Adriana Altaras : Titos Brille

Titos Brille
Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011 ISBN: 978-3-462-04297-9, 263 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Thea und Jakob Altaras engagierten sich in Jugoslawien im Widerstand gegen die Faschisten und traten nach dem Zweiten Weltkrieg in die kommunistische Partei ein. 1958 heirateten die Architektin und der Arzt. Aus politischen Gründen emigrierten sie und gelangten nach Gießen, wo sie eine jüdische Gemeinde ins Leben riefen. Ihre Tochter, die Regisseurin und Schauspielerin Adriana Altaras, wird nach dem Tod der Eltern mit der Familiengeschichte konfrontiert ...
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Kritik

Adriana Altaras erzählt nicht chronologisch oder auf andere Weise systematisch, sondern im lockeren Plauderton hin und her springend. Unverblümt und unsentimental, ironisch und ohne ein Zuviel an Respekt greift sie einzelne Stationen der Familienchronik auf.
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Ich bin Jüdin. Jahrgang 1960. So, jetzt ist es heraus.

Die Ich-Erzählerin Adriana Altaras wurde am 6. April 1960 in Zagreb geboren. 1967 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte an der Max-Reinhardt-Schauspielschule (heute: Universität der Künste) in Berlin. Nach einem kurzen Aufenthalt in New York gehörte sie in Berlin zu den Gründungsmitgliedern des „Theaters zum westlichen Stadthirschen“, in dem sie sich als Darstellerin und Regisseurin betätigte. Bis zum Fall der Mauer [Wiedervereinigung] spielte sie in fünf Filmen mit. Dass sie zunächst nur wenige Rollenangebote bekam, wurde mit ihrem ausländischen Aussehen begründet.

Ich spielte die Türkin, die Serbin, die Kroatin, die Griechin, die Russin, die Sizilianerin – wen auch immer. Fast immer putzte ich.

Als sie sich dann als Jüdin outet, wird sie in Talkshows eingeladen und vom Goethe-Institut auf Reisen geschickt.

Am 6. Dezember 2001 stirbt ihr Vater.

Jakob Altaras wurde am 12. Oktober 1918 in Split als jüngster von sechs Söhnen des Ehepaars Leon und Regina Altaras geboren. Nach dem Abitur begann er 1936 in Zagreb Medizin zu studieren.

Am 5. April 1941, einen Tag vor der deutschen Okkupation Jugoslawiens, floh er nach Italien. Während er dort weiterstudierte, schloss er sich Titos Partisanenarmee an. Im April 1943 brachte er 40 jüdische Kinder aus Kroatien über die Adria nach Nonantola bei Modena und beschaffte ihnen italienische Pässe. (Als die Deutschen sich im September 1943 der Gegend näherten, wurden die Kinder von der Landbevölkerung versteckt, bis sie später nach Palästina gelangten.)

Im Juni 1943 besichtigte Jakob Altaras das italienische Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab und erkundete dabei Fluchtmöglichkeiten.

In Adriana Altaras Familie werden später Geschichten über diese Zeit erzählt, um die Wahrheit zu verschleiern.

Zum Beispiel die Geschichte von Titos Brille: Kroatien im Krieg 1944, Marschall Titos Brille ist kaputt. Die Partisanen, angeführt von ihrem Genossen Tito, haben sich in den zerklüfteten Bergen Kroatiens verschanzt, bieten keine Angriffsfläche. Die Ustascha kriegen sie nicht zu fassen. Es sind heikle Momente. Mein Vater repariert Titos Brille. Die Partisanen gewinnen den Kampf. Mein Vater wird zum Helden ernannt und bleibt es fortan.
Ich steige vom Fahrrad, setze mich an die Theke meines Lieblingscafés und rede übergangslos laut weiter. Man kennt mich dort.
„Schön“, sagt Frank, der Kellner im Café Savigny, und lächelt mich freundlich an, „und?“
„Mein Vater ist tot und irgendwie stimmt es vorn und hinten nicht.“
„Aha“, meint Frank.
„Ja“, sage ich. „Marschall Tito trug damals nämlich überhaupt gar keine Brille.“

1944 promovierte Jakob Altaras in Bari. Das Staatsexamen wiederholte er zwei Jahre später in Zagreb und wurde Radiologe. Mitte der Fünfzigerjahre übernahm er die Leitung des Zentrums für Radiologie und Nuklearmedizin im Militärkrankenhaus Zagreb. 1958 habilitierte er sich.

Im selben Jahr heiratete er zum zweiten Mal.

Thea wurde am 11. März 1924 in Zagreb geboren. Ihr deutschstämmiger Vater Sigismund Fuhrmann hatte als mittelloser Glasbläser seine ungarische Heimat verlassen und war über Prag und Wien nach Zagreb gelangt, wo er mit einem Glas- und Porzellan-Großhandel reich geworden war. 1919 hatte der 38-Jährige die 15 Jahre jüngere Kroatin Hermine Lausch geheiratet.

