Siegfried Lenz : Das serbische Mädchen

Das serbische Mädchen
Das serbische Mädchen Erstausgabe: Hoffmann und Campe, Hamburg 1987
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Das serbische Mädchen
Der Redenschreiber
Zum Vorzugspreis
Die Kunstradfahrer
mehr erfahren

Kritik

Unter dem Titel "Das serbische Mädchen" legt Siegfried Lenz Erzählungen vor, die von leisen Tönen, feinem Humor und leichter Ironie geprägt sind.

mehr erfahren

Das serbische Mädchen

Mit achtzehn läuft Dobrica von zu Hause fort. Weil sie keine Papiere hat, lässt sie sich von einem Lkw-Fahrer unter einer Ladung Felle verstecken und gelangt so nach Österreich. Dort leistet sie sich eine Zugfahrkarte. An der Grenze zu Deutschland wird sie aufgegriffen, aber bei einem unerwarteten Halt des Zuges auf freier Strecke gelingt es ihr, dem Beamten zu entkommen.

Schließlich trifft sie in Hamburg ein, fährt mit der S-Bahn nach Bahrenfeld und fragt sich zur Adresse Achims durch, den sie vor einigen Monaten kennen lernte, als er Urlaub in Jugoslawien machte.

Achims Mutter hörte zum ersten Mal die Geschichte des letzten Sommers: also von der Panne und der Hilfe und der Wiederbegegnung am Strand und von den wilden Bienen und ihren Stichen und von der Salbe, die Achim half. Auch von einem Fest erfuhr sie und von einem Inselausflug und einem Versprechen — was allerdings die abgebrochene Löffelschale besagte, die das Versprechen besiegelt haben sollte, das verstand die Frau nicht.

Achim ist bei seinen Eltern ausgezogen und wohnt nun in einem Hochhaus. Mit der Abendschule hat er aufgehört, weil er morgens früh aufstehen und für seinen Arbeitgeber mit einem Lieferwagen zum Blumenmarkt fahren muss.

Dobrica sucht ihn auf und ist enttäuscht, als sie merkt, dass er kurz überlegen muss, wer sie ist.

Als sie den Augenblick für gekommen hielt, fischte sie aus ihrem Ledertäschchen die abgebrochene Löffelschale heraus, legte sie lautlos auf den Tisch und beschwor durch diese Geste sogleich jenen Abend am Strand, an dem Achim, nachdem er das Geschirr im Meer abgewaschen hatte, plötzlich einen Aluminiumlöffel zerbrach, ihr die Schale gab und selbst den Stiel behielt und dazu etwas sagte, das sie nicht verstand, nicht zu verstehen brauchte, da sie längst begriffen hatte, was gemeint war und für immer gelten sollte.

Achim durchwühlt seine Schubladen, aber den Löffelstiel findet er nicht.

Offenbar will er es vermeiden, mit ihr allein zu sein, denn er nimmt sie mit zu Freunden, will dort „immer nur noch das letzte Glas austrinken“ und schleppt sie auf dem Heimweg noch in ein Nonstopkino, in dem Ingmar Bergmans Film „Wilde Erdbeeren“ läuft.

Am frühen Morgen, bevor Achim erwacht, steht Dobrica auf und geht, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Sie hat beschlossen, in die Heimat zurückzukehren. Aber ihre Zuversicht und ihren Lebensmut verliert sie nicht.

In einem Lkw wird sie nach München mitgenommen. Im Münchner Hauptbahnhof spricht sie zwei Landsleute an, die an einem Stehtisch Bier trinken. Zu fünft fahren sie schließlich in einem Auto los. Nach Österreich schmuggeln die Männer Dobrica im Kofferraum. Drei von ihnen machen sich dann mit ihr zu Fuß auf den Weg über die Grenze nach Jugoslawien. Auch Dobrica bekommt einen Rucksack umgeschnallt. Sie soll das letzte Stück allein gehen. Zwei Grenzbeamte greifen sie auf. Möglicherweise hatten es die Männer darauf angelegt, dass dieses gutgläubige Mädchen die Aufmerksamkeit der Grenzposten auf sich lenken würde.

In Dobricas Rucksack finden die Beamten Medizinschachteln und einige Stangen amerikanischer Zigaretten. Jetzt wartet sie im Gefängnis auf das Gerichtsverfahren. Ihren Optimismus hat sie nicht verloren, aber sie wird bald erwachsen sein.

Der Redenschreiber

Der Redenschreiber Gert Lassner fährt mit seiner Frau Maren, den Kindern Franz und Corinna sowie dem Labrador Bolzo für ein verlängertes Wochenende ins Sommerhaus des Referenten Dolenga, um dort eine Rede über den deutschen Nationalcharakter für den Minister zu schreiben.

Sie baden im See, das Mädchen versteckt sich in einer verfallenen Hütte, der Hund scheucht einen Otter auf, Gert Lassner erzählt Corinna vor dem Einschlafen Geschichten, trinkt Rotwein — aber mit dem Schreiben klappt es nicht.

Am zweiten Abend fährt er spontan mit seiner Familie wieder nach Hause, um dort endlich mit dem Ausarbeiten der Rede anzufangen.

Zum Vorzugspreis

Henry und Nelly sind seit 30 Jahren verheiratet. Er rupft gerade Tauben, als Nelly ihm eine Bluse zeigt, die sie für 59.80 DM kaufte. Da lässt er die restlichen Tauben erst einmal liegen, geht mit ihr ohne weitere Erklärungen ins Kaufhaus und verlangt den Chef, Herrn Kurtz.

