Paul Auster : Mr Vertigo

Mr Vertigo
Originalausgabe: Mr Vertigo Viking Penguin, New York 1994 Mr Vertigo Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 1996 ISBN: 3-498-00042-X, 319 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die fiktive Biografie des Ich-Erzählers Walter ("Walt") Claireborne Rawley entwickelt sich vor dem Hintergrund markanter Ereignisse der Zeitgeschichte (Prohibition, Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg). "Mr Vertigo" handelt von einer Spirale, die sich aus Erfolgen und wiederholtem Scheitern, Neuanfängen und Niederlagen zusammensetzt. Walt lernt es, Menschen und Dinge loszulassen, die er nicht festhalten kann, nach vorn zu blicken und sich auf Neues einzulassen ...
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Kritik

Paul Auster verknüpft in "Mr Vertigo" die parabelhafte Geschichte eines Wunderkindes mit Versatzstücken aus den Genres Road-Story, Thriller und Gangsterepos. Das ist formal und sprachlich überzeugend, fantasievoll und unterhaltsam.
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Walter („Walt“) Claireborne Rawley war zwei Jahre alt, als sein Vater 1917 bei einem Gasangriff im Krieg fiel. Seine Mutter, die sich danach als Prostituierte durchschlug, wurde fünf Jahre später von einem Polizisten erschossen. Walt wohnt bei Edward J. Sparks, Onkel Slim, dem älteren Bruder seiner Mutter, und dessen Ehefrau, Tante Peg, in Saint Louis. Meistens treibt er sich in den Straßen der Stadt herum und bettelt.

1926 wird er von einem Fremden angesprochen. „Meister Yehudi“ – so lässt dieser sich ansprechen – verspricht Walt, ihm das Fliegen beizubringen. Der Elfjährige, der auf der Straße gelernt hat, misstrauisch zu sein, hält das zunächst für einen Ulk, aber Meister Yehudi versichert ihm, er meine es ernst und erklärt ihm, er habe bereits mit seinem Onkel gesprochen; der sei froh, ihn loszuwerden. Also schließen Meister Yehudi und Walt einen Pakt: Wenn der Waisenknabe im Alter von dreizehn Jahren noch nicht fliegen kann, darf er dem Meister den Kopf abhacken.

Sie fahren mit dem Zug nach Kansas City, Missouri, und von dort weiter nach Cibola, Kansas. Außerhalb der Kleinstadt besitzt Meister Yehudi eine Farm. Dort trifft Walt auf „Mutter Sue“, eine dicke Indianerin, und einen fünfzehnjährigen pechschwarzen Krüppel namens Äsop. „Mann, ich geb doch ‚m Nigger nicht die Hand“, entfährt es Walt, als der Meister die beiden Jungen auffordert, sich zu begrüßen. Als er dann auch noch erfährt, dass es sich bei seinem Gastgeber um einen in Budapest geborenen und in Brooklyn aufgewachsenen Juden handelt, ist das Maß für ihn voll. Viermal versucht Walt fortzulaufen, aber Meister Yehudi holt ihn immer wieder zurück, so auch, als Walt es bis nach Wichita, Kansas, geschafft hat und bei einer Frau Schutz sucht, bei der es sich ausgerechnet um Marion Witherspoon handelt, die Geliebte seines Meisters.

In den ersten sechs Monaten dachte ich bloß an Flucht. Ich war ein Stadtkind mit Jazz im Blut aufgewachsen, ein Straßenjunge, der immer nur an sich selbst gedacht hatte; das Gewühl der Menge, das Quietschen der Straßenbahnen, der Puls der Neonlichter, der Gestank von geschmuggeltem Whiskey in den Rinnsteinen – das war mein Lebenselixier. Ich war ein Schlingel, dem der Boogie in den Beinen steckte, ein kleiner Scatsänger mit flinker Zunge und hundert Ideen, und da saß ich nun am anderen Ende der Welt und lebte unter einem Himmel, der nichts anderes zu bieten hatte als das Wetter – und das war meistens schlecht.

