Édouard Louis : Im Herzen der Gewalt

Im Herzen der Gewalt
Originalausgabe: Histoire de la violence Éditions du Seuil, Paris 2016 Im Herzen der Gewalt Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2017 ISBN: 978-3-10-397242-9, 224 Seiten ISBN: 978-3-10-490265-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Student Édouard Bellegueule wird am Heiligen Abend auf einem Platz in Paris von einem zehn Jahre älteren Fremden an­ge­sprochen. Zunächst geht Édouard nicht darauf ein, aber schließlich nimmt er Reda, den Sohn eines Migranten aus Algerien, mit in seine Wohnung. Nachdem sie mehrmals Sex miteinander hatten, will Reda gehen. Édouard sucht vergeblich nach seinem Handy und sieht dann eine Ecke seines iPads aus Redas Manteltasche ragen ...
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Kritik

Lesenswert ist "Im Herzen der Gewalt" vor allem wegen der virtu­osen Komposition einer ver­schach­tel­ten Mehr­stimmig­keit. Meistens hören wir Clara, die ihrem Mann berichtet, was sie von ihrem Bruder erfahren hat – der das Gespräch belauscht und still kommen­tiert.
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Édouard Bellegueule

Édouard Bellegueule wuchs in der nordfranzösischen Provinz auf, wo er nicht nur wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Diebesbande, sondern auch wegen seiner Homosexualität immer wieder in Schwierigkeiten geriet. Im Alter von 20 Jahren verließ er sein Elternhaus, zog nach Paris und begann zu studieren. Das war vor vier Jahren.

Das Studium, die Möglichkeit eines Studiums sei erst sehr viel später aufgetaucht, als mir klar wurde, dass es mehr oder weniger der einzig denkbare Weg war oder zumindest der einzige Weg, der mir erlauben würde, mich nicht nur räumlich von meiner Vergangenheit zu entfernen, sondern auch symbolisch, sozial, also vollständig.

Zufallsbekanntschaft

Nach dem Weihnachtsessen am Heiligen Abend 2013 bei seinen Freunden Didier und Geoffroy geht Édouard zu Fuß nach Hause, um mit der Lektüre eines der Bücher zu beginnen, die sie ihm schenkten. Jemand folgt ihm, holt ihn auf der Place de la République ein und spricht ihn an: „Ça va? Feierst du nicht Weihnachten?“ Édouard geht weiter, ohne zu antworten, mit gesenktem Kopf, aber der Fremde gibt nicht auf. Er heißt Reda. Er sei Kabyle, sagt er. Sein Vater kam Anfang der Sechzigerjahre aus Algerien nach Frankreich und wurde in einem Wohnheim in der Banlieue einquartiert. Redas Leben begann erst 20 Jahre später. Er ist also etwa zehn Jahre älter als Édouard. Der nimmt ihn schließlich mit in die Wohnung.

Nachdem sie vier-, fünfmal Sex miteinander hatten, behauptet Reda, er müsse gehen und noch etwas schlafen, denn er habe am frühen Morgen einen Aushilfsjob als Klempner. Édouard fragt Reda nach der Telefonnummer, und als er sie nicht bekommt, schreibt er ihm Adresse und Namen des Cafés auf, in dem er vor knapp einem Monat den Roman „Das Ende von Eddy“ fertigstellte und fast jeden Tag an einem neuen Manuskript schreibt. Als er wie gewohnt die Uhrzeit vom Smartphone ablesen möchte, findet er das Gerät nicht, und dann sieht er eine Ecke seines iPads aus Redas Manteltasche ragen. Hat Reda auch das Mobiltelefon eingesteckt?

Vorsichtig fordert Édouard ihn auf, die Sachen zurückzugeben. Reda reagiert aggressiv: „Willst du sagen, ich bin ein Dieb, ich bin kein Dieb, du beleidigst meine Mutter.“ Édouard versucht weiter, ihn zu beschwichtigen.

[…] Ich versteh ja, dass man ein Telefon nimmt, könnte mir auch passieren, klar versteh ich das, ich weiß ja nicht, wegen dem Kick, dem Adrenalin beim Klauen, oder wenn du Geldprobleme hast, keine Sache – und er hört nicht auf, er hört nicht auf, er redet –, Ich möchte es einfach wiederhaben, und dann vergessen wir’s […], und Édouard sagt zu ihm: Wir vergessen das und dann vergessen wir, dass wir es vergessen haben […]

Seine Schwester Clara wird später sagen:

Sogar in der Situation kann er nicht aufhören mit seinem Feine-Leute-Gerede, wie ein Minister, er hat das nicht im Griff, kein Wunder, dass der andere noch wütender wurde […]

Reda ergreift einen Schal, legt ihn Édouard um den Hals und zieht zu. Bevor der Strangulierte das Bewusstsein verliert, richtet Reda eine Pistole auf ihn.

