Alexander Mitscherlich : Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Die Unwirtlichkeit unserer Städte
Die Unwirtlichkeit unserer Städte Anstiftung zum Unfrieden Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1965
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Kommunen versagten in der Nachkriegszeit: Statt beim Wiederaufbau der zerstörten Städte darauf zu achten, dass die Sozialisation der Bürger gefördert wird, verschlimmerte sich die "Unwirtlichkeit unserer Städte". Die Städte werden von Menschen gestaltet und wirken auf ihre Bewohner zurück: Wer in diesen ebenso eintönigen wie restriktiven Städten aufwächst, entwickelt keine Bindung an seine Heimatstadt und hält sich von seinen Nachbarn fern.
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Kritik

"Dieses Buch gehört zu der in Vergessenheit geratenen Gattung der Pamphlete", schreibt Alexander Mitscherlich im Vorwort. Von sozialpsychologischen Bestandsaufnahmen ausgehend, prangert der Psychoanalytiker an, dass die Stadtentwicklung in der Nachkriegszeit "die Unwirtlichkeit unserer Städte" verschlimmerte.

Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) beklagt es, dass beim Wiederaufbau in den kriegszerstörten deutschen Städten die Chance vertan wurde, Bausünden der Vergangenheit zu korrigieren. Im Gegenteil: Die Unwirtlichkeit unserer Städte nahm zu. Während eine Stadt früher gewissermaßen einen Charakter (Mitscherlich nennt es „Herz“) hatte und mehr war als die Summe von Häusern, Plätzen und Straßen, kann der moderne Stadtbewohner kaum noch eine Bindung an seine Heimatstadt entwickeln. Wie sollte er auch, wenn er als Kind mit „Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen“ aufwächst, obwohl er „Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum“ (Seite 23) benötigt hätte.

Städtische Region wird […] mehr und mehr zum kontrastlosen, einzigen und ausschließlichen Lebensraum für Millionen von Menschen. So vollständig, dass auch alle Naturprodukte, alles was an Naturprozesse erinnert, in technischer Aufbereitung, Verpackung erscheint. (Seite 52)

Wer in einer dieser unwirtlichen Städte aufgewachsen ist, assoziiert das weniger mit Freiräumen und Entfaltungsmöglichkeiten als mit Verboten und Einschränkungen

(„Das Betreten des Rasens ist untersagt“). Die Einförmigkeit der Stadt wird unter Umständen noch durch einen perversen Ordnungssinn der Eltern in der eigenen Wohnung verstärkt. Da der Wohnraum in den Städten extrem teuer ist, gibt es kaum noch Wohnungen, die groß genug sind, um das Kontaktbedürfnis der Familienmitglieder und ihr Bedürfnis nach zeitweisem Alleinsein gleichermaßen befriedigen zu können. Der Raummangel erlaubt es auch nicht mehr, dass drei Generationen in einer Wohnung zusammen leben.

Das Grundübel glaubt Alexander Mitscherlich in den Bodenbesitzverhältnissen ausgemacht zu haben: Firmen und Privatleute, denen die städtischen Grundstücke gehören, lassen sich von ihrer Profitgier leiten und entwickeln kein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinde.

Während Städte früher integrierte Lebens- und Arbeitsräume boten, haben sie sich inzwischen „funktionell entmischt“: Nicht erst seit dem Bau von Trabantenstädten sind Wohnen und Arbeiten auf verschiedene Stadtbezirke aufgeteilt. Wer es sich leisten kann, kauft sich ein Stück Natur und zieht aufs Land. Aber in der Vorortvilla sieht Alexander Mitscherlich auch nur die „Demonstration der monetären Potenz“ (Seite 34) einer einzelnen Familie.

Die von Menschen gestalteten Städte wirken auf die Bewohner zurück und versagen beispielsweise bei der Sozialisation. Statt ein konstruktives Sozialverhalten zu fördern, sind die Städte heute so gestaltet, dass ein soziales Engagement erst gar nicht aufkommt, sondern der „Dschungelaspekt der Konkurrenzgesellschaft“ (Seite 37) dominiert. Infolgedessen verbreiten sich destruktive Verhaltensweisen. Die Stadtbewohner vereinsamen. Man hält Distanz zu den Nachbarn.

Man versteht es nicht, zwischen schrankenlos zudringlicher Intimität und vollkommener Interessenlosigkeit aneinander die mittlere Distanz zu finden. (Seite 98)

Freundschaften pflegt man nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung, sondern in anderen Stadtteilen und in anderen Städten. Moderne Verkehrsmittel machen es möglich.

Alkoholkrankheit, Drogensucht und die „Ausbruchssehnsucht“, die Stadtbewohner zu „winterlichen und sommerlichen Urlaubsmigrationen“ treibt (Seite 46), sind Symptome dafür, dass in unserer Überflussgesellschaft elementare Wünsche und Bedürfnisse unerfüllt bleiben.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag. Seitenangaben beziehen sich auf
eine Lizenzausgabe des Deutschen Bücherbundes, Stuttgart / München o. J.

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