Walt sieht ein, dass er nicht weglaufen kann – und fügt sich. Dazu gehört auch, dass er bei der harten landwirtschaftlichen Arbeit mitmacht. Er und Äsop werden Freunde.

Meister Yehudi fand Äsop vor zwölf Jahren halb verhungert auf einem Baumwollfeld in Georgia. Die Mutter des damals Dreijährigen war kurz zuvor an Tbc gestorben. Der Meister und Mutter Sue zogen ihn auf.

Sue war nicht immer eine fette Matrone, sondern früher ein hübsches Sioux-Mädchen. Bei ihrem Großvater handelte es sich um einen Bruder des Häuptlings Sitting Bull. Als die Indianer von den Prärien in die Reservate getrieben wurden, entdeckte Buffalo Bill die Sechzehnjährige für seine Wild-West-Show – und rettete ihr damit wahrscheinlich das Leben, denn ein paar Tage später, am 29. Dezember 1890, fand das Massaker am Wounded Knee statt, bei dem die Kavallerie mehr als hundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder der Sioux niedermetzelte. Die Geistertänze der Indianer hatten es nicht verhindern können. – Fünf oder sechs Jahre lang zog Sue mit Buffalo Bill herum, dann heiratete sie einen Iren namens Ted, ging mit ihm nach Europa und gebar dort die Tochter Daffodil. Ted und Daffodil kamen bei einem Zugunglück ums Leben. Daraufhin kehrte Sue in die USA zurück und wurde die Frau eines Rohrlegers, der auch Ted hieß, aber im Gegensatz zu ihrem ersten Mann ein gewalttätiger Alkoholiker war. Sie lebten am Rand von Memphis, Tennessee. 1912 kam zufällig der damals neunundzwanzigjährige Yehudi vorbei, während Ted auf seine Frau einprügelte. Yehudi ging dazwischen und bot Sue vor, ihn zu begleiten und ihm zu helfen, Äsop aufzuziehen, den er kurz zuvor gefunden hatte.

Die Farm in Cibola gewann Meister Yehudi vor sieben Jahren beim Kartenspiel von Charlie Witherspoon aus Wichita, der nach und nach das gesamte Erbe seiner wohlhabenden Familie beim Spiel verloren hatte und als letztes das Land und seine Ehefrau Marion einsetzte. Am Morgen nach dem letzten Spiel erschoss Charlie Witherspoon sich.

Meister Yehudi erlegt Walt eine ganze Reihe von Prüfungen auf: fünfunddreißig Stufen sind zu bewältigen. Es beginnt damit, dass er Walt lebendig eingräbt.

Ich wurde mit einem Ochsenziemer ausgepeitscht; ich wurde von einem galoppierenden Pferd gestoßen; ich wurde zwei Tage lang ohne Essen und Trinken auf dem Dach der Scheune festgebunden; ich bekam die Haut mit Honig eingeschmiert und musste dann, von tausend Fliegen und Wespen umschwärmt, nackt in der heißen Augustsonne stehen; ich saß eine ganze Nacht lang in einem Feuerkreis, bis mein Körper über und über mit Brandblasen bedeckt war; ich wurde mehrmals für sechs Stunden in ein Fass mit Essig gesteckt; ich wurde vom Blitz getroffen; ich trank Kuhpisse und aß Pferdescheiße; ich nahm ein Messer und schnitt mir das letzte Glied meines linken kleinen Fingers ab; ich hing drei Tage und drei Nächte lang in einem Kokon aus Stricken an einem Balken auf dem Dachboden.

Als die Ernte durch ein Unwetter vernichtet wird und die Bewohner der Farm hungern, organisiert Meister Yehudi eine größere Lieferung Konserven. Beim Öffnen einer dieser Dosen verletzt sich Äsop allerdings an der Hand, und weil es dadurch zu einem Wundbrand kommt, amputiert ihm der Meister den Finger. Vor Aufregung stürzt Mutter Sue über die Treppe und bricht sich ein Bein. Das bedeutet, dass zwei Arbeitskräfte ausfallen und obendrein gepflegt werden müssen.

