Maarten 't Hart : Der Nachtstimmer
Inhaltsangabe
Kritik
Anreise
Der niederländische Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd reist im Auftrag der deutschen Firma Auerbach & Wüste von seinem Haus in der Geuzenstraat in Heiligerlee, einem Ort mit tausend Einwohnern in der Provinz Groningen, nach Südholland, wo er in einer kleinen Hafenstadt südlich von Rotterdam die Garrels-Orgel in der Groote Kerk nachstimmen soll, weil sein Kollege von der Firma Pels & Van Leeuwen krank ist.
Ich hatte nie vor, Orgelstimmer zu werden, ich wäre gern Organist geworden. Ich bekam auch Unterricht, hatte jedoch zu wenig Talent. Ich war auf dem Realgymnasium, und als ich damit fertig war, wusste ich nicht, was ich machen wollte.
Seit 30 Jahren arbeitet Gabriel Pottjewijd als Orgelstimmer, die Hälfte der Zeit im Dienst von Auerbach & Wüste.
Wenn er mit dem Zug fährt wie jetzt, denkt er an Lore Hengelbrock. Die ostfriesische Kellnerin lernte er in dem Hotel kennen, in dem er während der Erledigung eines Auftrags in Norddeutschland einen Monat lang einquartiert war. Während er ihr etwas Niederländisch beibrachte, vermittelte sie ihm Grundkenntnisse der deutschen Sprache, und er besorgte sich eine Lutherbibel, um das Lesen zu üben. Nach seiner Heimreise kehrte er noch einmal um und machte Lore einen Heiratsantrag. Am 25. Juli 1980 fuhr seine Ehefrau zu einer Freundin in Sauwerd, um ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. In der Nähe von Winsum stieß der als „Blauer Engel“ bezeichnete Regionalzug mit einem anderen zusammen, und Lore war unter den neun Menschen, die dabei ums Leben kamen.
Eine verliebte Ziege und eine sprechende Eselin
Am Zielort wundert sich der Neuankömmling über die mit ihm ausgestiegenen Fahrgäste, weil diese so rennen − bis er dann vor der wegen des Zugs geschlossenen Bahnschranke steht, während die anderen jenseits weitergehen.
Ein Hotel gibt es in dem Hafenort nicht, aber der Auftraggeber Krijn Lagrauw hat für den Orgelstimmer ein Zimmer im Seemannsheim gebucht, dessen Wirt Jopie Boetekees ein Brillengestell ohne Gläser trägt. Die Kellnerin Sjaan bietet dem Gast FGK an (Fleisch, Gemüse, Kartoffeln) − und erntet dafür einen bösen Blick des stets schlecht gelaunten Wirts.
Während Gabriel isst, findet im Schankraum eine Versammlung der Vereinigung „Schrift und Bekenntnis“ statt. Die streng gläubigen Männer diskutieren über die von Rembrandt 1626 gemalte biblische Geschichte vom Propheten Bileam, der seine Eselin dreimal schlägt, worauf diese fragt: „Was habe ich dir getan, dass du mich jetzt schon zum dritten Mal schlägst?“ (4. Buch Mose).
Das erinnert Gabriel an seine Kindheit, als er noch die Grundschule in Woldendorp besuchte und mit den Eltern und vier älteren Geschwistern etwa einen Kilometer vom Hof des Bauern Ai Kack entfernt wohnte. Immer wieder riss Drieke aus, die schöne weiße Ziege des Nachbarn, klopfte mit dem Schädel gegen das Fenster des Arbeiterhäuschens der Familie Pottjewijd und gab keine Ruhe, bis Gabriel zu ihr ging und sie zum Bauernhof zurückführte. Als die Eltern und Geschwister einmal zum Gottesdienst in Delfzijl unterwegs waren − zu Fuß, weil Radfahren sonntags nicht erlaubt war − schlich Gabriel zum Bauernhof, um nach Drieke zu sehen. Erst hörte er sie meckern, dann sah er sie und wunderte sich darüber, dass Ai Kack mit heruntergelassener Hose hinter der Ziege stand und augenscheinlich erfolglos versuchte, sie mit Stößen aus der Hüfte vorwärts zu schieben, bis er vor Anstrengung stöhnend über den Rücken des Tiers sank.
