Eric-Emmanuel Schmitt : Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Originalausgabe: Monsieur Ibrahim et le fleurs du Coran Éditions Albin Michel, Paris 2001 Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran Übersetzung: Annette und Paul Bäcker Ammann Verlag & Co, Zürich 2003
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Elfjähriger, der jeden Tag für sich und seinen Vater das Abendessen zubereiten muss, kauft die Zutaten in dem kleinen Geschäft von Monsieur Ibrahim ein. Allmählich entwickelt sich zwischen dem jungen Pariser Juden und dem lebensweisen alten Muslim aus der Türkei eine enge Freundschaft ...
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Kritik

"Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" ist eine von Eric-Emmanuel Schmitt mit zurückhaltendem Humor erzählte, inhaltlich und formal gelungene Parabel über gegenseitiges Verständnis, das sich ungeachtet von Religion und Altersunterschied entwickelt.
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Moses

Als ich elf war, habe ich mein Schwein geschlachtet und bin zu den Dirnen gegangen.

Mit diesem Satz beginnt Eric-Emmanuel Schmitts Erzählung.

Der elf Jahre alte Moses lebt mit seinem vergrämten Vater „mehr als Sklave als der Sohn eines Rechtsanwalts ohne Fälle und ohne Frau“ in einer kleinen Wohnung in der Rue Bleue in Paris. Der Vater hält Moses immer wieder vor, dass er ihm seinen erstgeborenen Sohn Popol vorgezogen hätte, aber mit dem sei seine Frau kurz nach der Geburt von Moses auf und davon gegangen.

Monsieur Ibrahim

Während der Vater tagsüber in seiner Kanzlei sitzt, muss der Junge sich um den Haushalt kümmern und kochen. Zum Einkaufen geht er in den bis unter die Decke vollgestopften Laden von Monsieur Ibrahim, der als weiser Mann gilt, „weil er seit mindestens vierzig Jahren der Araber in einer jüdischen Straße“ ist. Monsieur Ibrahim kommt ursprünglich vom „Goldenen Halbmond“, ist also gar kein Araber. Der Ladenbesitzer erklärt Moses, dass Araber in seiner Branche bedeutet: „Von acht bis vierundzwanzig Uhr geöffnet, auch am Sonntag.

Ihre Gespräche beschränken sich auf einen bis zwei Sätze pro Tag: „Wir hatten Zeit. Er, weil er alt, ich, weil ich jung war.“

Als sein Vater ihn zu Unrecht verdächtigt, ein Dieb zu sein, denkt Moses: „Wenn man mich schon des Klauens bezichtigt, warum es dann nicht auch tun.“ Um regelmäßig etwas vom Haushaltsgeld abzweigen zu können, beginnt Moses im Laden von Monsieur Ibrahim jeden zweiten Tag eine Konservenbüchse zu stehlen und seinem Vater unbemerkt Hundefutter als Hammelragout vorzusetzen.

Eines Tages wird in der Rue Bleue ein Film mit Brigitte Bardot gedreht. Sie kauft sich im Laden von Monsieur Ibrahim eine Flasche Wasser, für die er vierzig Francs verlangt. Üblicherweise kostet sie zwei Francs. Moses ist fassungslos: „Na, Monsieur Ibrahim, Sie haben schon Chuzpe.“ „Tja, nun, mein Kleiner, irgendwie muss ich doch all die Büchsen wieder reinkriegen, die du mir mopst.“ Seit diesem Tag sind sie Freunde.