[…] ich hatte keine Hoffnung mehr zu entkommen, ich hoffte nicht mehr zu überleben, sondern wollte nur möglichst schmerzlos sterben […]


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Tat und ihre Folgen

Reda wirft Édouard aufs Bett und vergewaltigt ihn. Édouard wartet auf den Orgasmus des Anderen und rammt ihm dann einen Ellbogen in die Rippen. Damit hat Reda nicht gerechnet. Er fällt zur Seite und auf den Boden, liegt auf dem Rücken, mit der Hose um die Fußgelenke und blutverschmiertem noch erigiertem Penis. Édouard springt zur Türe, reißt sie auf und fordert Reda entschlossen zum Verlassen der Wohnung auf.

Weil er befürchtet, Reda könne ihn mit HIV infiziert haben, geht er noch in der Nacht zur Notaufnahme des Hôpital Saint-Louis, um ein vorbeugendes Medikament zu bekommen.

Danach putzt er seine Wohnung gründlich mit Chlorreiniger, und am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages schleppt er das Bettzeug zum Waschsalon, um es bei 90 Grad zu waschen.

Auf dem iPad, das Reda zurückgelassen hat, sieht Édouard, dass Henri als einziger seiner Freunde bereits wach ist. (Bei Facebook leuchtet ein grüner Punkt neben dem Namen; Henri ist also online.) Édouard schickt ihm eine Nachricht und folgt dann Henris Einladung, zu ihm zu kommen. Er berichtet Henri, was in der Nacht passierte und legt sich dann hin, um eine Weile zu schlafen.

Später trifft er sich mit seinen besten Freunden Didier und Geoffroy im Café Le Sélect zum Lunch. Die beiden drängen ihn, Reda anzuzeigen. Édouard will das nicht, zum einen, weil er kein Rassist sein möchte, zum anderen, weil er Redas Rache fürchtet. Didier argumentiert, dass Édouard nur mit einer polizeilichen Verfolgung Redas verhindern könne, dass dieser noch andere vergewaltigt. Die Freunde lassen nicht locker.

[…] ich dachte: Sie sind Reda, sie sind Reda, Reda hat dir gestern die Gewalt über deine Bewegungen geraubt, Reda hat dir eine Stunde lang jede Entscheidungsmöglichkeit geraubt, die Entscheidungen über deine Bewegungen, über deinen Körper, und sie tun nun genau dasselbe, und ebenso wie Reda flehst du sie an, dich zu verschonen. Du flehst sie an aufzuhören, aber sie hören nicht auf, sie erwürgen dich, ersticken dich, du flehst sie an aufzuhören, aber sie hören nicht auf.

Didier und Geoffroy begleiten Édouard zum Kommissariat an der Place Saint-Sulpice. Nachdem Édouard mit seiner Aussage begonnen hat, hört der Beamte zu tippen auf und erklärt, für so einen Fall sei ein anderes Kommissariat zuständig. Während Édouard mit einem Auto gefahren wird, müssen Didier und Geoffroy zu Fuß gehen. Anschließend suchen vier Experten Édouards Wohnung nach Fingerabdrücken und DNA-Spuren ab. Acht Stunden nach der Vernehmung muss sich Édouard noch einmal medizinisch untersuchen lassen, und zwar von einem Amtsarzt in einem rechtsmedizinischen Institut im Hôtel-Dieu, wo die Spuren von Gewalt nicht nur am Hals, sondern auch im After fotografiert werden.

Einige Zeit später fährt Édouard zu seiner Schwester Clara und ihrem Ehemann, die in der Provinz geblieben sind. Seit zwei Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen. Clara gab während der Schwangerschaft ihre Berufstätigkeit auf; ihr Mann arbeitet seit langem als LKW-Fahrer für eine Handelsgesellschaft und ist viel in ganz Europa unterwegs.

Édouard berichtet Clara, was passierte. Vier Tage später belauscht er sie durch eine angelehnte Tür: Sie erzählt ihrem Mann, was ihrem Bruder widerfuhr bzw. wie sie sich das vorstellt.

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Édouard Louis (Geburtsname: Eddy Bellegueule) wurde am 30. Oktober 1992 in Hallencourt in der Picardie als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren, der nach einem Arbeitsunfall keine Anstellung mehr fand. Schon früh wurde Eddy mit Armut, Alkoholmissbrauch und Rassismus konfrontirt. Weil er sich als Jugendlicher wegen seiner Homosexualität diskriminiert fühlte, zog er zunächst nach Amiens und dann nach Paris. An der École normale supérieure studierte er Soziologie. 2013 änderte er seinen Namen offiziell in Édouard Louis. Sein Debütroman „En finir avec Eddy Bellegueule“ („Das Ende von Eddy“, Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel) erschien 2014. Ebenso autobiografisch ist sein zweiter Roman: „Histoire de la violence“ (2016), dessen deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel den Titel „Im Herzen der Gewalt“ trägt.