Als Gabriel dann sein Elternhaus verließ, siechte Drieke dahin.
Er greift in die Diskussion über Bileams Eselin ein, die angeblich nicht nur sprechen, sondern auch mindestens bis drei zählen konnte. Als die Mitglieder der Vereinigung „Schrift und Bekenntnis“ erfahren, wer er ist, fragt ihn van Vuuren, der Präses des Rats der orthodox-reformierten Immanuëlkirche, ob er nicht auch deren Orgel stimmen wolle, „jetzt, wo Sie schon mal da sind“.
„Es handelt sich um eine Seifert-Orgel mit dreiundvierzig sprechenden Stimmen«, warf einer der anderen Brüder ein.“
„Das ist ein großes Instrument“, erwiderte ich, „und eigentlich stimme ich keine modernen Orgeln. Ich bin Spezialist für Schnitger-Orgeln, und für Orgeln von Schnitger-Schülern. Die Orgel hier in der Groote Kerk wurde von Rudolf Garrels gebaut, einem der besten Schüler Schnitgers.“
Die Garrels-Orgel entstand 1730 bis 1732 und wurde von Govert van Wijn, der mit seiner Lachsfischerei ein Vermögen gemacht hatte, für die Groote Kerk gestiftet.
Am Ende erklärt Gabriel sich bereit, auch die Seifert-Orgel nachzustimmen.
Mutter und Tochter
Am nächsten Morgen wird Gabriel durch den gellenden Ton einer Dampfpfeife der Kistenfabrik aus dem Bett gejagt. Statt Krijn Lagrauw holt ihn der Organist der Groote Kerk im Seemannsheim ab. Der macht ihn dann auch mit dem Küster Joris de Koeier bekannt. Falls er etwas für die Orgel benötige, könne er im Eisenwarenladen von Smitje de Smit einkaufen oder sich an den Schreiner Piet Pons wenden, sagt man ihm. Die Kirchengemeinde werde die Rechnung bezahlen.
Beim Stimmen einer Orgel muss Gabriel meistens mit Schülern vorliebnehmen, die ebenso gelangweilt wie unkonzentriert eine von ihm benannte Taste drücken. Hier sei es anders, sagt der Organist. Die Witwe eines Kapitäns werde ihre 15 oder 16 Jahre alte Tochter zur Kirche bringen, damit diese beim Stimmen der Orgel assistiert. Die Mutter sei eine Xanthippe, das Mädchen geistig behindert und spreche kein Wort.
O je, dachte ich, auch das noch. Nimmt das denn hier kein Ende: Menschen, die vor dem Zug weglaufen, eine normale Gasse, die Wijde Slop heißt, ein Deichhügel, der Wip genannt wird, ein Gastwirt mit einem Monstergestell ohne Gläser auf der Nase, eine wahnsinnig gewordene Dampfpfeife, Glaubensbrüder, die einen ganzen Abend über eine sprechende Eselin beratschlagen, Jona, der auf die Kanzel gespuckt wird, und jetzt auch noch irgendein irres Mädchen, das mir assistieren soll, im Schlepptau ihre bösartige Mutter.
Aber die Befürchtungen wegen des Mädchens erweisen sich als unbegründet: Lanna spricht zwar kaum, und wenn dann nur ein paar Wörter Portugiesisch, obwohl die Mutter Gracinha versichert, dass die Tochter die niederländische Sprache besser beherrsche als sie selbst, aber der Orgelstimmer staunt darüber, wie geduldig Lanna stundenlang die gewünschten Tasten drückt, und er hat noch nie eine Assistentin oder einen Assistenten gehabt, die oder der so rasch wie das Mädchen begriffen hätte, worauf es dabei ankommt.
