Franz Kafka : Ein Bericht für eine Akademie

Ein Bericht für eine Akademie
Erstveröffentlichung im November 1917 in der Zeitschrift "Der Jude" Buchveröffentlichung in "Ein Landarzt", 1919 Franz Kafka: Erzählungen, Seite 197ff Bibliothek des 20. Jahrhunderts, hg. von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki Stuttgart und Gütersloh o. J.
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Um nicht in einen Zoo gesperrt zu werden, verleugnet ein von Hagenbeck gefangener Affe seine Herkunft, ahmt die Menschen nach, passt sich an und lernt wie besessen. Dadurch gelingt ihm der Aufstieg; er wird in die Gesellschaft eingegliedert und schließlich sogar von einer Akademie aufgefordert, einen Bericht abzugeben. Aus diesem Vortrag besteht die Erzählung.
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Kritik

"Ein Bericht für eine Akademie" ist eine satirische, ironische und komische Erzählung von Franz Kafka.
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Ein „gewesener Affe“ tritt ans Rednerpult und berichtet einer Akademie über sein „äffisches Vorleben“.

Hohe Herren von der Akademie!
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen. (Seite 197)

Vor fünf Jahren wurde er an der Goldküste bei einer Jagdexpedition der Firma Hagenbeck von zwei Schüssen getroffen (an der Wange und unterhalb der Hüfte) und eingefangen. Im Zwischendeck eines Dampfers kam er wieder zu sich. Man hatte ihn auf so engem Raum eingesperrt, dass er sich nicht aufrichten konnte, sondern „mit eingebogenen, ewig zitternden Knien“ auf dem Boden hocken musste.

Der Affe, der bis dahin immer einen Ausweg gefunden hatte, befand sich in einer ausweglosen Lage. Ein Fluchtversuch hätte nichts gebracht.

Ich weiß nicht mehr, ob Flucht möglich war, aber ich glaube es; einem Affen sollte Flucht immer möglich sein. Mit meinen heutigen Zähnen muss ich schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken vorsichtig sein, damals aber hätte es mir wohl im Laufe der Zeit gelingen müssen, das Türschloss durchzubeißen. Ich tat es nicht. Was wäre damit auch gewonnen gewesen? Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt, wieder eingefangen und in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder ich hätte mich unbemerkt zu anderen Tieren, etwa zu den Riesenschlangen mir gegenüber flüchten können und mich in ihren Umarmungen ausgehaucht; oder es wäre mir gar gelungen, mich bis aufs Deck zu stehlen und über Bord zu springen, dann hätte ich ein Weilchen auf dem Weltmeer geschaukelt und wäre ersoffen. Verzweiflungstaten. Ich rechnete nicht so menschlich, aber unter dem Einfluss meiner Umgebung verhielt ich mich so, wie wenn ich gerechnet hätte. (Seite 203f)

Statt auszubrechen, beobachtete er das Geschehen um ihn herum, und dabei fiel ihm auf, dass die Menschen offenbar „unbehelligt“ blieben. Da erkannte er einen Ausweg. In seinem Bericht für eine Akademie betont er, dass es ihm nicht um die Freiheit ging, sondern um einen Ausweg. Die Unterscheidung scheint ihm wichtig zu sein.

Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; ich stellte keine anderen Forderungen; sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung sein; die Forderung war klein, die Täuschung würde nicht größer sein. Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehn, angedrückt an eine Kistenwand. (Seite 202)

Der von der Besatzung „Rotpeter“ genannte Affe fing an, die Menschen nachzuahmen. Leicht gelang es ihm, zu spucken und eine Pfeife zu rauchen. Am schwersten fiel ihm das Schnapstrinken. Wochenlang brauchte er, bis er sich überwinden konnte, trotz des widerlichen Geruchs aus einer Schnapsflasche zu trinken. Als er es endlich geschafft hatte, begann er zu sprechen.

Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund. (Seite 207)

In Hamburg angekommen, begriff er rasch, dass es nur zwei Möglichkeiten für ihn gab: „Zoologischer Garten oder Varieté“. Ohne zu zögern, entschied er sich fürs Varieté und begann, „rücksichtslos“ zu lernen. Mitunter ließ er sich von fünf Lehrern gleichzeitig unterrichten. Die Fortschritte beglückten ihn. Es dauerte nicht lang, bis er „die Durchschnittsbildung eines Europäers“ erworben hatte.

Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte. (Seite 208)

Dass er unter der Kleidung, die er nun trägt, nach wie vor wie ein Affe aussieht, stört ihn offenbar nicht. Inzwischen steht ihm ein Impresario zur Verfügung und er tritt fast jeden Abend mit großem Erfolg auf. Meist kommt er erst spät „von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein“ nach Hause, wo er es sich dann mit einer „kleinen halbdressierten Schimpansin […] nach Affenart“ gut gehen lässt. Mit Hagenbeck hat er inzwischen „schon manche gute Flasche Rotwein geleert“. Zu Beginn seines Berichts für eine Akademie sagt er: „Ihr Affentum meine Herren, sofern Sie etwas derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine.“ (Seite 197)

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In der Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka mutiert ein Mensch zum Käfer; in „Ein Bericht für eine Akademie“ entwickelt sich ein Affe zum Menschen.

Um nicht in einen Zoo gesperrt zu werden, verleugnet ein von Hagenbeck gefangener Affe seine Herkunft, ahmt die Menschen nach, passt sich an und lernt wie besessen. Dadurch gelingt ihm der Aufstieg; er wird in die Gesellschaft eingegliedert und schließlich sogar von einer Akademie aufgefordert, einen Bericht abzugeben. Aus diesem Vortrag besteht die Erzählung.

Bemerkenswert ist, dass zumindest zwei Wesen im Umfeld des Affen psychische Störungen aufweisen: Einer seiner Dresseure muss vorübergehend in einer Nervenheilanstalt behandelt werden, und die „kleine halbdressierte Schimpansin“ hat „den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick“.

Weil Franz Kafka nirgendwo einen Hinweis auf die Bedeutung der satirischen, ironischen und komischen Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ hinterlassen hat, gibt es unterschiedliche Interpretationen. Beispielsweise könnte der Affe, der seine Wurzeln vergessen hat, für Juden stehen, die sich übereifrig und bis zur Selbstverleugnung in fremden Gesellschaften zu assimilieren versuchen.

Dieser Affe, aus dem natürlichen Zusammenhang mit seinem Stamm und seiner Welt gerissen, erscheint zugleich als die Fratze eines Volkes, das der Anpassung verfallen, seine Herkunft, seinen Sinn und sein Ziel vergessen und verraten hat und als das Zerrbild der Menschheit überhaupt, die, in der Lässigkeit der Zivilisation, tierischer als das Tier geworden ist, sodass dieses Affen Entwicklung ihn nur in seinen Augen hinaufgeleitet; in Wahrheit aber ihn in rasendem Verfall abstürzen gemacht hat. (Heinz Politzer)

Man kann „Ein Bericht für eine Akademie“ ebensogut als Sozialisierungsgeschichte eines Individuums lesen, das sich durch Imitation und Erziehung, Bildung und Triebunterdrückung entwickelt und in die menschliche Gemeinschaft eingliedert. Oder man versteht die Erzählung als Parabel nicht auf die Sozialisierung eines Einzelnen, sondern auf die Geschichte der Menschheit, die sich über ihre animalischen Ursprünge zu erheben versucht. Vielleicht spielte Franz Kafka auf die dualistische Vorstellung von einem aus primitiven Antrieben und einem zivilisatorischen, intellektuellen Überbau zusammengesetzten Menschen an.

Jedenfalls geht es in „Ein Bericht für eine Akademie“ nicht nur um Entwurzelung und Selbstverleugnung, sondern auch um Vereinzelung und Entfremdung. Nicht zuletzt kam es Franz Kafka offenbar auf das Thema „Freiheit“ an.

Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennengelernt, die sich danach sehnen. Was mich aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals noch heute. Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. (Seite 201)

„Ein Bericht für eine Akademie“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen 1963 von Klaus Kammer (ISBN: 978-3785731543).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Schocken Books

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