In „Das Ende von Eddy“ erzählt Édouard Louis von seinem leidvollen Aufwachsen in der Picardie. Um eine Vergewaltigung, die tatsächlich stattgefunden haben soll, geht es in „Im Herzen der Gewalt“. Der angebliche Täter wurde kurz nach der Veröffentlichung des Romans wegen eines Drogendelikts verhaftet und anhand eines DNA-Vergleichs als der von Édouard Louis angezeigte Gewalttäter identifiziert. Der Beschuldigte stritt jedoch die Vergewaltigung ab und verklagte den Autor ebenso wie dessen Verlag wegen der Verletzung seiner Persönlich­keits­rechte.

Édouard Louis nennt den Protagonisten von „Im Herzen der Gewalt“ Édouard Bellegueule. Von seinen beiden besten Freunden erfahren wir im Roman nur die Vornamen Didier und Geoffroy, aber damit sind zweifellos der Soziologie-Professor Didier Eribon (*1953) und der Sozialphilosoph Geoffroy de Lagasnerie (*1981) gemeint. (Letzterem ist „Im Herzen der Gewalt“ gewidmet.)

Im Zentrum des Romans „Im Herzen der Gewalt“ steht ein junger Intellektueller, dessen Weltbild sich im Gefühlschaos nach seiner Vergewaltigung verschiebt. Es geht auch um Homosexualität, Angst und Machtlosigkeit. Weil es sich bei dem Täter um den Sohn eines Einwanderers aus Algerien handelt, schwingen außerdem die Themen Migration, Xenophobie und Rassismus mit.

„Im Herzen der Gewalt“ ist nicht frei von Larmoyanz. Lesenswert ist der Roman aufgrund der virtuosen Komposition. Der vergewaltigte Protagonist erzählt nur selten selbst. Meistens hören wir seine Schwester, die ihrem Mann berichtet, was sie von ihrem Bruder erfahren hat – der das Gespräch belauscht und (in Kursiv und Klammer) kommentiert. Auch andere Romanfiguren wie Didier, Geoffroy und vor allem Polizeibeamte kommen zu Wort. Dadurch wird die Chronologie aufgebrochen, und Édouard Louis kann das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln darstellen.

Dass ihn seine Freunde drängen, den Täter anzuzeigen, empfindet er beinahe ebenso wie die körperliche Vergewaltigung als Übergriff. Rasch bereut er, dass er sich überreden ließ, denn als er Reda in seiner Aussage beschreibt, fasst der Polizist zusammen „maghrebinischer Typus“, und das ist für den Beamten weniger eine Herkunftsbezeichnung als ein Synonym für „krimineller Migrant“. Als Édouards Schwester Clara ihrem Mann von den Vorfällen erzählt, durchmischt sie das, was der Bruder ihr berichtete, unwillkürlich mit persönlichen Vorurteilen. Am Ende werden Édouard nicht nur seine eigenen Erlebnisse fremd, sondern er erkennt sich kaum wieder. Er erinnert sich an Ordive, eine alte Frau, die er vor mehr als zehn Jahren kannte. Sie erfand Gerüchte, und obwohl jeder wusste, dass die Geschichten nicht den Tatsachen entsprachen, erzählten alle sie weiter und verfälschten sie dabei noch stärker.

Die verschachtelte Mehrstimmigkeit und die verfälschende Nacherzählung spiegeln sich in Formulierungen wie zum Beispiel:

Und dann erzählte mir Reda, sein Vater habe ihm erzählt […]

[…] und in der Form, die sie [die Polizisten] meinem Bericht aufzwangen, erkannte ich das Erlebte nicht wieder, ich verlor die Orientierung.

Clara lauschte meinen Spekulationen und fügte eigene hinzu.

Édouard Louis hält sich dabei auch nicht an Grammatikregeln, sondern schreibt beispielsweise:

Er sagt zu mir Ich fühl mich alt.

Sie sagt, als ich dreizehn, vierzehn war, sind wir dann vom Rathausplatz zur Bushaltestelle gewechselt.

Clara sagt zu ihrem Mann, dass Reda mich fragte, ob ich nicht mit ihm reden wolle.

Soweit hat das Methode, aber völlig entgleist ist ein Satz wie der folgende:

Am Morgen des 25., nur wenige Stunden nach dieser Szene, ging ich zu Henri, teils zu Fuß, teils per Rad.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Angelika Klüssendorf - Das Mädchen
Obwohl es in dem Adoleszenzroman "Das Mädchen" kaum Lichtblicke gibt, wirkt die Lektüre nicht deprimierend, weil sich letztlich auch eine Selbstbefreiungs-Geschichte andeutet. Angelika Klüssendorf schreibt lakonisch-sachlich, ohne Gefühlsaufwallungen oder gar Larmoyanz, im Präsens und linear-chronologisch. Die Namenlosigkeit der Protagonistin sorgt ebenso für Distanz wie die dritte Person Singular, die allerdings die Innenperspektive nicht ganz ausschließt.
Das Mädchen