Gracinha stammt aus der brasilianischen Hafenstadt Belém, ist 45 Jahre alt und bildschön. Der niederländische Hochseeschlepper-Kapitän Edelenbos heiratete Gracinha, und die Tochter brachte sie mit in die Ehe. Wer Lannas Vater ist, weiß sie nicht, denn bevor sie Edelenbos kennenlernte, war sie mit drei Jungen zugleich intim. Bald nachdem der Kapitän, der vielleicht gerade einmal zehn Tage zu Hause war, bevor er wieder zehn Monate zur See fuhr, seine Frau und die damals vierjährige Stieftochter in seinen Heimatort gebracht hatte, kam er bei einem Unfall im Golf von Morbihan ums Leben. Immerhin ermöglicht die Witwenrente Gracinha und ihrer Tochter ein gutes Auskommen.
Weil Lanna nach der Einschulung von den anderen Mädchen gehänselt wurde, weigerte sie sich, weiter am Unterricht teilzunehmen. Lesen, Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrer Mutter.
Gabriel, der in Porto und Faro ebenso wie in der brasilianischen Stadt Mariana Orgeln stimmte, hat ein paar Worte Portugiesisch aufgeschnappt. Um seine Sprachkenntnisse zu erweitern, sucht er nach einer portugiesischen Bibelausgabe, und die bekommt er von einem seltsamen Kauz namens Kris Kloppenburg, der ihn nicht ins Haus lassen kann, weil alles mit Bibeln in verschiedenen Sprachen vollgestopft ist.
Aus Gracinha wird Gabriel nicht schlau: Mal kocht sie für ihn in ihrer Wohnung am Hafen, mal herrscht sie ihn verärgert an, und er weiß nicht, womit er ihren Zorn auf sich gezogen hat. Sogar wenn sie gut gelaunt ist, bezeichnet sie ihn unverblümt als langweilig und unsexy.
Zwangspause
Am zweiten Tag kann Gabriel nicht mit Lanna weitermachen, weil der Lärm der Schiffswerft De Haas zu laut ist. Als der Orgelstimmer dem Küster erklärt, unter diesen Umständen nicht arbeiten zu können, wundert sich Joris de Koeier:
„Ist das Ihr Ernst? Die Fachleute der Firma Pels & Van Leeuwen, die Jahr für Jahr hier waren, haben jedes Mal anstandslos die komplette Orgel gestimmt, während man auf der Schiffswerft wie wahnsinnig mit Vorschlaghämmern zugange war.“
Während Gabriel eine Zwangspause einlegt, wendet sich Pastor Berenschot von der orthodox-reformierten Gemeinde an ihn:
„Der Präses des Kirchenrats rief mich an und sagte, Sie seien möglicherweise durchaus geneigt, unsere schöne Seifert-Orgel hier und da ein wenig nachzustimmen.“
Der Geistliche versucht den Orgelstimmer zu überreden, die Arbeit an der Seifert-Orgel in der Immanuëlkirche schwarz durchzuführen, aber das kommt für Gabriel nicht in Frage. Weil er mit der Arbeit in der Groote Kerk ohnehin nicht weiterkommt, fängt Gabriel an, die Seifert-Orgel in der ruhiger gelegenen Immanuëlkirche nachzustimmen.
Er ruft seinen Bruder Hugo Pottjewijd in Groningen an. Als er dem Kinderpsychiater von Gracinha und Lanna berichtet, meint dieser, bei der Tochter handele es sich möglicherweise um eine Autistin, vielleicht sogar mit einer Inselbegabung für Musik.