Bald darauf wurde ich still, fast heiter; ich fühlte, wie sich eine Gelassenheit in mir ausbreitete, die mir nach und nach durch die Muskeln bis in die Fingerspitzen und Zehen strömte. In meinem Kopf waren keine Gedanken mehr, in meinem Herzen keine Gefühle. Ich war schwerelos in meinem Körper, trieb auf einer friedlichen See des Nichtseins, vollkommen losgelöst, vollkommen gleichgültig gegen die Welt um mich her. Und da habe ich es zum ersten Mal getan – ohne Vorwarnung, ohne die leiseste Ahnung, dass es nun passieren würde. Ganz langsam hob sich mein Körper vom Boden.

Aber dieser Durchbruch erfüllte mich keineswegs mit Freude und Begeisterung, sondern machte mir schreckliche Angst. Ich kannte mich selbst nicht mehr. In mir lebte etwas, das nicht zu mir gehörte, und dieses Etwas war so furchterregend, so fremd in seiner Neuheit, dass ich es nicht fertigbrachte, darüber zu reden.

Marion Witherspoon kommt aus Wichita, um zu helfen.

An Weihnachten 1926 überrascht Walt alle statt mit einem Geschenk mit einer Levitation. Meister Yehudi ist begeistert, meint jedoch, nur ein paar Zentimeter über den Boden zu schweben reiche für eine Show nicht aus. Walt müsse es schaffen, höher zu kommen und sich in der Luft auch vorwärts, rückwärts und seitwärts zu bewegen; mit Schweben und Schwingen könne man Geld machen.

Anfang Februar 1927 verlässt Meister Yehudi mit Äsop die Farm. Einen Monat lang wollen sie Universitäten besichtigen und dann entscheiden, wo Äsop sich im September immatrikulieren soll. – Die Wahl fällt auf Yale.

Weil ohnehin geplant ist, dass alle die Farm verlassen, wird in diesem Frühjahr nichts mehr gesät.

Während Charles Lindbergh im Mai 1927 den Atlantik erstmals allein in einem Flugzeug nonstop überquert und von New York nach Paris fliegt, üben Meister Yehudi und Walt die Levitation über einem See. Walt kann zwar nicht schwimmen, schwebt jedoch über dem Wasser, und es sieht so aus, als gehe er wie Jesus auf der Oberfläche.

Am 6. Juni 1927 hört Meister Yehudi plötzlich etwas und rennt vom See zur Farm zurück. Walt folgt ihm. In der Nähe des Hauses verstecken sie sich. Hilflos müssen sie zusehen, wie zwölf Männer vom Ku Klux Klan Äsop und Mutter Sue an Ästen aufknüpfen. Die Farm brennen sie nieder.

Nachdem Meister Yehudi und Walt die Toten begraben haben, verlassen sie Cibola und fahren zu Marion Witherspoon nach Wichita.

Erst jetzt merkt Walt, dass Mrs Witherspoon, die sich sonst gern damenhaft gibt, raucht und säuft, ständig von Geld redet und sich einer ordinären Sprache bedient, wenn sie betrunken ist.

Am 25. August 1927 versuchen Meister Yehudi und Walt ihren ersten öffentlichen Auftritt. Aber die Bauern, die sie sich als Publikum ausgesucht haben, lassen sich weder von Meister Yehudis Frack noch von Walts Schweben und Schwingen beeindrucken. Jemand wirft eine Flasche nach dem Jungen und trifft ihn am Kopf. Walt verliert das Bewusstsein, stürzt ab und wäre ertrunken, wenn sein Meister ihn nicht aus dem See gefischt hätte.

