Gotthold Ephraim Lessing : Emilia Galotti

Emilia Galotti
Emilia Galotti Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen Uraufführung: Herzogliches Opernhaus,Braunschweig, 13. März 1772 Anaconda Verlag, Köln 2006 ISBN: 978-3-86647-053-8, 79 Seiten Anmerkungen: Jan-Dirk Müller Reclam Verlag, Stuttgart 2015 ISBN 978-3-15-000045-8, 102 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Prinz Hettore Gonzaga, der absolutistische Herrscher von Guastalla, möchte die schöne Obristentochter Emilia Galotti zu seiner Geliebten machen. Als er von ihrer unmittelbar bevorstehenden Hochzeit mit Graf Appiani erfährt, gibt er seinem Kammerherrn freie Hand, dies zu verhindern. Marinelli versucht es zunächst mit einer List, doch als er damit scheitert, lässt er die Braut auf dem Weg zur Trauung rauben ...
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Kritik

Galotti und Appiani stehen dem absolutistischen Herrscher zwar kritisch gegenüber, unternehmen jedoch nichts gegen ihn. Statt den Tyrannen zu ermorden, opfert der Vater seine Tochter, deren Leben er für weniger wichtig hält als die Familienehre.
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Seit Prinz Hettore Gonzaga, der absolutistische Herrscher von Guastalla, die schöne Obristentochter Emilia Galotti gesehen hat, will er sie zu seiner Geliebten machen. Seiner Mätresse, der Gräfin Orsina, ist er ohnehin überdrüssig. (Dass er aus politischen Gründen beabsichtigt, sich mit der Prinzessin von Massa zu vermählen, hat mit seinen Gefühlen nichts zu tun.) Von seinem Kammerherrn, dem Marchese Marinelli, erfährt der Prinz jedoch, dass Graf Appiani beabsichtigt, Emilia Galotti am Nachmittag in aller Stille auf dem Landgut von Oberst Odoardo Galotti bei Sabionetta zu heiraten und dann mit ihr zusammen Guastalla zu verlassen. Verzweifelt gesteht der Herrscher dem Kammerherrn seine Leidenschaft für Emilia Galotti. Der ist sofort bereit, etwas gegen die geplante Eheschließung zu unternehmen.

Marinelli: Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?
Der Prinz: Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann. (Seite 529)

Der intrigante Kammerherr schlägt vor, den Grafen Appiani auf der Stelle als Sondergesandten zum Herzog von Massa zu schicken und geht los, um den Auftrag zu überbringen.

Während Emilia Galotti an diesem Morgen in der Messe ist, erzählt die Mutter dem Vater stolz, dass der Prinz sich bei einer Abendgesellschaft im Haus des Kanzlers Grimaldi mit Emilia unterhalten habe.

Claudia: […] hab ich dir schon gesagt, dass der Prinz unsere Tochter gesehen hat?
Odoardo: Der Prinz? Und wo das?
Claudia: In der letzten Vegghia, bei dem Kanzler Grimaldi, die er mit seiner Gegenwart beehrte. Er bezeigte sich gegen sie so gnädig – –
Odoardo: So gnädig?
Claudia: Er unterhielt sich mit ihr so lange – –
Odoardo: Unterhielt sich mit ihr?
Claudia: Schien von ihrer Munterkeit und ihrem Witze so bezaubert – –
Odoardo: So bezaubert? –
Claudia: Hat von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen – –
Odoardo: Lobeserhebungen? Und das alles erzählst du mir in einem Tone der Entzückung? O Claudia! eitle, törichte Mutter!
Claudia: Wieso?
Odoardo: Nun gut, nun gut! Auch das ist so abgelaufen. – Ha! wenn ich mir einbilde – Das gerade wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin! – Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. – Claudia! Claudia! der bloße Gedanke setzt mich in Wut. – Du hättest mir das sogleich sollen gemeldet haben. (Seite 536f)

Emilia Galotti kommt verstört nach Hause und berichtet ihrer Mutter aufgeregt, der Prinz habe sie in der Kirche angesprochen.