„In Anbetracht dessen, was du über die Freude am Tastendrücken und Singen erzählst, würde ich übrigens davon ausgehen, dass es sich hier um einen Fall von schwerem Autismus handelt. Einem Stimmer zu helfen ist todlangweilig, das weißt du besser als jeder andere. Wenn es jemanden gibt, der das nicht langweilig findet, der stundenlang durchhält, dann muss es sich wohl zwangsläufig um einen Autisten handeln, das kann fast nicht anders sein. […] Ich würde mich also an deiner Stelle glücklich schätzen, dass so jemand deinen Weg gekreuzt hat, und wenn die brasilianische Mutter auch nur einigermaßen erträglich ist, dann heiratest du sie, und du hast, wo immer du zum Orgelstimmen hinmusst, stets deine autistische Stieftochter zur Hand, die dir helfen kann.“
„Red keinen Blödsinn, deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch. Die Mutter ist eine Hexe.“
„Das sagst du jetzt schon zum zweiten Mal … Ich erinnere mich noch gut, du hast einmal in Deutschland gestimmt, in Nordom oder so, und dort bist du auch einer Hexe begegnet. Ich weiß noch, damals hast du von einem Satansweib gesprochen, und im Handumdrehen warst du mit dieser Frau verheiratet […].“
Gabriel hält die Vorstellung einer dauerhaften Beziehung mit Gracinha für absurd, aber mit der Ferndiagnose Autismus kommt der 50-jährige Einzelgänger gut zurecht.
[…] vielleicht bin ich ja selbst auch ein wenig autistisch, ich arbeite gern in stillen, leeren Kirchen, ich bin ebenfalls ziemlich unsozial, und ich kann eigentlich auch nur eine Sache gut, nämlich Orgeln stimmen. Das kann ich tagelang machen, obwohl es eine recht eintönige Arbeit ist. Ansonsten tauge ich zu nichts.
Der Drohbrief
Als es am Samstag auf der Schiffswerft ruhig bleibt und Gabriel endlich an der Garrels-Orgel weiterarbeiten kann, erklärt Gracinha ihm, dass sie die Tasten drücken und Lanna ihm zuschauen werde. Die Tochter interessiere sich sehr für seine Tätigkeit und wünsche sich, von ihm zur Orgelstimmerin ausgebildet zu werden. Das Vereinigte Königreich wird zwar von Margaret Thatcher regiert, aber Gabriel hat noch nie von einer Frau in seinem Beruf gehört, und um Lanna auszubilden, müsste sie ihn mit ihrer Mutter auf seinen Dienstreisen begleiten. Unvorstellbar.
Am Sonntag muss Gabriel die Arbeit vor der Messe unterbrechen und kann erst am Nachmittag weitermachen. Im Seemannsheim wirft ihm der mürrische Wirt einen Brief zu. Darin liest Gabriel:
„[…] rate ich Ihnen dringend, von jedem weiteren Kontakt mit einer Ihnen inzwischen sehr gut bekannten Witwe abzusehen, mit der Sie, obwohl nunmehr erst seit Jüngstem in der hiesigen Stadt, bereits allzu familiär umzugehen pflegen. […]“
Wegen des Lärms wechseln Gabriel, Lanna und deren Mutter am Montag erneut zur Seifert-Orgel in der Immanuëlkirche. Als Gracinha von dem Drohbrief erfährt, hält sie das für einen der hier üblichen bösen Scherze. Und als es am Nachmittag in der Kirche dreimal laut knallt, meint sie, der Absender habe aufgeblasene Papiertüten zerschlagen, um ihn zu foppen.
„Papiertüte reicht, dann du schneeweiß vor Schreck, du Hasenfuß, ach, du tão fofo.“
Apostasie
Nachdem Gabriel die Seifert-Orgel gestimmt hat, überlegt er, wie es mit der Garrels-Orgel weitergehen soll. An den Werktagen lärmt die Schiffswerft, und fürs Wochenende ist ein Volksfest geplant, die Furieade.