Aufgrund dieser Erfahrung versuchen sie es mit normaler Straßenkleidung und gehen auf Tour. Walt lernt, auf imaginäre Treppen zu steigen und Leitern zu klettern und macht daraus ein Programm. Indem er coram publico ständig etwas Neues ausprobiert, kommt er sich nicht mehr wie ein Roboter vor, der eine einstudierte Zirkusnummer wiederholt, sondern wie ein kreativer Künstler.

Nach einigen Monaten meint Walt, es sei an der Zeit, Mutter Sue und Äsop zu rächen, aber Meister Yehudi sieht dafür keine Möglichkeit, zumal er nicht damit rechnet, dass die Polizei etwas gegen den Ku Klux Klan unternehmen würde.

Im Herbst 1928, in Gibson City, Illinois, taucht unerwartet Edward J. Sparks bei ihnen auf. Der Witwer – seine Frau kam bei einem Tornado im Vorjahr ums Leben – hat in der Zeitung von den Erfolgen seines Neffen gelesen und will mit 25 Prozent am Gewinn beteiligt werden. Meister Yehudi und Walt lassen ihn stehen und fahren mit ihrem Wagen los.

Als ich sein Gesicht im Rückfenster sah, wusste ich, dass er jetzt endlich ein Ziel hatte, dass der Arsch jetzt endlich den Sinn des Lebens entdeckt hatte.

Bei jeder Vorführung befürchtet Walt, seinen Onkel zu sehen, aber fünf Monate passiert nichts. Dann wird Walt während eines Kinobesuchs in Northfield, Minnesota, mit von Sparks und dessen Kumpan Fritz mit Äther betäubt und entführt. Fritz‘ Aufgabe ist es, die Geisel zu bewachen, und weil er gehört hat, Walt könne fliegen, nimmt er ihm sicherheitshalber nie die Fesseln ab, sondern füttert ihn lieber. Nach einem Monat kündigt Sparks die von ihm inzwischen ausgehandelte Lösegeldübergabe an. Bevor es so weit ist, will er erfahren, mit welchem Trick sein Neffe arbeitet. Walt beteuert, es gebe keinen Trick, aber das glaubt ihm sein Onkel nicht. Er soll es auf der Stelle vormachen. Dazu muss Fritz ihm die Fesseln abnehmen. Das hält Fritz für keine gute Entscheidung, aber er fügt sich murrend. Während die beiden Männer sich streiten, schafft Walt es trotz der erschlafften Muskeln zum Auto seines Onkels. Der versucht ihn mit Schüssen aufzuhalten, aber Walt erwischt ihn mit einem Kotflügel am Knie und wirft ihn zu Boden.

Weit kommt er nicht. Dann geht der Sprit aus. Von einem Anhalter lässt er sich zur nächsten Polizeidienststelle mitnehmen. Die ist in Rapid City, South Dakota. Und von dort holt Meister Yehudi ihn ab. Einen Monat lang erholen sie sich unter falschen Namen auf der Halbinsel Cape Cod.

Die Ersparnisse von Marion Witherspoon und Meister Yehudi hätten nicht für das Lösegeld gereicht. Um die geforderte Summe von dem Unternehmer Orville Cox zu bekommen, verlobte Marion Witherspoon sich mit dem Mann, der ihr schon fünf Heiratsanträge gemacht hatte.

Durch die Pressemeldungen über die Entführung wird Walt berühmt. An Engagements ist deshalb kein Mangel mehr. Mit Hilfe des Meisters stellt er eine mehrteilige Bühnenshow zusammen und tritt in Varietés auf.

In New Haven, Connecticut, kommt er nicht hoch genug in die Luft. Als er übers Publikum hinweg fliegt, springt ein Zuschauer auf und schlägt nach seiner Ferse. Walt stürzt ab und prallt mit der Stirn gegen die Metallkante einer Sitzlehne. Nachts geht er ins Bad, um Kopfschmerztabletten zu suchen – und trifft dort auf den Meister, der sich vor Schmerzen krümmt. Walt macht sich Sorgen. Was ist mit Meister Yehudi?