Als die Deutschen im April 1941 in Jugoslawien einmarschierten, wollte Sigismund Fuhrmann nicht einsehen, dass die jüdische Familie gefährdet war. Ab Mai mussten Juden einen gelben Stern an der Kleidung tragen. Die Aufregung war zu viel für Sigismund Fuhrmann: Er erlag noch im selben Jahr einem Herzinfarkt. Die Witwe floh daraufhin mit ihren 21 bzw. 17 Jahre alten Töchtern Jelka und Thea vor der Ustascha, aber sie wurden kurz vor der Grenze von den italienischen Besatzern aufgegriffen und zunächst ins Konzentrationslager in der nordwestkroatischen Stadt Kraljevica und dann ins KZ Kampor auf der Insel Rab gebracht. Als die Italiener nach der Kapitulation im September 1943 die Lager öffneten, kehrten Hermine und Thea Fuhrmann in ein von den Alliierten bereits befreites Gebiet auf der Balkanhalbinsel zurück.

Thea Fuhrmann schloss sich dem Widerstand gegen die Faschisten an, und nach dem Krieg trat sie in die kommunistische Partei ein. Nachdem sie das Abitur nachgeholt hatte, begann sie Architektur zu studieren. 1952 erhielt sie ihr Diplom.

Jelka, die 1946 den italienischen Geometer Giorgio Motta geheiratet hatte und in Mantua lebte, erfuhr nach dem Krieg, dass ihre Mutter und ihre Schwestern lebten. 1948 reiste sie nach Zagreb, und sie sahen sich nach fünf Jahren erstmals wieder.

Thea Fuhrmann und Jakob Altaras hatten sich bereits Mitte der Dreißigerjahre in Split kennengelernt. Nachdem Jakobs erste Frau gestorben war, heirateten sie 1958 in Zagreb.

1960 wurde die Tochter Adriana geboren.

Das Mädchen spielte bereits im Alter von drei Jahren in dem Film „Nikoletina Bursac“ (Regie: Branko Bauer) mit. Die Premiere fand an Titos Geburtstag am 7. Mai 1964 statt, aber die Familie Altaras konnte nicht daran teilnehmen, denn zu diesem Zeitpunkt beendeten parteiinterne „Säuberungen“ die Karriere des kommunistischen Arztes, und er setzte sich ins Ausland ab. Die Familie sollte nachkommen. Die Behörden entzogen jedoch seiner Frau den Pass. Jelka und Giorgio Motta kamen nach Zagreb und schmuggelten auf dem Rückweg die vierjährige Adriana aus dem Land. Das Kind wuchs nun weiter bei Tante und Onkel in Mantua auf.

Thea Altaras gelang erst im Jahr darauf die Flucht nach Italien. Weil sie dort keine Aufenthaltserlaubnis bekam, zog sie nach Konstanz, beantragte politisches Asyl in Deutschland und arbeitete im Hochbauamt der Stadt. In die Schweiz durfte sie nicht einreisen, aber am Schlagbaum traf sie sich mit ihrem Mann, der von 1964 bis 1966 am Röntgendiagnostischen Zentralinstitut der Universität arbeitete und dort sein Staatsexamen wiederholte.

1966 wechselte Jakob Altaras zur Universitätsklinik Gießen, avancierte dort im Jahr darauf zum Oberarzt für Radiologie und wurde 1969 außerordentlicher Professor für Radiologie. Thea Altaras fand schließlich ebenfalls eine Anstellung in Gießen. Die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten sie und ihr Mann 1968 bzw. 1970. Adriana Altaras kam 1967 in das Waldorf-Internat in Marburg. Die Ferien verbrachte sie in Mantua.

Meine Mutter wirkte auf mich immer abweisend und kalt. Umarmte ich sie, erstarrte sie, hielt den Atem an, bis ich wieder losließ. Oft dachte ich damals, sie könne mich nicht leiden. Irgendwann wollte ich sie auch nicht mehr anfassen, ekelte mich. Heute denke ich, wie überfordert sie gewesen sein muss: Als sie 15 war, wurden in Jugoslawien die Rassengesetze eingeführt, sie musste die Schule verlassen, den Judenstern tragen, ihr gewohntes Leben aufgeben. Sich verstecken, fliehen. Mit 17 kam sie ins Lager. Der Ekel vor den Demütigungen, vor den anderen Inhaftierten, der Ekel vor sich selbst. Etwas war in ihr erfroren, für immer.

1978 gründete Jakob Altaras eine neue jüdische Gemeinde in Gießen und übernahm den Vorsitz.

1984 ging er in den Ruhestand. Wegen eines Augenleidens hörte auch seine Frau als Architektin zu arbeiten auf. 1985 bzw. 1986 wurden Jakob und Thea Altaras mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Auf Betreiben Thea Altaras‘ wurde 1995 die ehemalige Synagoge der hessischen Landgemeinde Whora in Gießen wieder aufgebaut.