[…] so hört‘ ich, ganz nah an meinem Ohre – nach einem tiefen Seufzer – nicht den Namen einer Heiligen – den Namen – zürnen Sie nicht, meine Mutter – den Namen Ihrer Tochter! – Meinen Namen! – O dass laute Donner mich verhindert hätten, mehr zu hören! – Es sprach von Schönheit, von Liebe – Es klagte, dass dieser Tag, welcher mein Glück mache – wenn er es anders mache – sein Unglück auf immer entscheide. – Es beschwor mich – hören musst‘ ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. (Seite 539)

Weil der Prinz an nichts anderes als an Emilia Galotti denken kann, vernachlässigt er die Staatsgeschäfte und hört kaum zu, als Camillo Rota, einer seiner Räte, zur täglichen Besprechung erscheint.

Der Prinz: […] Etwas zu unterschreiben?
Camillo Rota: Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben.
Der Prinz: Recht gern. – Nur her! geschwind.
Camillo Rota (stutzig und den Prinzen starr ansehend): Ein Todesurteil – sagt‘ ich.
Der Prinz: Ich höre ja wohl. – Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig.
Camillo Rota (seine Schriften nachsehend): Nun hab ich es doch wohl nicht mitgenommen! – – Verzeihen Sie, gnädiger Herr. – Es kann Anstand damit haben bis morgen.
Der Prinz: Auch das! – Packen Sie nur zusammen; ich muss fort – Morgen, Rota, ein Mehres! (Geht ab.)
Camillo Rota (den Kopf schüttelnd, indem er die Papiere zu sich nimmt und abgeht): Recht gern? – Ein Todesurteil recht gern? – Ich hätt‘ es ihn in diesem Augenblicke nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte. – Recht gern! Recht gern! – Es geht mir durch die Seele dieses grässliche Recht gern! (Seite 530f)

Marinelli findet Appiani im Haus der Familie Galotti und eröffnet ihm, dass der Prinz ihn auserwählt habe, als Bevollmächtigter nach Massa zu reisen. Der Graf fühlt sich geehrt.

Marinelli: […] Die Gnade des Prinzen, die Ihnen angetragene Ehre, bleiben, was sie sind: und ich zweifle nicht, Sie werden sie mit Begierd‘ ergreifen.
Appiani (nach einiger Überlegung): Allerdings.
Marinelli: Nun so kommen Sie.
Appiani: Wohin?
Marinelli: Nach Dosalo, zu dem Prinzen. – Es liegt schon alles fertig; und Sie müssen noch heut abreisen.
Appiani: Was sagen Sie? – Noch heute?
Marinelli: Lieber noch in dieser nämlichen Stunde als in der folgenden. Die Sache ist von der äußersten Eil‘.
Appiani: In Wahrheit? – So tut es mir leid, daß ich die Ehre, welche mir der Prinz zugedacht, verbitten muss.
Marinelli: Wie?
Appiani: Ich kann heute nicht abreisen – auch morgen nicht – auch übermorgen noch nicht. –
Marinelli: Sie scherzen, Herr Graf.
Appiani: Mit Ihnen?
Marinelli: Unvergleichlich! Wenn der Scherz dem Prinzen gilt, so ist er um so viel lustiger. – Sie können nicht?
Appiani: Nein, mein Herr, nein. –– Und ich hoffe, dass der Prinz selbst meine Entschuldigung wird gelten lassen.
Marinelli: Die bin ich begierig zu hören.
Appiani: Oh, eine Kleinigkeit! – Sehen Sie; ich soll noch heut eine Frau nehmen.
Marinelli: Nun? und dann?
Appiani: Und dann? – und dann? – Ihre Frage ist auch verzweifelt naiv.
Marinelli: Man hat Exempel, Herr Graf, dass sich Hochzeiten aufschieben lassen. – Ich glaube freilich nicht, dass der Braut oder dem Bräutigam immer damit gedient ist. Die Sache mag ihr Unangenehmes haben. Aber doch, dächt‘ ich, der Befehl des Herrn –
Appiani: Der Befehl des Herrn? – des Herrn? Ein Herr, den man sich selber wählt, ist unser Herr so eigentlich nicht – Ich gebe zu, dass Sie dem Prinzen unbedingtem Gehorsam schuldig wären. Aber nicht ich. – Ich kam an seinen Hof als ein Freiwilliger. Ich wollte die Ehre haben, ihm zu dienen, aber nicht sein Sklave werden. Ich bin der Vasall eines größern Herrn – (Seite 546f)