Bevor er eine Entscheidung treffen kann, erklärt ihm Pastor Berenschot, dass er an einer Dissertation über den Abfall vom Glauben arbeite und Interviews mit Apostaten führe. Als Gegenleistung für die Bereitschaft, Fragen zu beantworten, lädt ihn der Geistliche auf ein Bier ein.
Gabriel erinnert sich daran, wie er am christlichen Glauben zu zweifeln begann:
„Bei einer Orgel beginnt der Verfall mit Hängern. Nun, so ist es bei mir auch gewesen, es fing mit einem Hänger an. Ich lauschte dem Stabat Mater von Pergolesi und dachte mit einem Mal: wie seltsam, Mutter Maria am Fuß des Kreuzes. Woher wusste sie denn, dass ihr Sohn gekreuzigt werden würde? Wenn sie noch in Nazareth wohnte, hätte sie es, wenn sie – aber von wem? – erfahren hätte, dass ihr Sohn gekreuzigt werden würde, niemals rechtzeitig nach Golgatha geschafft. Wenn sie inzwischen nach Jerusalem gezogen war, wer hatte sie dann dort informiert? Einer der Jünger? Die Ereignisse – Verrat, Gefangennahme, Verhör, Geißelung, vor Pilatus, vor Herodes – folgten doch so rasch aufeinander, und es stand erst sehr spät fest, dass Jesus ans Kreuz genagelt werden würde. Da ist es nahezu undenkbar, dass ein Jünger oder jemand anders Maria rechtzeitig über das Bevorstehende informiert hat. Seltsam eigentlich, dass es damit bei mir angefangen hat, aber der Gedanke summte mir ununterbrochen durch den Kopf, wie ein Hänger bei einer Kirchenorgel.“
Später seien ihm weitere unglaubwürdige Geschichten in der Bibel aufgefallen, erklärt Gabriel, so zum Beispiel „dass Jona, in aller Ruhe weiteratmend, drei Tage lang in einem Kabuff ohne Sauerstoff und von ätzenden, stinkenden Magensäften umspült im Bauch eines Wals biwakiert hat.“
„Es gibt die Bibel, das sogenannte Wort Gottes, und die ist von Genesis bis Offenbarung gefüllt mit den aberwitzigsten Geschichten. Und wenn man jetzt sagt: Du darfst diese Erzählungen nicht wörtlich nehmen, und man auf diese Weise eigentlich Märchen daraus macht, dann muss man sich auch eingestehen, dass Gott den Menschen das Heil mittels total verrückter Märchen verkündigt.“
Am Schlimmsten findet Gabriel den Aufruf Gottes zum Völkermord im Alten Testament, beispielsweise im ersten Buch Samuel, Kapitel 15.
„Die Bibel ist achtmal so dick wie der Koran und achtzigmal so schlimm.“
Nächtlicher Überfall in der Kirche
Auf dem Weg zu Gracinhas Wohnung wird Gabriel von hinten angegriffen und ins Hafenbecken gestoßen. Drei Jugendliche, die ihn schwimmen sehen, machen sich über ihn lustig, aber schließlich wirft ihm jemand einen Rettungsring zu, und damit zieht man ihn zu einer Eisenleiter, wo er aus dem öligen Wasser klettern kann. In Grancinhas Wohnung zieht er die stinkende Kleidung aus, duscht und schlüpft dann in Sachen aus dem Nachlass ihres Mannes.
Um den Auftrag in der Groote Kerk abschließen zu können, arbeitet Gabriel nachts, wird also zum „Nachtstimmer“.
