Max Frisch : Der Mensch erscheint im Holozän

Der Mensch erscheint im Holozän
Der Mensch erscheint im Holozän Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1979 ISBN: 978-3-518-02850-6, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Herr Geiser, ein 73 Jahre alter verwitweter Fabrikant aus Basel, lebt allein in einem Bergdorf im Tessin. Als ein Unwetter die einzige ins Hochtal heraufführende Straße unpassierbar macht, fängt er an, lexikalisches Wissen zusammenzutragen, und bald sind die Wände im Haus mit Zetteln und Ausschnitten aus Büchern tapeziert. Schließlich macht er sich auf den anstrengenden Weg über eine Passhöhe ins Nachbartal, um von dort zur Familie seiner Tochter nach Basel zu fahren, aber kurz vor dem Ziel kehrt er um ...
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Kritik

Die Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" ist resignativ, aber in keiner Weise larmoyant. Max Frisch schildert das Geschehen aus der Perspektive des Protagonisten, ähnlich wie bei einem inneren Monolog. Das ist sowohl inhaltlich als auch formal und sprachlich Literatur auf höchstem, jedoch nicht abgehobenem Niveau.
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Unwetter

Herr Geiser, ein 73-jähriger Witwer, lebt seit 14 Jahren allein in einem Dorf im Tessin, wo die Eingesessenen „jeden, der nicht in ihrem Tal geboren ist, für reich oder für einen Spinner“ halten. Den aus Basel Zugezogenen titulieren sie als „il Professore di Basilea“.

Der letzte Mord im Tal, nur gerüchteweise bekannt, da er nie vor ein Gericht gekommen ist, liegt schon um Jahrzehnte zurück. Auch die Inzucht ist im Schwinden, seit die Burschen ihr Motorrad haben, ebenso die Sodomie.
Seit 1971 gibt es das Frauenstimmrecht.

Ein Unwetter hat vor einigen Tagen die einzige vom Lago Maggiore ins Hochtal heraufführende Straße unpassierbar gemacht. Obwohl davon auch der dreimal täglich verkehrende Postbus betroffen ist, öffnet die Frau von der Post zu den angeschlagenen Zeiten ihren Schalter, verkauft Briefmarken und nimmt Pakete entgegen, die allerdings erst einmal liegen bleiben.

Weil Herr Geiser aufgrund des Wetters nicht im teilweise mit Geröll zugeschütteten Garten arbeiten kann, versucht er im Haus, Pagoden aus Knäckebrot zu bauen, aber die stürzen spätestens nach dem Aufsetzen des Giebels ein, meistens schon vorher.

Die Minestrone, die ihm Nachbarn gebracht haben, schüttet Herr Geiser in den Garten.

Als der Strom ausfällt, verteilt er den aufgetauten Inhalt der Tiefkühltruhe unter den Dorfbewohnern.

Natürlich fällt auch der Fernseher aus.
Keine Ahnung, was in der Welt geschieht.

Um Licht zu haben, zündet Herr Geiser Kerzen an.

Nicht um Schnaps zu trinken, sondern um Streichhölzer zu kaufen, Streichhölzer auf Vorrat, ist Herr Geiser ins nächste Dorf gegangen und hat in der Pinte vergessen, Streichhölzer zu kaufen.

Lexikalisches Wissen

Seine Bibliothek ist nicht umfangreich, aber ein zwölfbändiger Brockhaus gehört dazu. Herr Geiser markiert mit einem Kugelschreiber Textstellen, deren Inhalt er sich merken möchte, zum Beispiel:

Im Pleistozän erscheint nach bisheriger Auffassung der Mensch (Altsteinzheit); die erdgeschichtl. Gegenwart spielt sich im Holozän ab.

Früher verfügte er über eine bessere Allgemeinbildung.

Wie Flut und Ebbe entstehen, wie Vulkane, wie Gebirge usw., hat Herr Geiser einmal gewusst. Wann sind die ersten Säugetiere entstanden? Stattdessen weiß man, wie viel Liter der Heizöltank fasst und wann der erste Post-Bus fährt, sofern die Straße nicht gesperrt ist, und wann der letzte.