Als Marinelli merkt, dass er Appiani nicht dazu bewegen kann, die Hochzeit zu verschieben, provoziert er einen Streit mit ihm und fordert ihn zum Duell. Wider Erwarten ist Graf Appiani bereit, es noch vor der Hochzeit auszutragen, aber Marinelli vertröstet ihn auf später. – In seinem Bericht an den Prinzen stellt er das allerdings anders dar:

Marinelli: Umsonst; er schlug die angetragene Ehre mit der größten Verachtung aus.
Der Prinz: Und so bleibt es dabei? So geht es vor sich? so wird Emilia noch heute die Seinige?
Marinelli: Allem Ansehen nach.
Der Prinz: Ich versprach mir von Ihrem Einfalle so viel! – Wer weiß, wie albern Sie sich dabei genommen. – Wenn der Rat eines Toren einmal gut ist, so muß ihn ein gescheiter Mann ausführen. Das hätt‘ ich bedenken sollen.
Marinelli: Da find ich mich schön belohnt!
Der Prinz: Und wofür belohnt?
Marinelli: Dass ich noch mein Leben darüber in die Schanze schlagen wollte. – Als ich sah, dass weder Ernst noch Spott den Grafen bewegen konnte, seine Liebe der Ehre nachzusetzen, versucht‘ ich es, ihn in Harnisch zu jagen. Ich sagte ihm Dinge, über die er sich vergaß. Er stieß Beleidigungen gegen mich aus, und ich forderte Genugtuung – und forderte sie gleich auf der Stelle. – Ich dachte so: entweder er mich oder ich ihn. Ich ihn: so ist das Feld ganz unser. Oder er mich: nun, wenn auch; so muss er fliehen, und der Prinz gewinnt wenigstens Zeit.
Der Prinz: Das hätten Sie getan, Marinelli?
Marinelli: Ha! man sollt‘ es voraus wissen, wenn man so töricht bereit ist, sich für die Großen aufzuopfern – man sollt‘ es voraus wissen, wie erkenntlich sie sein würden –
Der Prinz: Und der Graf? – Er stehet in dem Rufe, sich so etwas nicht zweimal sagen zu lassen.
Marinelli: […] Er versetzte, dass er auf heute doch noch etwas Wichtigers zu tun habe, als sich mit mir den Hals zu brechen. Und so beschied er mich auf die ersten acht Tage nach der Hochzeit. (Seite 549f)

Der Prinz ahnt nicht, dass Marinelli sich noch vor seiner Unterredung mit Appiani mit einem Mörder in Verbindung gesetzt hatte. Angelo – so heißt der Verbrecher – drohte daraufhin Pirro, einem Bediensteten der Familie Galotti, dessen Beteiligung an einem Raubüberfall aufzudecken und erpresste ihn auf diese Weise, ihm zu verraten, wann und wie Emilia Galotti zur Trauung fahren würde. Während Marinelli dem Prinzen im Lustschloss Dosalo vormacht, er habe sein Leben für ihn aufs Spiel gesetzt, ist ein Schuss zu hören. Erst jetzt verrät Marinelli, dass die Equipage des Grafen Appiani überfallen wird:

Die Ausführung ist Leuten anvertrauet, auf die ich mich verlassen kann. Der Weg geht hart an der Planke des Tiergartens vorbei. Da wird ein Teil den Wagen angefallen haben; gleichsam, um ihn zu plündern. Und ein anderer Teil, wobei einer von meinen Bedienten ist, wird aus dem Tiergarten gestürzt sein; den Angefallenen gleichsam zur Hülfe. Während des Handgemenges, in das beide Teile zum Schein geraten, soll mein Bedienter Emilien ergreifen, als ob er sie retten wolle, und durch den Tiergarten in das Schloss bringen. – So ist die Abrede. – Was sagen Sie nun, Prinz? (Seite 551)

Kurz darauf kommt Angelo und berichtet Marinelli, dass sein Komplize Nicolo bei dem vorgetäuschten Raubüberfall von Appiani erschossen wurde und er daraufhin den Grafen tötete.