Von da an leidet er nach jeder Vorstellung unter heftigen Kopfschmerzen. Sobald der Vorhang fällt, bricht er zusammen. Schließlich kommt er erst in einem Krankenhaus in Philadelphia wieder zu sich. Er liegt noch dort, als am 29. Oktober 1929 die Börse zusammenbricht. Zwölf Tage lang wird er untersucht, aber die Ärzte finden nichts. Meister Yehudi weiß aus der Literatur, dass es bereits Fälle von Kindern gab, deren Fähigkeit zur Levitation mit der Pubertät endete. In so einem Fall hilft allenfalls eine Kastration. Aber das will der Meister seinem Schüler nicht antun, zumal der Erfolg ungewiss ist.

Am 3. November 1929 probiert Walt es im Krankenhaus mit einer kurzen Levitation, aber heftige Kopfschmerzen überzeugen ihn davon, dass der Meister Recht hat: Mit seiner Karriere als fliegender Wunderknabe ist es vorbei.

Meister Yehudi schickt ihn jedoch nicht fort, sondern will mit ihm nach Hollywood und ihn dort zum Filmschauspieler machen. Sie fahren los.

Am 16. November 1929, in der Mojave-Wüste, versperren ihnen vier Männer die Straße. Einer von ihnen hinkt. Edward J. Sparks! Yehudi fährt ein Stück rückwärts, wendet, aber bevor er richtig Gas geben kann, zerfetzt ein Schuss einen der Reifen. Yehudi wird in die rechte Schulter getroffen. Er verliert die Kontrolle über den Wagen, und sie stürzen um. Sparks und seine Kumpane öffnen den Kofferraum und rauben die Geldkassette mit den gesamten Ersparnissen, lassen die beiden Insassen jedoch am Leben.

Walt zieht den Verletzten aus dem Wrack und setzt ihn auf der Schattenseite auf den Boden. Die nächste Ortschaft ist sechzig Kilometer entfernt, und Autos fahren hier nur selten. Meister Yehudi fordert Walt auf, die Pistole aus dem Handschuhfach zu holen. Ruhig versucht der Sechsundvierzigjährige seinem Schüler zu erklären, dass er keine Überlebenschance hat, nicht nur wegen der Verletzungen, sondern auch, weil seine Krebserkrankung nicht mehr heilbar ist. Er möchte von Walt erschossen werden. Weil Walt das jedoch nicht fertigbringt, tötet Meister Yehudi sich am Ende selbst.

Walt überlebt und schlägt sich wieder wie als Kind durch Betteln durch. Es dauert über drei Jahre, bis er im Januar 1933 seinen Onkel in Rockford westlich von Chicago aufspürt. Sparks bewacht dort ein Lager mit unverzolltem kanadischen Roggenwhiskey. Mit der Pistole seines Meisters in der Hand zwingt Walt den Verbrecher, Milch zu trinken, die er mit Strychnin versetzt hat, denn er will, dass sein Opfer den Tod kommen sieht.

Nachdem Sparks tot zusammengebrochen ist, wird Walt von Bingo Walsh überrascht. Ihm gehört das Lager. Als rechte Hand des Paten O’Malley beherrscht er Chicago. Walt überredet den Mafioso, ihn als Ersatz für Sparks anzuheuern.

So beginnt er eine Verbrecherkarriere. 1936 bringt er es zum Geschäftsführer eines illegalen Wettbüros im Hinterzimmer einer chemischen Reinigung.

Im Oktober 1936 trifft er zufällig Marion Witherspoon auf der Straße, und sie nimmt seine Einladung in ein teures Restaurant an. Sie heiratete Orville Cox doch nicht. Seit fünf Jahren lebt sie in New York. In Chicago hat sie geschäftlich zu tun. Marion Witherspoon, die rasch durchschaut, womit Walt sein Geld verdient, bietet ihm die Leitung eines Ölprojekts in Texas an, weil sie nicht glaubt, dass er im organisierten Verbrechen eine Zukunft hat. Aber Walt ist zufrieden mit seinem Leben in Chicago und lehnt das Angebot ab.