Monsieur Ibrahim lehrt Moses, den er Momo nennt, dass Höflichkeit nicht genügt. „Freundlich sein ist besser. Versuch es mal mit einem Lächeln, und du wirst sehen.“ Momo probiert es. „Zack: Lächeln!“ Keiner kann ihm widerstehen. Überall schmeichelt er sich ein. Auch die Mädchen in der Rue de Paradis, deren Liebesdienste er sich ab und zu kauft, wenn er wieder einmal genügend zusammengespart hat, sind noch aufmerksamer zu ihm. Nur bei seinem Vater nimmt seine Charmeoffensive keinen guten Ausgang. Der vermutet, Moses habe etwas angestellt und schaut ihn sich genauer an. „Du brauchst eine Zahnspange. Ich habe bis heute nicht bemerkt, dass du vorstehende Zähne hast.“

Verwaist

Bei einem Abendessen traut Moses sich endlich einmal, seinen Vater zu fragen, ob er an Gott glaube. Er habe es noch nicht geschafft, an Gott zu glauben, antwortet dieser. Um zu glauben, dass alles einen Sinn hat, da müsse man sich schon sehr anstrengen. „Aber Papa, wir sind doch Juden, du und ich. … Und Jude sein hat mit Gott nichts zu tun?“ „Für mich nicht mehr. Jude zu sein bedeutet einfach, Erinnerungen zu haben. Schlechte Erinnerungen.“

Ein paar Tage später eröffnet der Vater seinem Sohn: „Man hat mich rausgeschmissen, Moses. Man will mich nicht mehr haben in der Kanzlei, wo ich arbeite.“

Nun, sehr erstaunt hat mich das nicht, dass man keine Lust hatte, mit meinem Vater zu arbeiten – bestimmt hat er die Verbrecher deprimiert –, aber gleichzeitig wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ein Anwalt aufhören könnte, ein Anwalt zu sein.

Als Moses am nächsten Tag von der Schule heimkommt, findet er einen Abschiedsbrief seines Vaters vor: „… es tut mir Leid, ich bin weg. Ich kann einfach kein richtiger Vater sein …“ Moses versucht zu verheimlichen, dass er allein ist, kauft weiter für zwei ein und setzt sich abends in den Sessel des Vaters, um die Nachbarn zu täuschen.

In der Schule, sagte ich mir, war keine Sekunde zu verlieren: Ich musste mich verlieben. Viel Auswahl gab es nicht, denn wir waren keine gemischte Schule; alle waren in die Tochter des Hausmeisters verknallt. Myriam, obwohl erst dreizehn Jahre alt, hatte sehr schnell spitzgekriegt, dass sie die Herrin über dreihundert lechzende Pubertätlinge war. Mit der Inbrunst eines Ertrinkenden fing ich an, ihr den Hof zu machen.
[…]
Nachdem sie mich in ihren Hofstaat von Verehrern aufgenommen hatte, fing sie an, mich als ihrer nicht würdig zurückzuweisen.

Nach drei Monaten überbringen zwei Polizisten Moses die Nachricht, dass sein Vater sich in der Nähe von Marseille vor einen Zug geworfen hat. Er soll die Leiche identifizieren.

Das wirkte auf mich wie ein Alarmsignal. Ich fing an zu schreien, als hätte man auf einen Knopf gedrückt. Die Polizisten sprangen um mich herum, als suchten sie den Abstellschalter. Leider keine Chance, der Schalter war nämlich ich, und ich konnte nicht aufhören.

Monsieur Ibrahim erklärt Moses alias Momo, sein Vater habe nicht verkraften können, dass seine Eltern von den Nazis umgebracht worden waren. „Er hat sich Vorwürfe gemacht, überlebt zu haben.“

Momo beginnt, die Wohnung zu renovieren. Eines Tages taucht seine Mutter auf.

Ich weiß nicht warum, aber ihre Scheu, ihr Zögern, ihre Art, sich nicht zu trauen, zwischen den Leitern durchzugehen, und die Farbkleckse auf dem Fußboden zu vermeiden, hat mir sofort klargemacht, wer sie war.

Er gibt vor, Mohammed zu heißen.

„Moses ist weg, Madame. Er hatte die Nase voll. Er denkt nicht gern an hier zurück. […] Als er ging, sagte er, er wolle seinen Bruder suchen.“

Aber seine Mutter hat nur einen einzigen Sohn, und der heißt Moses. Da erst begreift Momo, dass es Popol nur in der Fantasie seines Vaters gab.