Marinellis Vertrauensmann Battista bringt Emilia Galotti auftragsgemäß in das Lustschloss Dosalo. Dort taucht wenig später ihre Mutter auf und ruft nach ihr. Als sie Marinelli sieht, erinnert sie sich an seinen Streit mit Appiani und an die letzten Worte des Grafen:

Claudia: […] Sie waren es ja – nicht? – der den Grafen diesen Morgen in meinem Hause aufsuchte? mit dem ich ihn allein ließ? mit dem er Streit bekam?
Marinelli: Streit? – Was ich nicht wüsste: ein unbedeutender Wortwechsel in herrschaftlichen Angelegenheiten –
Claudia: Und Marinelli heißen Sie?
Marinelli: Marchese Marinelli.
Claudia: So ist es richtig. – Hören Sie doch, Herr Marchese. – Marinelli war – der Name Marinelli war – begleitet mit einer Verwünschung – Nein, dass ich den edeln Mann nicht verleumde! – begleitet mit keiner Verwünschung – Die Verwünschung denk ich hinzu – Der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen.
[…]
Marinelli: Nun, gnädige Frau? – Ich war von jeher des Grafen Freund; sein vertrautester Freund. Also, wenn er mich noch im Sterben nannte –
Claudia: Mit dem Tone? – Ich kann ihn nicht nachmachen; ich kann ihn nicht beschreiben: aber er enthielt alles! alles! – Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? – Mörder waren es; erkaufte Mörder! – Und Marinelli, Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! Mit einem Tone!
Marinelli: Mit einem Tone? – Ist es erhört, auf einen Ton, in einem Augenblicke des Schreckens vernommen, die Anklage eines rechtschaffnen Mannes zu gründen? (Seite 559f)

Als Claudia Galotti erfährt, dass sie sich in einem Schloss des Prinzen befindet, ahnt sie die Zusammenhänge:

Es ist klar! – Ist es nicht? – Heute im Tempel! vor den Augen der Allerreinesten! in der nähern Gegenwart des Ewigen! – begann das Bubenstück, da brach es aus! (Gegen den Marinelli.) Ha, Mörder! feiger, elender Mörder! Nicht tapfer genug, mit eigner Hand zu morden, aber nichtswürdig genug, zu Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! – morden zu lassen! – Abschaum aller Mörder! – Was ehrliche Mörder sind, werden dich unter sich nicht dulden! Dich! Dich! – Denn warum soll ich dir nicht alle meine Galle, allen meinen Geifer mit einem einzigen Worte ins Gesicht speien? – Dich! Dich Kuppler! (Seite 561)

Marinelli versucht, sie zu beruhigen und führt sie zu Emilia.

Der Prinz missbilligt Marinellis Vorgehen, nicht wegen des Verbrechens, sondern weil der Verdacht auf ihn fallen wird. Der Kammerherr verteidigt sich: Wenn der Prinz nicht in der Kirche sein Interesse an Emilia Galotti offenbart hätte, würde ihn jetzt niemand mit dem Überfall in Verbindung bringen:

Da ich die Sache übernahm, nicht wahr, da wusste Emilia von der Liebe des Prinzen noch nichts? Emiliens Mutter noch weniger. Wenn ich nun auf diesen Umstand baute? und der Prinz indes den Grund meines Gebäudes untergrub? (Seite 565)

In diesem unpassenden Augenblick wird die Gräfin Orsina gemeldet. Der Prinz gibt vor, keine Zeit für sie zu haben, aber die kluge Gräfin begreift, dass er sie nicht mehr liebt:

Ist es wohl noch Wunder, dass mich der Prinz verachtet? Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das, ihm zum Trotze, auch denken will? Ein Frauenzimmer, das denkt, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminket. Lachen soll es, nichts als lachen, um immerdar den gestrengen Herrn der Schöpfung bei guter Laune zu erhalten. (Seite 569)

Als Gräfin Orsina von Marinelli erfährt, dass der angeblich bei einem Raubüberfall erschossene Graf Appiani auf dem Weg zur Hochzeit mit Emilia Galotti war, durchschaut sie das Mordkomplott, denn sie weiß, dass die junge Frau am Morgen in der Kirche vom Prinzen belästigt worden war.