Ein Jahr später gewinnt er durch die Wette auf einen Außenseiter in einem Pferderennen sehr viel Geld und eröffnet damit am 31. Dezember 1937 den Nachtklub „Mr Vertigo“, der sich rasch zur Nummer eins in Chicago entwickelt. Allerdings muss er Bingo Walsh die Hälfte seines Gewinns überlassen.

Am 4. September 1939, drei Tage nach dem Überfall der Deutschen auf Polen, betritt Dizzy Dean das Lokal, ein früherer Baseball-Star, der seit einer Verletzung nicht mehr in Form ist, aber nicht einsehen will, dass seine Karriere vorbei ist und sich immer wieder blamiert. Dizzy Dean kommt häufiger ins „Mr Vertigo“ und freundet sich mit dem Besitzer an. Walt kann die vergeblichen Bemühungen des Sportlers, wieder zur Spitze aufzusteigen, nicht länger mit ansehen. Am 10. April 1940 ruft er ihn in sein Büro und versucht ihn zum Selbstmord zu überreden. Walt holt die Pistole aus der Schreibtisch-Schublade, mit der sich der Meister erschoss, und weil Dizzy Dean sich sträubt, will er ihn töten. Da klopft Pat, die Frau des Baseballspielers, an der Tür. Das Ehepaar zeigt Walt an. Er wird verhaftet. Der Richter stellt ihn vor die Entscheidung, entweder zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden oder sich freiwillig zur Armee zu melden.

Walt wählt den Kriegsdienst und überschreibt Bingo Walsh den Klub, bevor er nach Europa abkommandiert wird.

Im November 1945 kommt er zurück. Er schlägt sich als Barkeeper und mit Pferdewetten durch. Ein halbes Jahr lang ist er verheiratet. 1950 mietet er eine Wohnung in Newark, New Jersey, und fängt in einer Großbäckerei zu arbeiten an. Er heiratet Molly Fitzsimmons, eine kinderlose Witwe, deren irischer Ehemann 1943 bei Messina fiel. Dreiundzwanzig Jahre lang führen sie eine glückliche Ehe. Dann erkrankt Molly an Brustkrebs und stirbt. Vor Trauer beginnt Walt zu trinken und verliert deshalb seinen Arbeitsplatz. Zwei Brüder seiner Frau bringen den Achtundfünfzigjährigen zum Entzug ins Saint Barnabas Hospital in Livingston.

Die Arztrechnungen haben alle Ersparnisse aufgezehrt. Sein Lieblingsneffe Daniel Quinn, der als Professor in Denver tätig ist, will ihm 1974 einen Job als Hausmeister vermitteln. Auf dem Weg dorthin macht Walt einen Abstecher nach Wichita – und trifft dort, was er gar nicht erwartet hätte, auf Marion Witherspoon. Sie ist inzwischen Mitte siebzig. Durch eine Fehlinvestition büßte sie neun Zehntel ihres Vermögens ein und musste ihr Apartment in Manhattan aufgeben. Seit dem Krieg eröffnete sie zweiunddreißig Waschsalons. Walt übernimmt es, die Waschmaschinen am Laufen zu halten. Er zieht zu ihr ins Haus. Elf Jahre lang leben sie wie ein Ehepaar zusammen. Als Marion krank wird, verkauft Walt die Waschsalons und pflegt sie bis zu ihrem Tod, statt sie in ein Heim zu bringen.

Danach schreibt er das vorliegende Buch. Das Manuskript legt er in ein Bankschließfach und sucht dann seinen Rechtsanwalt John Fusco auf, um den Inhalt des Schließfachs seinem Neffen Daniel Quinn zu vermachen. Der wird wissen, was er mit dem Manuskript anfangen soll.