Mensch, Henry, sagte er aufgeräumt, endlich machst du’s mal wahr, und das ist deine Frau, wenn ich nicht irre. Dass der Chef sie schon beim Eintritt bemerkte hatte, waren sie nicht gewahr geworden, er begrüßte sie mit einwandfreier Überraschung, hielt Ausschau nach einem stilleren Winkel, wo man der Wiedersehensfreude nachgeben könnte, fand aber augenscheinlich nichts und legte dem kleinen Mann eine Hand auf die Schulter — mit einem Ausdruck von Versonnenheit, der die Frau erstaunte.

Nach einer Weile tut er so, als entdecke er die Kaufhaustüte mit der Bluse, nimmt sie und geht damit zur Kasse. Kaum ist er weg, fragt Nelly ihren Mann: „Woher, Henry, woher kennt ihr euch?“ Herr Kurtz kommt zurück, reicht Nelly die Tüte und gibt ihrem Mann den neuen Bon über 37.10 DM und etwas Geld.

Erst auf dem Heimweg beantwortet Henry die Fragen seiner Frau. Er war bei Kriegsende wegen Befehlsverweigerung in einem Wehrmachtsgefängnis. Als das alte Schiff sank, mit dem die Häftlinge aus dem Osten geholt wurden, konnten sich die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder retten, darunter auch Henry. Kurtz, der zur Wachmannschaft gehörte, hob den Karabiner und zielte auf den Flüchtenden; Henry hörte den Schlagbolzen, aber keinen Schuss. Er entkam. Als sich die beiden Männer vor fünf Jahren wieder trafen, bot Kurtz dem ehemaligen Häftling an, er könne in seinem Kaufhaus zu Vorzugspreisen einkaufen.

Die Kunstradfahrer

Kalli beobachtet in einer verlassenen Fabrik die beiden Kunstradfahrer Wim und Paul beim Üben. Das imponiert ihm so, dass er sich von seinem Vater ein erstes Fahrrad erbettelt, das Radfahren erlernt und heimlich Kunststücke übt. Sein Ziel ist es, freihändig auf dem Sattel stehen zu können.

Immer wieder stürzt er und muss von der Mutter verpflastert werden. Bis es dem Vater zu viel wird und dieser das Fahrrad im Schuppen wegschließt.

Jeder weiß, dass ein Kunstradfahrer sein Training nicht unterbrechen darf, weil man zu schnell aus der Übung kommt und auch die Kommandos vergisst. Darum konnte Kalli es sich gar nicht leisten, mit dem Üben aufzuhören.

Auf der Suche nach einem Fahrrad beobachtet Kalli, dass die Gemeindeschwester jeden Nachmittag zur gleichen Zeit zu dem kranken Kapitän fährt und dort zwei Stunden bleibt.

Kalli glaubte, dass Gemeindeschwestern nicht allzuviel für Kunstradfahrer übrig haben, darum fragte er erst gar nicht. Er saß einfach auf und strampelte zur alten Fabrik.

Seine Mutter wundert sich, wieso er nach wie vor mit ständig neuen Schürfwunden nach Hause kommt. Jeden Nachmittag übt Kalli in der Fabrik. Schließlich ist es so weit:

Also jetzt oder nie, das große Kunststück, die Gesellenprüfung der Kunstradfahrer: der Stand auf dem Sattel mit ausgebreiteten Armen. Ein Fuß ist schon oben, noch halten die Hände die Lenkstange. Nun den anderen Fuß, behutsam, gleichmäßig, auch das ist geschafft. Das Rad gehorcht, wird langsamer. so, und jetzt aufrichten zum Stand, höher, noch höher, die Arme dürfen ruhig wackeln. Kalli steht oben, schwankend, aber er steht.

In diesem Augenblick klatschen Wim und Paul am Fabriktor Beifall. Kalli sieht nur einen Augenblick überrascht hin. Das genügt. Die Lenkstange schlägt um, das Rad rutscht weg. Im Bett kommt er wieder zu sich.

Aber nach wenigen Tagen hat er sich erholt. Wim und Paul besuchen ihn, als er seinem Vater gerade beim Wagenwaschen hilft. Sie haben ihr Reserverad dabei und nehmen ihn mit zum Üben.

Na, sagte Kallis Vater, am Sonntag kommen wir alle mal rüber.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Unter dem Titel „Das serbische Mädchen“ veröffentlichte Siegfried Lenz 1987 einige Erzählungen, die von leisen Tönen, feinem Humor und leichter Ironie geprägt sind.

Die Erzählung, die dem Buch den Titel gab, wurde von Peter Sehr 1990 verfilmt: „Das serbische Mädchen“ (Buch: Peter Sehr; Kamera: Dietrich Lohmann; Musik: Goran Bregovic; Darsteller: Mirjana Jokovic, Ben Becker, Pascal Breuer, Vladimir Torbica, Joachim Regelin u.a.; 90 Minuten).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

Siegfried Lenz (Kurzbiografie)

Siegfried Lenz: Es waren Habichte in der Luft
Siegfried Lenz: Der Mann im Strom (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Brot und Spiele
Siegfried Lenz: Das Feuerschiff (Verfilmung)
Siegfried Lenz: Deutschstunde
Siegfried Lenz: Die Phantasie
Siegfried Lenz: Fundbüro
Siegfried Lenz: Wasserwelten
Siegfried Lenz: Schweigeminute
Siegfried Lenz: Landesbühne
Siegfried Lenz: Der Überläufer

Tana French - Schattenstill
In dem Psychothriller "Schattenstill" geht es nicht nur um die Aufklärung eines Dreifach-Mordes, sondern auch um die Frage, wie es zum dem Verbrechen kam. Die konstruiert wirkende Geschichte wird von Tana French weitschweifig entwickelt.
Schattenstill