Orsina: Der Prinz ist ein Mörder!
Marinelli: Gräfin – Gräfin – sind Sie ganz von Sinnen?
Orsina: Von Sinnen? Ha! ha! ha! (Aus vollem Halse lachend.) Ich bin selten oder nie mit meinem Verstande so wohl zufrieden gewesen als eben itzt. – Zuverlässig, Marinelli – aber es bleibt unter uns – (leise) der Prinz ist ein Mörder! des Grafen Appiani Mörder! – Den haben nicht Räuber, den haben Helfershelfer des Prinzen, den hat der Prinz umgebracht! (Seite 573)

Auf der Suche nach seiner Tochter kommt auch Odoardo Galotti ins Schloss. Während Marinelli geht, um ihn beim Prinzen anzumelden, bleibt Gräfin Orsina mit ihm allein. Diesen Umstand nutzt sie, um Galotti dazu anzustacheln, den Prinzen zu töten. Damit will sie sich dafür rächen, dass er sie fallen ließ.

Orsina: Nun da, buchstabieren Sie es zusammen! – Des Morgens sprach der Prinz Ihre Tochter in der Messe, des Nachmittags hat er sie auf seinem Lust- – Lustschlosse.
Odoardo: Sprach sie in der Messe? Der Prinz meine Tochter?
Orsina: Mit einer Vertraulichkeit! mit einer Inbrunst! – Sie hatten nichts Kleines abzureden. Und recht gut, wenn es abgeredet worden, recht gut, wenn Ihre Tochter freiwillig sich hierher gerettet! Sehen Sie: so ist es doch keine gewaltsame Entführung, sondern bloß ein kleiner – kleiner Meuchelmord.
Odoardo: Verleumdung! verdammte Verleumdung! Ich kenne meine Tochter. Ist es Meuchelmord, so ist es auch Entführung. – (Blickt wild um sich und stampft und schäumet.) Nun, Claudia? Nun, Mütterchen? – Haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen! O der ganz besondern Ehre!
Orsina: Wirkt es, Alter! wirkt es?
Odoardo: Da steh ich nun vor der Höhle des Räubers – (indem er den Rock von beiden Seiten auseinanderschlägt und sich ohne Gewehr sieht.) Wunder, dass ich aus Eilfertigkeit nicht auch die Hände zurückgelassen! – (An alle Schubsäcke fühlend, als etwas suchend.) Nichts! gar nichts! nirgends!
Orsina: Ha, ich verstehe! – Damit kann ich aushelfen! – Ich hab einen mitgebracht. (Einen Dolch hervorziehend.) Da nehmen Sie! Nehmen Sie geschwind, eh‘ uns jemand sieht! – Auch hätte ich noch etwas – Gift. Aber Gift ist nur für uns Weiber, nicht für Männer. – Nehmen Sie ihn! (Ihm den Dolch aufdrängend.) Nehmen Sie! (Seite 576f)

Als die Gräfin Orsina sich verabschiedet, bittet Odoardo Galotti sie, seine Frau mit in die Stadt zu nehmen. Er werde mit Emilia nachkommen. Dann erklärt er dem Prinzen im Beisein Marinellis, er werde Emilia unverzüglich in ein Kloster bringen. Aber er hat nicht mit der Durchtriebenheit seiner Gesprächspartner gerechnet:

Marinelli: Es geht mir nahe, der Gnade meines Fürsten in den Weg zu treten. Doch wenn die Freundschaft gebietet, vor allem in ihm den Richter aufzufordern –
Der Prinz: Welche Freundschaft? –
Marinelli: Sie wissen, gnädiger Herr, wie sehr ich den Grafen Appiani liebte, wie sehr unser beider Seelen ineinander verwebt schienen –
Odoardo: Das wissen Sie, Prinz? So wissen Sie es wahrlich allein.
Marinelli: Von ihm selbst zu seinem Rächer bestellet –
Odoardo: Sie?
Marinelli: Fragen Sie nur Ihre Gemahlin. Marinelli, der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen, und in einem Tone! in einem Tone! – Dass er mir nie aus dem Gehöre komme, dieser schreckliche Ton, wenn ich nicht alles anwende, dass seine Mörder entdeckt und bestraft werden!
Der Prinz: Rechnen Sie auf meine kräftigste Mitwirkung.
Odoardo: Und meine heißesten Wünsche! – Gut, gut! – Aber was weiter?
Der Prinz: Das frag ich, Marinelli:
Marinelli: Man hat Verdacht, dass es nicht Räuber gewesen, welche den Grafen angefallen.
Odoardo (höhnisch). Nicht? Wirklich nicht?
Marinelli: Dass ein Nebenbuhler ihn aus dem Wege räumen lassen.
Odoardo (bitter). Ei! Ein Nebenbuhler?
Marinelli: Nicht anders.
Odoardo: Nun dann – Gott verdamm‘ ihn, den meuchelmörderischen Buben!
Marinelli: Ein Nebenbuhler, und ein begünstigter Nebenbuhler –
Odoardo: Was? ein begünstigter? – Was sagen Sie?
Marinelli: Nichts, als was das Gerüchte verbreitet.
Odoardo: Ein begünstigter? von meiner Tochter begünstiget?
Marinelli: Das ist gewiss nicht. Das kann nicht sein. Dem widersprech ich, trotz Ihnen. – Aber bei dem allen, gnädiger Herr – denn das gegründetste Vorurteil wieget auf der Waage der Gerechtigkeit soviel als nichts – bei dem allen wird man doch nicht umhin können, die schöne Unglückliche darüber zu vernehmen.
Der Prinz: Jawohl, allerdings.
Marinelli: Und wo anders? wo kann das anders geschehen als in Guastalla?
Der Prinz: Da haben Sie recht, Marinelli, da haben Sie recht. – Ja so, das verändert die Sache, lieber Galotti. Nicht wahr? Sie sehen selbst –
Odoardo: O ja, ich sehe – Ich sehe, was ich sehe. – Gott! Gott! (Seite 585f)

