Adriana Altaras : Das Meer und ich waren im besten Alter

Das Meer und ich waren im besten Alter
Das Meer und ich waren im besten Alter Geschichten aus meinem Alltag Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017 ISBN: 978-3-462-04958-9, 215 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Adriana Altaras vermittelt in "Das Meer und ich waren im besten Alter" Beobachtungen und Gedanken über Alltägliches, das Familienleben, das Altern, aber auch über politische, kulturelle und gesellschaftliche Phänomene. Bei den 2014 bis 2016 veröffentlichten Beiträgen handelt es sich um Essays, Selbstbekenntnisse, Anekdoten und Kurzgeschichten.
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Kritik

Einige der 32 Beiträge sind trivial, andere klug und witzig. In der Summe ist "Das Meer und ich waren im besten Alter" ein buntes, unterhaltsames Plädoyer für Freiheit, Toleranz und Zivilcourage, gegen Feigheit, Fanatismus und Rassismus.

Das Meer und ich waren im besten Alter. Weise, dabei herrlich entspannt.

Diesem Satz in der kurzen Geschichte „Septembermeer“ entnahm Adriana Altaras den Titel für ihr Buch „Das Meer und ich waren im besten Alter. Geschichten aus meinem Alltag“. Sie schreibt in der Ich-Form, und aufgrund der Über­ein­stim­mun­gen mit ihrer eigenen Biografie ist anzunehmen, dass es sich dabei nicht um eine fiktive Figur handelt. Allerdings nennt sie ihren aus Westfalen stammenden Ehemann in „Das Meer und ich waren im besten Alter“ Georg – ebenso wie in „Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie“ und „Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus“ –, obwohl es sich in der Realität um den Komponisten Wolfgang Böhmer (* 1959) handelt. Und die Söhne heißen statt Aaron (* 1995) und Leonard („Lenny“, * 2000) David und Sammy.

Zum Schutz von Personen wurden Namen und Orte zum Teil verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen an manchen Stellen modifiziert und fiktionalisiert.

Die 32 unter dem Titel „Das Meer und ich waren im besten Alter“ zusammen­getra­genen Beiträge wurden bereits zwischen 2014 und 2016 in Zeitungen, Zeit­schriften und anderen Büchern veröffentlicht,

„Luther und die Sauna“ beispiels­weise in „Freiheit und Verantwortung. 95 Thesen heute“ (Hg.: Wilhelm Genazino, Stuttgart 2016). Adriana Altaras hat sie in Herbst – Winter – Frühjahr – Sommer – Herbst gegliedert, aber die meisten Kapitel haben gar keinen Bezug zu einer bestimmten Jahreszeit. Jeder Abschnitt beginnt mit einem kursiv gesetzten Brief aus Berlin an eine uns unbekannte Frau in einem Land mit Wüstenklima („Meine Liebe“).

Die aus Kroatien stammende jüdische Ich-Erzählerin lebt seit 30 Jahren in Berlin. Es nervt die Schriftstellerin, Schauspielerin und Regisseurin, wenn sie bei jeder Lesung und Premiere nach ihrer Heimat gefragt wird. Wie schwer muss es erst für einen Mann wie den von Norman Issa in der Fernsehserie „Avoda Aravit“ gespielten israelischen, arabischen, muslimischen Journalisten Amjad sein, die Frage nach seiner Identität zu beantworten!

Auch wenn die Autorin nicht alles in der deutschen Gesellschaft gut findet, schätzt sie es sehr, dass sie hier ihre Meinung frei sagen kann.

[…] ich fühle mich wohl in Deutschland. Das mag den einen oder anderen verwundern, denn Pegida ist kein Kochkurs, und auch in der BRD mangelt es dank AfD nicht an rassistischen, antisemitischen Äußerungen. Im Gegenteil, sie werden zunehmend salonfähig, auch im Parlament. Aber es gibt viel mehr Andersdenkende und eine Demokratie, die es mir erlaubt, mich gegen Rassismus aufzulehnen. Wo mir zugehört wird, wenn ich protestiere, und ich nicht gleich zur Uzi oder Kalaschnikow greifen muss, um meinen politischen Gegnern zu antworten.