Als er hört, wie jemand durch die Kirche schleicht, lauert er oben an der Treppe, und als er eine Person heraufkommen sieht, die sogleich eine Pistole auf ihn richtet, schleudert er ihr einen dicken Psalmenband von Johannes Worp an den Kopf. Während der Eindringling noch einen Schuss abfeuert, stürzt er über die Stufen hinunter und bleibt mit einem gebrochenen Bein am Boden liegen. Gabriel schiebt die Waffe beiseite, bevor er sich über die verletzte Person beugt. Zu seiner Verwunderung handelt es sich um die Kellnerin Sjaan aus dem Seemannsheim.
Nachdem er zum Bäcker gelaufen ist, damit ein Krankenwagen gerufen wird, klärt Sjaan ihn darüber auf, dass ihr Familienname Edelenbos lautet und der Kapitän ihr Bruder war. Während ihre Schwägerin nichts von ihr wissen wolle, sei sie in Gracinha verliebt, gesteht sie. Deshalb konnte sie es nicht ertragen, dass Gracinha für ihn kochte. Sie gesteht, in der Immanuëlkirche drei Schüsse mit Platzpatronen abgegeben und ihn ins Hafenbecken gestoßen zu haben. Als er dann in der Kleidung ihres toten Bruders herumlief, rastete sie vollends aus und wollte ihn nun in der Groote Kerk erschießen. (Den Drohbrief erwähnt sie nicht, und Gabriel vermutet, dass jemand anderes ihn geschrieben habe.)
Statt der versuchten Mörderin alles Schlechte zu wünschen, steckt der Nachtstimmer die Pistole ein, um sie später ins Wasser zu werfen. Rasch verständigt er sich mit Sjaan darauf, dass sie sagen soll, sie sei zum Putzen in die Kirche gekommen und auf der Treppe ausgerutscht.
Während die Sanitäter nicht daran zweifeln, dass es sich um einen Unfall handelte, glaubt Gracinha kein Wort, sondern nimmt an, dass ihre Schwägerin es auf Gabriel abgesehen habe.
„Sie früh in Kirche, du früh in Kirche, du dort stimmen ohne uns, du vielleicht mit ihr stimmen wollen. […] Sie noch frei, sie früh in Kirche, du früh in Kirche, Treppe putzen stimmt nicht, gar nicht wahr, sie auf dem Weg zu dir.“
Abreise
Gabriel kündigt Gracinha seine Abreise am nächsten Tag an. Ohne zu zögern erklärt die resolute Brasilianerin, dass sie und Lanna mitkommen werden. Erschrocken denkt Gabriel:
„Sie nimmt das Heft in die Hand. So wird es immer sein, sie wird immer das Heft in die Hand nehmen, und deshalb habe ich in Zukunft nichts mehr zu sagen und muss nach ihrer Pfeife tanzen.“
„Und wie soll das werden? Das kann doch nicht gut gehen, es liegen Welten zwischen uns, Amazonas versus Dollart, brasilianischer Regenwald versus Johannes Kerkhovenpolder – zwei Kulturen unter einem Plumeau machen nur den Teufel froh. Schon mit Lore war das oft unheimlich schwierig gewesen, und dabei sind sich Deutschland und die Niederlande viel ähnlicher als Brasilien und die Niederlande.“
Früh am Morgen schleicht Gabriel aus dem Seemannsheim.
Es herrschte leichter Frost […]. Angenehm kühl eigentlich, doch über das Hafenbecken schlich ein schneidend kalter Nordostwind. Wenn Gracinha ihre Haustür öffnete, würde er ihr direkt ins Gesicht schlagen. Vielleicht würde sie dann von der Reise in den Hohen Norden absehen. Von dort kam schließlich der Wind, ein Wind, den man in Brasilien nicht kannte.
Aber Mutter und Tochter warten bereits auf ihn.
Nachdem Lanna im Zug eingeschlafen ist, berichtet Gracinha, dass ihre Großmutter ebenso wie ihre Mutter und ihre Tanten nur zwischen 42 und 53 Jahre alt wurden. Sie starben alle an einem offenbar vererbten Glioblastom. Gracinha ist 45.