1998 beantragte Thea Altaras, deren Mutter am 31. Januar 1973 gestorben war, die Rückgabe des Familienbesitzes in Zagreb. Dafür hätte sie die kroatische Staatsangehörigkeit gebraucht, aber auf die deutsche wollte sie nicht verzichten und eine doppelte Staatsbürgerschaft ließ die Bundesrepublik nicht zu.

Am 6. Dezember 2001 stirbt Jakob Altaras an Pankreaskrebs. Zur Beerdigung kommen 500 Trauergäste. Der Kantor verspätet sich und trägt einen fettglänzenden Kaftan.

Er kommt angerannt, zu spät natürlich, muss rasch auf der Schwelle die Zigarette ausdrücken, lehnt seine Aldi-Plastiktüte an den Sarg und verschwindet kopfüber in dieser.

Nachdem er seinen Gebetsschal umgelegt hat, beginnt er zu singen.

Adriana Altaras räumt mit ihrer 14 Jahre älteren, aus Zagreb angereisten Halbschwester Rosa aus der ersten Ehe des Vaters das Büro des Verstorbenen aus. Dabei stoßen sie auf ein Dokument des Geistlichen Albert Altaras aus dem Jahr 1962, in dem dieser sich bereit erklärte, seinen Bruder Jakob bei sich in New York aufzunehmen. Offenbar dachte Adrianas und Rosas Vater bereits zwei Jahre vor dem Schauprozess über eine Emigration nach.

Als Thea Altaras mit einer schweren Embolie ins Krankenhaus gebracht wird, fliegt Adriana nach Frankfurt am Main, während ihr Ehemann Georg mit den beiden Söhnen in Berlin bleibt. Die Ärzte legen der Patientin einen Bypass und amputieren ihr das rechte Bein. Am 28. September 2004 stirbt Adrianas Mutter. Die Beisetzung findet am 3. Oktober statt, dem Tag der Deutschen Einheit.

Adriana macht sich an die Wohnungsauflösung in Gießen. Am Telefon sagt sie zu einem Freund:

Ich habe gelesen. Ich habe in zwei Tagen 12 Jahre Naziregime, 25 Jahre jugoslawischen Sozialismus und 20 Jahre BRD durchlebt, anhand von Unterlagen, Briefen und Dokumenten aus zwei alten hellbraunen Lederkoffern.

Die alten Dokumenten, Aufzeichnungen und Fotos regen Adriana Altaras dazu an, über ihre Herkunft und Identität nachzudenken.

Obwohl sich ihre Religionsausübung damals auf hohe Feiertage beschränkte, ließ sie ihren am 21. November 1995 geborenen Sohn Aaron (in „Titos Brille“ nennt sie ihn David) beschneiden und feierte das mit 120 Gästen. Im Alter von neun Jahren spielt Aaron Altaras in dem Film „Nicht alle waren Mörder“ den jungen Michael Degen. Dafür wird er im Frühjahr 2007 mit einem „Grimme“-Preis ausgezeichnet. Im Jahr darauf feiert er mit 170 geladenen Gästen seine Bar-Mizwa. In drei Jahren steht auch die Bar-Mizwa seines jüngeren Bruders an.

Adriana Altaras‘ in New York lebende Cousine Deborah, die jüngste Tochter ihres Onkels Albert Altaras, stößt auf einen Urologen aus Zagreb, der Adriano Altaras heißt. Es könnte es sich um einen Halbbruder Adriana Altaras‘ handeln.

Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Adriano Altaras mein Bruder ist. Aber so genau will ich das gar nicht wissen. Wenigstens ein Familiengeheimnis möchte ich behalten, denn wer wegwirft, ist ein Faschist.

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Unter dem Titel „Titos Brille“ erzählt die Regisseurin und Schauspielerin Adriana Altaras die Geschichte ihrer „strapaziösen Familie“. Sie tut das nicht chronologisch oder auf andere Weise systematisch, sondern im lockeren Plauderton anekdotisch hin und her springend. An einigen Stellen fügt sie Zitate aus Dokumenten ein. Unverblümt und unsentimental, ironisch und ohne ein Zuviel an Respekt greift sie einzelne Stationen der Familienchronik auf. Der Sprachwitz ist allerdings nicht immer treffsicher.

Es war mir lieber zu besetzen, als besetzt zu werden – siehe Polen.

„Titos Brille“ dreht sich um Herkunft, Tradition und die Frage, wie weit man sich von der eigenen Familiengeschichte und den damit verbundenen Konventionen prägen lassen bzw. befreien sollte.

Den autobiografischen Roman „Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie“ von Adriana Altaras gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von der Autorin (Regie: Wolf-D. Fruck, Köln 2011, 350 Min, ISBN 978-3-8371-0852-1).

Regina Schilling verfilmte das Buch von Adriana Altaras mit der Autorin: „Titos Brille“ (2014).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012 / 2014
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch
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