Seit vier Jahren arbeitet Yolanda Abraham als Putzfrau für Walt. Sie stammt von einer Karibik-Insel, ist schwarz, zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt und hat, obwohl sie nicht verheiratet ist, einen achtjährigen Sohn: Yusef. Walt glaubt, dass der Junge fliegen könnte. Aber die Zeiten haben sich geändert: Niemand würde die Torturen auf sich nehmen, die Walt durchgestanden hatte. Man würde die Polizei rufen. Vielleicht wäre die Quälerei aber auch damals gar nicht erforderlich gewesen.

Tief im Innern glaube ich nicht, dass jemand ein besonderes Talent haben muss, um sich vom Boden zu lösen und in der Luft herumzuschweben. Wir alle haben es in uns – jeder Mann, jede Frau, jedes Kind –, und mit genügend harter Arbeit und Konzentration ist jeder Mensch in der Lage, die Kunststücke, die ich als Walt der Wunderknabe vollbracht habe, zu wiederholen. Sie müssen lernen, aus sich herauszutreten. Damit fängt es an, daraus ergibt sich alles Weitere. Sie müssen sich gewissermaßen in Luft auflösen. Lassen sie die Muskeln schlaff werden, atmen Sie, bis Sie spüren, wie Ihre Seele aus Ihnen herausströmt, und dann schließen Sie die Augen. So geht das. Die Leere in Ihrem Körper wird leichter als die umgebende Luft. Mit der Zeit wiegen Sie weniger als nichts. Sie schließen die Augen; Sie breiten die Arme aus; Sie lösen sich auf. Und dann steigen Sie ganz langsam vom Boden auf.
Etwa so.

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Mit zwölf Jahren bin ich zum ersten Mal übers Wasser gegangen.

Mit diesem Satz beginnt Paul Auster seinen Roman „Mr Vertigo“. Die fiktive Biografie des Ich-Erzählers Walter („Walt“) Claireborne Rawley entwickelt sich vor dem Hintergrund markanter Ereignisse der Zeitgeschichte (Prohibition, Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg). „Mr Vertigo“ handelt von einer Spirale, die sich aus Erfolgen und wiederholtem Scheitern, Neuanfängen und Niederlagen zusammensetzt. Walt lernt es, Menschen und Dinge loszulassen, die er nicht festhalten kann, nach vorn zu blicken und sich auf Neues einzulassen. Das alles steht für den amerikanischen Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten.

Paul Auster verknüpft die parabelhafte Geschichte des Wunderkindes mit Versatzstücken aus den Genres Road-Story, Thriller und Gangsterepos. Das ist formal und sprachlich überzeugend, fantasievoll und sehr unterhaltsam – bis zum Wiedersehen von Walt Rawley und Marion Witherspoon 1936 in Chicago (also bis Seite 272). Die restlichen fünfunddreißig Seiten des Buches fallen dagegen ab.

Die Levitation wird von Paul Auster so nachvollziehbar geschildert, dass man es für realistisch hält, wenn der Protagonist vom Boden abhebt.

Bei der Levitation durch einen Zauberkünstler auf der Bühne handelt es sich um eine klassische Illusion, bei der ein Mensch („schwebende Jungfrau“) oder ein Gegenstand zu schweben scheint. John Gaughan brachte den Trick Mitte der Neunzigerjahre auf ein Niveau, das es David Copperfield ermöglichte, durch den Saal zu „fliegen“ und dabei sogar Zuschauerinnen mitzunehmen. In „Mr Vertigo“ ist allerdings nicht die Illusion gemeint, sondern die Levitation als eine Form der Psychokinese, die Fähigkeit des Menschen, ohne Hilfsmittel zu schweben. Berichte über Menschen, die dazu angeblich in der Lage waren, gab es immer wieder, aber ein wissenschaftlicher Nachweis für eine gelungene Levitation wurde nie erbracht. Umgekehrt konnte allerdings zum Beispiel Daniel Dunglas Home (1833 – 1886), der immer wieder coram publico schwebte, keines Tricks bzw. Betrugs überführt werden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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