Die Reise

Monsieur Ibrahim adoptiert Momo. Er will mit ihm in die Türkei fahren, ihm zeigen, wo er herkommt und seinen Freund Abdullah wiedersehen. Für diesen Zweck kauft er ein Auto. Als es ans Fahren geht, flunkert er Momo vor, er habe vergessen, wie es geht; die Wagen seien damals auch anders gewesen.

„Sagen Sie, Monsieur Ibrahim, die Autos, in denen Sie gelernt haben, die wurden nicht von Pferden gezogen, oder?“
„Nein, Momo, von Eseln.“

Monsieur Ibrahim nimmt Fahrstunden; Momo auf dem Rücksitz prägt sich die Anweisungen des Fahrlehrers gut ein und übt spätabends, wenn die Straßen leerer sind.

Auf Nebenstrecken – von der Autobahn aus würde man ja nichts von der Gegend sehen – fahren sie durch ganz Südeuropa und verbringen viele schöne Tage miteinander. Dann erreichen sie Monsieur Ibrahims Heimat, sein „Geburtsmeer“. Er bittet Momo, unter einem Olivenbaum zu warten, während er Abdullah suchen will. Als Moniseur Ibrahim um Mitternacht immer noch nicht zurückgekehrt ist, geht Momo zu Fuß ins Dorf. Monsieur Ibrahim liegt schwer verletzt in einem „riesigen Raum, in dem mehrere Frauen hock[t]en und klag[t]en“: Er war mit dem Auto gegen eine Mauer gefahren.

Nach dem Tod seines Adoptivvaters trifft Momo sich mit Abdullah und kehrt dann per Anhalter zurück nach Paris. Er übernimmt den Laden in der Rue Bleue.

… in der Rue Bleue, die nicht blau ist.
Für alle Welt bin ich der Araber an der Ecke.
Araber was in unserer Branche bedeutet, nachts und auch am Sonntag geöffnet.

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Eric-Emmanuel Schmitt ist es in „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ gelungen, mit zurückhaltendem Humor und feiner Beobachtung der Personen und Situationen eine kleine Welt darzustellen, in der es ungeachtet von Glaubenszugehörigkeit und unterschiedlichem Alter nicht nur möglich ist, miteinander auszukommen; es wird sogar einer des anderen Stütze und Freund. Die Parabel wirbt für Tolerenz in einer multikulturellen Gesellschaft.

Die scheinbar unkomplizierte, beinahe märchenhafte Geschichte wird aus der Sicht eines jüdischen Jungen erzählt. Viele Dialoge machen die Figuren lebendig. „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ ist nicht nur eine unterhaltsame Lektüre, sondern auch inhaltlich und formal eine wunderbare Erzählung.

Gegen Plagiatsvorwürfe verteidigt Eric-Emmanuel Schmitt sich, indem er die Parallelen zwischen „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ und dem Roman „Du hast das Leben noch vor dir“ von Romain Gary (Pseudonym: Emile Ajar) als zufällig bezeichnet.

„Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ gehört zum „Cycle de l’invisible“, in dem sich Eric-Emmanuel Schmitt mit den Weltreligionen beschäftigt: Buddhismus, Sufismus und Judentum, Christentum, Judentum und Christentum.

  • Milarepa (Theaterstück: 1997, Erzählung: 1997)
  • Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (Theaterstück: 1999, Erzählung: 2001)
  • Oskar und die Dame in Rosa (Erzählung: 2002, Theaterstück: 2003)
  • Das Kind von Noah (Erzählung: 2004)

Eine Hörbuch-Fassung von „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ mit Matthias Ponnier als Sprecher erschien 2003 bei Hoffmann & Campe, Hamburg. Mit dem Regisseur François Dupeyron zusammen schrieb Eric-Emmanuel Schmitt das Drehbuch für die Verfilmung seiner Erzählung.

Weitere Bücher bzw. Verfilmungen über allein gelassene Kinder:

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene und Dieter Wunderlich 2003 / 2010
Textauszüge: © Amman Verlag

François Dupeyron: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

Eric-Emmanuel Schmitt (Kurzbiografie / Bibliografie)
Eric-Emmanuel Schmitt: Enigma (Verfilmung)
Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa

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