„In fünf Jahren ich auch tot, ganz bestimmt. Ist nicht schlimm. Weiß ich schon, solange ich lebe. Sterben gar nicht so schlimm, man muss dafür nicht aus dem Bett aufstehen, und vom Totsein spürt man nichts. Ich nicht alt, é bom, nicht im Rollstuhl, keine demência, nicht ins Pflegeheim, alles gut, sehr gut […].“
Aber sie sorgt sich um Lanna. Keiner der zahlreichen Männer in der Hafenstadt, die Gracinha umschwärmten, achtete auf das Mädchen. Hätte sie sich auf einen von ihnen eingelassen, wäre Lanna wohl in ein Heim angeschoben worden. Gabriel dagegen nahm Lanna nicht als behindert wahr, sondern arbeitete mit ihr und erkannte ihr musikalisches Talent. Indem sie ihm assistieren durfte und respektiert wurde, blühte sie auf.
„Deshalb ich so froh … mit dir. Wenn ich sterbe, du für sie sorgen, doch wie ich jetzt dafür sorgen, dass du dann für sie sorgst? Ich denke: Wir heiraten, du dann padrastro, du sie nicht im Stich lassen, denn du querido homem.“
Beim Umsteigen in Groningen begegnen die drei Reisenden zufällig Gabriels Bruder Hugo Pottjewijd, einem seit zehn Jahren geschiedenen Akademiker.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Er sah seinen kleinen Bruder, den Bruder, auf den er zeit seines Lebens ein wenig (sehr) herabsah, ein Bürschlein, das immer in seinem brillanten Schatten gestanden hatte, ein Realschüler, während er selbst mühelos und mit erstaunlich guten Noten das Gymnasium absolviert und danach Medizin studiert hatte – was ihm auch nicht schwergefallen war –, um sich schließlich auf Kinderpsychiatrie zu spezialisieren. Ja, mein superschlauer Bruder erblickte sein Brüderchen und sah, dass dieses Brüderchen sich in Begleitung einer wahnsinnig attraktiven Frau und eines normal aussehenden Mädchens befand, und das konnte er nicht begreifen, das überstieg seine enormen Verstandeskräfte.
„Ich bin auf dem Weg nach …“, sagte mein Bruder, und dann wusste er offenbar nicht mehr weiter, und er wird auch nie wissen, welch unglaubliches Vergnügen mir seine Verdatterung bereitete. Es war, als würden all seine kleinen Erniedrigungen, all seine Sticheleien, all das klammheimliche Getrieze in der Vergangenheit ausgelöscht, nein, nicht wirklich ausgelöscht, aber zumindest zugedeckt. Er war mein ältester Bruder, und ich liebte ihn durchaus (ein wenig), doch er hatte mir immer das Gefühl gegeben, im Vergleich zu ihm nur ein zweitrangiger Stümper, ein nicht ernst zu nehmender Nachkömmling, ein Versager zu sein. Und jetzt hatte ich ihn, auch wenn seine Verwirrung rasch verflogen sein würde, doch ein Mal übertroffen, hatte ihn ein Mal sprachlos gemacht.
Die Handlung des Romans „Der Nachtstimmer“ von Maarten ΄t Hart spielt in den Achtzigerjahren in einem Hafenort südlich von Rotterdam, dessen Namen er nicht nennt, bei dem er jedoch an seinen Geburtsort Maassluis gedacht haben könnte. Auf jeden Fall hält er den Bewohnern einen Spiegel vor: provinziell, bigott, intolerant, xenophob …
Bis vor Kurzem verlangten sie von ihren Frauen sogar noch, lange Röcke und beim Kirchgang Hüte zu tragen, und auch von der Sonntagsheiligung weichen sie um keinen Deut ab und spucken Feuer, wenn es um Abtreibung oder Sterbehilfe geht. Nur beim Alkohol pflegen sie eine lockere Moral.
