutung klarzustellen, beginnt er davon zu reden, wie 1997 in Albanien die Banken zusammenbrachen.

Danach ging über den Balkan nichts mehr für uns, sagt Ross. Die Südoststraße war immer eine der lukrativsten Routen gewesen, eine wahre Schlossallee. Aber jetzt kam einiges zusammen. Die Mafia hatte ihr Geld aus Albanien rausgezogen, es begannen die Umverteilungsmaßnahmen. Häfen und Flugplätze wurden von den multinationalen Schutztruppen verstopft. Und einige unserer Partner suchte man auf internationalen Haftbefehl.

Nach dem Zwischenfall mit der vor Jessies Augen ermordeten Bosnierin in den letzten Wochen des „Balkangeschäfts“ warteten Ross und seine Männer mit einer „Regentonne voll Kokain“ aus dem Osten an Bord eines Motorboots in der Adria drei Stunden lang bei schwerer See vergeblich auf Jessie und Shershah, während über ihren Köpfen die internationalen Schutztruppen Durrës anflogen. Die beiden, die das Kokain nach Italien hätten bringen sollen, waren mit dem Geld untergetaucht. Schlimmer noch: Jessie hatte mit Toms Hilfe den zentralen Zugang zu den wichtigsten Dateien abgeriegelt und mit einem 14-stelligen Passwort gesichert, das außer ihr allenfalls noch Shershah kannte. Nun sind beide tot, und niemand kommt an die fürs Geschäft erforderlichen Daten heran.

In den Datenbanken liegt genug Stoff für einen Riesenskandal auf höchster Ebene. Wenn das rauskommt, ist deine geliebte EU am Ende und der Balkan geht plötzlich bis zum Atlantik.
Und ein paar Völkermörder, sage ich, gehen ins Gefängnis.

Max beteuert, keine Ahnung zu haben, wo Jessie den Code versteckt haben könnte. Als er auf den Hof zurückkommt, ist Clara fort. An der Innenseite eines Ohrlappens der Dogge bemerkt Max eine tätowierte Nummer mit 14 Stellen. Nachdem er „Jacques Chirac“ mit einem Messer erstochen hat, ruft er Ross an und nennt seinen Preis. Ross erwartet eine Geldforderung, aber stattdessen sagt Max:

Ihr könnt jemanden für mich finden, sage ich. Falls ihr sie nicht sowieso schon habt, versucht es am Westbahnhof. […]
Ihr bringt sie her, sage ich, und lasst sie ab jetzt in Ruhe. Dafür bekommt ihr die Nummer.

Während Max wartet, zieht er sich aus, legt sich nackt in den warmen Sommerregen und blickt in den Himmel.

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In ihrem düsteren Debütroman „Adler und Engel“ verknüpft Juli Zeh persönliche Schicksale mit dem organisierten Verbrechen und der großen Politik. Der anspruchsvolle Thriller dreht sich um die von Kriegsverbrechern initiierte, von renommierten Juristen gedeckte Kooperation von Waffen- und Drogenhändlern. Den Hintergrund dafür liefert die Situation nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens.

Namentlich erwähnt Juli Zeh den in Serbien als Volksheld gefeierten Anführer der paramilitärischen „Balkan Tigers“, Željko Ražnatović („Arkan der Säuberer“, 1952 – 2000). Während der Balkankriege soll er mit seinen Milizen an Massen­vergewaltigungen, Massakern und ethnischen Säuberungen beteiligt gewesen sein. Im September 1997 (in dieser Zeit spielt ein entscheidender Teil der Handlung des Romans „Adler und Engel“) erhob der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag Anklage gegen Željko Ražnatović und erließ einen Haftbefehl gegen ihn. Aber er wurde nicht festgenommen, sondern am 15. Januar 2000 in Belgrad erschossen. (Der Mordfall blieb unaufgeklärt.) In Juli Zehs Roman heißt es, Arkan habe sich in London mit dem britischer Balkankorrespondenten Marc Bell getroffen. Dabei dachte sie wohl an den Journalisten und Politiker Martin Bell (* 1938).

„Adler und Engel“ besteht aus der kathartischen, in eine Rahmenhandlung eingebetteten Lebensbeichte des Ich-Erzählers Max. Juli Zeh wechselt in rascher Folge zwischen der Gegenwart und den verschiedenen zeitlichen Ebenen der Erinnerungen des Lebensmüden hin und her. Die Rahmengeschichte dreht sich vor allem um Max und Lisa alias Clara, in der Vergangenheit sind Max, Jessie und Shershah die Hauptfiguren. Geschickt lässt Juli Zeh aus den Puzzle-Teilen allmählich ein Gesamtbild entstehen.

Die geistige Zerrüttung des Ich-Erzählers spiegelt sich zwar nicht in der Sprache, aber in der Darstellung, und zwar am eindrucksvollsten im ersten Teil des Buches, der wie ein Albtraum wirkt und die Leser erst einmal im Unklaren über die Zusammenhänge lässt.

„Adler und Engel“ zeichnet sich durch eine hohe Komplexität aus, die Juli Zeh souverän und einfallsreich meistert. Mit kurzen, nüchternen Sätzen inszeniert sie detailreiche Bilder.

In retardierenden Passagen streut sie Aphorismen ein, zum Beispiel:

Das Leben, sage ich, ist wie ein Adventskalender, hinter dessen vierundzwanzigster Tür sich ein weiterer Adventskalender befindet.

Es liegt in der menschlichen Natur, immer alles wissen zu wollen, und es müsste eigentlich im Wesen menschlicher Vernunft liegen, sich diesem Verlangen zu widersetzen.

Den Roman „Adler und Engel“ von Juli Zeh gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Mühe (ISBN 3-453-21509-5).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Schöffling & Co.

Juli Zeh: Schilf
Juli Zeh: Corpus Delicti
Juli Zeh: Nullzeit
Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh: Leere Herzen
Juli Zeh: Neujahr
Juli Zeh: Über Menschen
Juli Zeh und Simon Urban: Zwischen Welten

Klaus Gietinger - Eine Leiche im Landwehrkanal
Auch wenn man nicht jede einzelne Schlussfolgerung des Autors für zwingend und die Art der Darstellung für literarisch anspruchslos hält, muss man ihm Respekt für seine Arbeit zollen: Mit "Eine Leiche im Landwehrkanal" hat er entscheidend zur Aufhellung der Vorgänge am 15. Januar 1919 beigetragen.
Eine Leiche im Landwehrkanal