Bald merkt Herr Geiser, dass sich mit dem Anstreichen von Textstellen kaum Wissen zusammentragen lässt, und er geht deshalb dazu über, Angaben auf Zettel zu notieren und diese mit Reißzwecken an die Wand zu pinnen. Das funktioniert allerdings nur an der Holzvertäfelung, nicht an verputzten Flächen. Um mehr Platz zu haben, hängt er das Bildnis seiner verstorbenen Frau Elsbeth ab.

Wasser im Keller, das ist es nicht, was Herr Geiser im Keller hat nachsehen wollen; das hat Herr Geiser schon gesehen. Plötzlich ist die Zange da, aber keine Ahnung, wozu man sie vor einer Stunde gesucht hat. […]
Später am Tag, als Herr Geiser wieder den krummen Nagel in der Wand sieht, hat er keine Ahnung, wo er die Zange hingelegt hat.
Der krumme Nagel muss weg.
Dabei geht die Schere kaputt.

Die Textstellen auszuschneiden, statt sie abzuschreiben, ist viel einfacher. Allerdings muss er die Nagelschere verwenden, denn die gewöhnliche Schere ist kaputt. Und als die Reißzwecken ausgehen, klebt Herr Geiser die Ausschnitte mit Tesafilm an die Wand. Auf diese Weise kann er auch die verputzten Flächen nutzen.

Ausbruchsversuch

Im Morgengrauen macht er sich mit dem Rucksack auf den Weg hinauf zur 1076 Meter hohen Passhöhe, um von dort ins benachbarte Maggia-Tal zu gelangen, denn dort gibt es eine vermutlich noch offene Busverbindung nach Locarno und weiter nach Basel. Beim Gehen versucht er, sich Gelerntes ins Gedächtnis zu rufen:

– der Mensch erscheint im Holozän.

Nachdem Herr Geiser von der Passhöhe 400 Höhenmeter abgestiegen ist und bereits die Kirchenglocke von Aurigeno hört, rastet er unter dem Schutzdach über einem Muttergottes-Fresko.

Was soll Herr Geiser in Basel?

Im Dunkeln, gegen Mitternacht, trifft Herr Geiser wieder in seinem Haus ein.

Zurück

Offenbar hat Herr Geiser den Hut auf dem Kopf getragen. Sonst läge der Hut nicht auf dem Boden neben ihm. Es ist Tag. Wieso Licht im ganzen Haus? Im Kamin glimmt es noch. Herr Geiser kann sich aufsetzen. Kein Knochenbruch; jedenfalls schmerzt es nirgends. Es schwindelt ihn bloß, weswegen Herr Geiser eine Weile warten muss, bevor er es wagen kann, aufzustehen wie ein Mensch.
Die Brille auf dem Boden ist nicht kaputt.

Keine Schramme im Gesicht vor dem Spiegel. […]
Es ist das Augenlid links. Kein Schmerz.

Das Augenlid, links, bleibt gelähmt.

Aus dem Großen Brockhaus schneidet Herr Geiser den Artikel mit der Überschrift „Schlaganfall, Gehirnschlag, Hirnschlag“ aus.

Vor 50 Jahren geriet er mit seinem älteren Bruder Klaus beim Abstieg vom Matterhorn in eine lebensgefährliche Lage. Daran erinnert er sich mit allen Einzelheiten. Klaus liegt inzwischen in Bagdad begraben.

Nach Einbruch der Dunkelheit schauen drei Männer aus dem Dorf nach Herrn Geiser. Er reagiert weder auf das Klingeln noch auf das Klopfen, und als sie dennoch hereinkommen, wirft er eine Tasse nach ihnen, um sie zu vertreiben.

Es gibt wieder Strom, und Herr Geiser hört auch die Dreiklang-Hupe des Postbusses. Das Telefon klingelt den ganzen Vormittag. Vermutlich ist es Herrn Geisers Tochter Corinne, die sich Sorgen macht. Aber er hebt nicht ab.

Corinne lebt mit ihrer Familie in Basel. Ihr Mann führt die den Namen seines Schwiegervaters tragende Fabrik erfolgreich weiter. Herr Geiser weiß, dass der Familienname Krättli lautet und erinnert sich an die Namen von zwei Enkelkindern – Sonja und Hansjörg –, aber wie die Kleinste heißt, fällt ihm nicht ein.

Corinne ist da.

Warum redet sie wie mit einem Kind?