Dass ein Gemüseladen in dem Provinzort zur Moschee umgebaut werden soll, erregt die Gemüter. Manche reden schon von „Islamisierung“.
„Wie kommt ein orthodox-reformierter Bauunternehmer in Gottes Namen dazu, ein Angebot für einen Götzentempel abzugeben?“
„Wir können nicht gegen ihn vorgehen“, sagte Präses van Vuuren, „wir stehen mit dem Rücken zur Moscheewand. Er wird sagen: ›Wo steht in der Schrift, dass man keine Moschee bauen darf?‹, und dann muss man antworten: ›Das wird in der Bibel an keiner Stelle ausdrücklich verboten, aber es liegt doch auf der Hand, dass man sich so etwas als orthodox-reformierter Bauunternehmer nicht in den dicken Kopf setzt.‹ Am Ende stellt Booster die Moschee dort pontifikal hin, inklusive Minarett und allem Drum und Dran, und ihr werdet sehen, dass er auch noch unseren Bruder Leen Stigter für die Elektroinstallation dazuholt und Siem Kouwenhoven für die Bodenbeläge und Petrus Leune für die Malerarbeiten und Bram Boudesteijn für die Stuckaturen und Klaas Kabel für die Sanitäranlagen und Sander Robbemond für die Heizung und Witold Warnaar für die Glasarbeiten und noch ein paar andere Mitglieder unserer Gemeinde, und so wird das Ganze ein durch und durch orthodox-reformiertes Projekt, halleluja. Tja, so wie ich das sehe, muss man dann allen Gläubigen, die da mitmachen, beim Besuch der Presbyter kräftig die Leviten lesen, man muss ihnen vor Augen führen, dass sie gewaltig unter die Räuber gefallen sind, bis sie in Gewissensnot geraten. Und dann sind sie von ganz allein bereit zu büßen, indem sie ihren festen Jahresbeitrag zur Gemeinde ordentlich erhöhen. Auf diese Weise profitieren wir doch wunderbar von dem vielen Geld für diese hohen Minarette.“
Maarten ΄t Hart überlässt das Wort Gabriel Pottjewijd, dem „Nachtstimmer“. Dieser auf den Namen eines Erzengels getaufte Ich-Erzähler ist ein eigenbrötlerischer, nicht besonders lebenstüchtiger und ein wenig aus der Welt gefallener Sonderling. Der in barocken Orgeln herumkletternde Nerd gerät ausgerechnet an eine ebenso schöne wie resolute und selbstbewusste Brasilianerin, die sich um ihre autistische Tochter sorgt, die von den Bewohnern des Hafenorts kurzerhand für geistig behindert gehalten wird.
Verschroben wie die Hauptfigur ist auch der ganze Roman „Der Nachtstimmer“. Mit großem Einfallsreichtum und überbordender Fabulierlaune entwickelt Maarten ΄t Hart eine originelle, skurrile und urkomische Geschichte. Experimente mit modernen stilistischen Möglichkeiten sind nicht seine Sache.
Immer wieder streut Maarten ΄t Hart, von dem es heißt, dass er selbst Orgel spielt, kenntnisreiche Beschreibungen der Arbeit eines Orgelstimmers ein.
Ein Sahnehäubchen setzt Maarten ΄t Hart dem Roman „Der Nachtstimmer“ mit der Schlusspointe auf.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Piper Verlag
Maarten ΄t Hart (Kurzbiografie, Bibliografie)
Maarten ΄t Hart: Ein Schwarm Regenbrachvögel
Maarten ΄t Hart: Die schwarzen Vögel
Maarten ΄t Hart: Das Wüten der ganzen Welt
Maarten ΄t Hart: Die Netzflickerin
Maarten ΄t Hart: Der Flieger
Maarten ΄t Hart: In unnütz toller Wut (Verfilmung)
Maarten ΄t Hart: Der Schneeflockenbaum