Um den angeblichen Verdacht gegen Emilia Galotti auszuräumen, soll sie für die Dauer der Untersuchung in das Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werden. Der Vater darf sich jedoch noch von seiner Tochter verabschieden. Unter vier Augen gesteht Odoardo Galotti seiner Tochter, er habe mit dem Gedanken gespielt, den Prinzen und seinen Kammerherrn zu erdolchen. Die verzweifelte junge Frau bittet ihren Vater um den Dolch, aber er versucht, sie zu beruhigen.

Odoardo: Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. – Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.
Emilia: Und nur eine Unschuld!
Odoardo: Die über alle Gewalt erhaben ist. –
Emilia: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. (Seite 590)

Mit der Andeutung, der Verführung durch den Prinzen möglicherweise nicht standhalten zu können, bringt Emilia Galotti ihren Vater dazu, sie zu erstechen. Sie stirbt in seinen Armen, als der Prinz und Marinelli wieder hereinkommen.

Der Prinz: Grausamer Vater, was haben Sie getan!
Odoardo: Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – War es nicht so, meine Tochter?
Emilia: Nicht Sie, mein Vater – Ich selbst – ich selbst –
Odoardo: Nicht du, meine Tochter – nicht du! – Gehe mit keiner Unwahrheit aus der Welt. Nicht du, meine Tochter! Dein Vater, dein unglücklicher Vater!
Emilia: Ah – mein Vater – (Sie stirbt, und er legt sie sanft auf den Boden.) (Seite 592)

Odoardo Galotti wirft den Dolch weg und unterwirft sich der Gerichtsbarkeit des Prinzen.

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Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius (um 59 v. Chr. – um 17 n. Chr.) gibt in seinem 142-bändigen Hauptwerk „Vom Ursprung der Stadt“ („Ab urbe condita“) folgende Legende wieder:

Virginia, die schöne und tugendsame Tochter des plebejischen Römers Lucius Virginius, ist mit dem ehemaligen Volkstribun Lucius Icilius verlobt. Eines Tages fällt die Fünfzehnjährige dem Decemvir Appius Claudius Crassinus auf, und er will sie zu seiner Geliebten machten. (Beim Decemviri Stlitibus Iudicandis handelte es sich um ein römisches Schwurgericht für Zivilsachen.) Weil Virginia ihn zurückweist, bringt der Decemvir einen Mann namens Marcus Claudius dazu, sie als Sklavin auszugeben. Marcus Claudius behauptet auf dem Marktplatz, Virginia sei ihren Eltern untergeschoben worden und in Wirklichkeit die Tochter einer seiner Sklavinnen. Das will er vor Gericht beweisen. Niemand anderes als Appius Claudius Crassinus spricht das Urteil – und gibt dem Kläger Recht. Lucius Virginius, der die Intrige durchschaut, ersticht seine Tochter, um sie vor der Schande zu bewahren. Daraufhin zwingt ein Volksaufstand die Decemviri zum Rücktritt. Appius Claudius Crassinus wird eingesperrt und verübt im Gefängnis Selbstmord.