Als sie den Tee bringt, hat Corinne feuchte Augen, was sie nicht zu wissen scheint, sie lächelt dazu wie eine Krankenschwester und redet zu ihrem Vater wie zu einem Kind.

Das Dorf steht unversehrt. Über den Bergen, hoch im blauen Himmel, zieht sich die weiße Spur der Verkehrsflugzeuge, die nicht zu hören sind. […] Alles in allem ein stilles Tal. Ab und zu ist ein Helikopter zu hören und zeitweise zu sehen; ein Bündel von Balken pendelt an einem Drahtseil, irgendwo im Tal wird gebaut. […] Sonst ereignet sich wenig. […] Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich. […]

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Im Mittelpunkt der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch steht ein einsamer älterer Mann, der spürt, wie sein Gedächtnis nachlässt. Zunächst glaubt er noch, lexikalisches Wissen vor dem Vergessen bewahren zu müssen, aber dann begreift er, dass es für die Welt belanglos ist. Die Natur ist nicht auf die von der Menschheit zusammengetragenen Erkenntnisse angewiesen.

Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.

Max Frisch stellt dies in „Der Mensch erscheint im Holozän“ resignativ, aber in keiner Weise larmoyant dar. Er tritt nicht als auktorialer Erzähler auf, sondern schildert das Geschehen im Präsens aus der Perspektive des Protagonisten mit Symptomen einer beginnenden Altersdemenz, ohne es zu erläutern oder zu kommentieren. Daraus ergibt sich so etwas wie ein fragmentarischer innerer Monolog. Beispielhaft ist die Szene, in der Herr Geiser nach einem Schlaganfall und stundenlanger Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommt und nicht gleich begreift, was geschehen ist. Hier zeigt sich auch die starke Verdichtung der scheinbar nüchternen Sprache. Und das Fragmentarische wird durch die Collage aus Text und eingestreuten Faksimiles aus der Bibel, dem Lexikon und einigen anderen Büchern gespiegelt. Zwei Passagen kontrastieren damit: An die 50 Jahre zurückliegende Klettertour am Matterhorn erinnert sich Herr Geiser intensiv und zusammenhängend. Der ganze Abschnitt steht im Präteritum bzw. Plusquamperfekt. Ans Ende setzt Max Frisch einen weiteren Stilbruch, da wechselt er von der personalen zu einer allgemeinen Perspektive und betont auf diese Weise die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen, also das Hauptthema der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“.

Das ist sowohl inhaltlich als auch formal und sprachlich Literatur auf höchstem, jedoch nicht abgehobenem Niveau.

Max Frisch verwahrte sich gegen die Unterstellung, die Figur des Herrn Geiser sei autobiografisch und „Der Mensch erscheint im Holozän“ eine Fortsetzung der Erzählung „Montauk“.

Unverkennbar sind Parallelen zwischen dem Protagonisten in „Der Mensch erscheint im Holozän“ und Armand Schulthess (eigentlich: Alfred Fernand Armand Dürig; 1901 – 1972), der zu Beginn der Fünfzigerjahre ins Onsernonetal im Tessin zog und im Verlauf von zwei Jahrzehnten Tausende kleiner Tafeln in einem Kastanienwald bei Auressio aufhängte, auf die er notiert hatte, was er für wissenswert hielt. Nach seinem Tod vernichteten die Erben die „Enzyklopädie im Wald“ bzw. den „Jardin cosmogonique“. Erhalten blieben nur ein paar Hundert der Tafeln.

In Armand Schulthess‘ Todesjahr begann Max Frisch an der Erzählung zu arbeiten, aber erst im Herbst 1978 legte er eine Fassung vor, die der Suhrkamp Verlag dann im März 1979 veröffentlichte.

Heinz Bütler und Manfred Eicher verfilmten die Erzählung 1992 unter dem Titel „Holozän“.

Thom Luz und David Heiligers brachten die Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ auf die Bühne. Bei der Premiere am 23. September 2016 am Deutschen Theater in Berlin spielte Ulrich Matthes die Hauptrolle.

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Rüdiger Safranski - Goethe & Schiller
Von der Mühsamkeit der Materialsammlung und -verarbeitung spürt der Leser in "Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft" nichts. Die Darstellung ist stringent, sprachlich gediegen und leicht lesbar.
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