Die römische Legende inspirierte Gotthold Ephraim Lessing zu dem bürgerlichen Trauerspiel „Emilia Galotti“. Allerdings führt die Schandtat des Herrschers bei Lessing nicht wie bei Livius zu einem Volksaufstand. Oberst Odoardo Galotti und Graf Appiani stehen dem wollüstigen Prinzen Hettore Gonzaga zwar kritisch gegenüber, aber sie unternehmen nichts gegen ihn, sondern ziehen sich in ihren privaten Bereich zurück (innere Emigration). Die von Gotthold Ephraim Lessing in „Emilia Galotti“ angeprangerte absolutistische Willkürherrschaft spiegelt sich im Familienpatriarchat: Odoardo Galotti entscheidet über das Wohl und Wehe seiner Angehörigen. Dabei hält er die Ehre, Moral und Tugend der Familie für wichtiger als das Leben seiner Tochter, und statt den Tyrannen zu ermorden, opfert er Emilia. Mit dieser Haltung erweist er sich als Repräsentant einer noch nicht von der Aufklärung erfassten Gesellschaft. Moral und Tugend sind allerdings auch Werte, mit denen sich das Bürgertum am Vorabend der Französischen Revolution vom aristokratischen Lotterleben abgrenzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unehelich schwanger gewordene Töchter im abendländischen Kulturkreis zwar nicht mehr von ihrem Vater ermordet, aber in der Regel dazu gezwungen, das Neugeborene zur Adoption freizugeben. Die sexuelle Revolution führte in den Siebzigerjahren dazu, dass eine uneheliche Geburt nicht mehr als Schande angesehen wurde. Einige Zeit später hörte man jedoch auch in Deutschland wieder von Mädchen, die vom Bruder oder Vater umgebracht worden waren, weil sie mit ihrer Lebensart angeblich die Familienehre beschmutzt hatten. Durch diese „Ehrenmorde“ wurde die von Lessing in „Emilia Galotti“ dargestellte archaische Auffassung von der Familienehre erschreckend aktuell.

Das Drama „Emilia Galotti“ wurde von Gotthold Ephraim Lessing in Prosa verfasst und in fünf Aufzüge gegliedert.

Bei der Uraufführung von „Emilia Galotti“ am 13. März 1772 im Herzoglichen Opernhaus in Braunschweig aus Anlass des Geburtstages der Herzogin Phillipine Charlotte (1716 – 1801) war Lessing nicht zugegen.

Das Stück wurde mehrmals verfilmt, zum Beispiel von Martin Hellberg (1958, Titelrolle: Karin Hübner), Ernst Ginsberg (1960, Miriam Spoerri), Kurt Jung-Alsen (1967, Angelica Domröse), Ludwig Cremer (1970, Sabine Sinjen), Henrik Pfeifer (2005, Ivonne Schönherr).

Originaltitel: Emilia Galotti – Regie: Martin Hellberg – Drehbuch: Martin Hellberg, nach dem Trauerspiel „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing – Kamera: Günter Eisinger – Schnitt: Lieselotte Johl – Musik: Ernst Roters – Darsteller: Karin Hübner, Hans-Peter Thielen, Gisela Uhlen, E.O. Fuhrmann, Gerhard Bienert, Maly Delschaft, Horst Schulze, Gerry Wolff, Karl-Heinz Peters, Alexander Papendiek, Eduard von Winterstein, Karin Fredersdorf, Adolf Peter Hoffmann, Marianne Wünscher u.a. – 1958; 100 Minuten

Originaltitel: Emilia – Regie: Henrik Pfeifer – Drehbuch: Henrik Pfeifer, nach dem Trauerspiel „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing– Kamera: Oliver Kolb – Schnitt: Matthias Constantini – Musik: Ramon Creutzer – Darsteller: Ivonne Schönherr, Felix Lampe, Pascal Ulli, Thorsten Grasshoff, Ulrike Frank, Daniela Zähl, Matthias Dittmer, Wulf Mey, Leonardo Nigro, Tyron Ricketts, Mario Pokatzky u.a. – 2005; 85 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Seitenangaben beziehen sich auf Bibliothek deutscher Klassiker,
Band 2, Hg.: Herbert G. Göpfert, Carl Hanser Verlag, München 1982

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