Als Abiturientin musste sie 1979 noch für eine freie Meinungsäußerung büßen:

Es sei das Recht einer jeden Frau, zu bestimmen, ob und wann sie ihr Kind austragen wolle. Nach Holland zu fahren, um abzutreiben, sei gefährlich und demütigend. Selbstbestimmung heiße das. Frauenrecht bedeute, dass wir Frauen unsere Rechte wahrnehmen müssten. Das alles sagte ich dem externen Prüfer, der in der Waldorfschule in Marburg die Abiturprüfung in Sozialkunde abnahm. Er lief rot an und gab mir eine Drei minus. Diese Themen waren für Hessen 1979 noch zu brisant.

Gern hört die Ich-Erzählerin zu, wenn ihr kurdischer und kommunistischer Fischhändler Nuri in Berlin über seine politischen Überzeugungen redet und kritisiert, wie Recep Tayyip Erdoğan den Putschversuch in der Türkei vom Juli 2016 für seine Zwecke instrumentalisiert.

Mein türkischer Fischhändler ist nämlich gar kein Türke, sondern Kurde, so geht es schon mal los. Er spricht sowohl Türkisch als auch Kurdisch, mit mir Gott sei Dank Deutsch.

Bei Rogacki in Berlin handelt es sich um einen renommierten Fisch- und Delikatessenladen, aber dort werden keine Gespräche wie mit Nuri geführt.

Bei „Rogacki“ habe ich damals auch stets guten Fisch bekommen, aber die Gespräche drehten sich um das Hundeverbot im Schlosspark Charlottenburg oder den Spielplan der Deutschen Oper.

Der Terrorismus macht der Autorin Angst, aber sie will ihr nicht nachgeben.

Natürlich habe ich Angst. Aber jeder vernünftige Mensch hat jetzt Angst, ob Jude, Nichtjude oder Atheist. Wenn ein paar brutale, durchgeknallte orthodoxe Terroristen sich und andere in die Luft sprengen, ist das zum Fürchten. Und es wird täglich schlimmer, und es kommt täglich näher. Paris, Brüssel, Kopenhagen, Istanbul, Nizza, aber auch Sousse, alles nur ein Katzensprung von Berlin. Der IS ist kosmopolitisch. International besetzt mit Engländern, Franzosen und Deutschen. Das ist das fürchterlich Neue an ihm: Er ist überall und nicht zu erkennen.
Ich habe schreckliche, vollständig bebilderte Zukunftsvisionen, und da ist Angst noch das harmloseste Gefühl. Aber ich will nicht. Ich will mich nicht fürchten müssen. Und ich will mich nicht kleinmachen. Denn so wollen sie mich haben: klein, vor Angst erstarrt, totgestellt wie ein Tier in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.

Neben solchen Selbstbekenntnissen lesen wir in „Das Meer und ich waren im besten Alter“ Anekdoten und Kurzgeschichten.

Zum Beispiel erzählt Adriana Altaras von ihrer 96-jährigen Tante Helena:

Seit einigen Tagen lebt meine Tante in einem Heim. Endlich. Die letzten Wochen waren abenteuerlich, mal lief sie bei Schnee und Eis verwirrt durch die Straßen auf der Suche nach ihrem Haus, mal suchte sie den Hund, der angeblich weggelaufen war, den sie aber versehentlich im Keller eingesperrt hatte. Wiederholt kam es zu Polizeieinsätzen. Tag und Nacht war ich alarmiert, was wohl als Nächstes passieren würde.
Sie ist sechsundneunzig, und damit hat sie das Recht des Alters, einigermaßen sonderlich zu werden. Die meiste Zeit aber ist sie mit Dieben beschäftigt. Sie glaubt, dass diese bei ihr ein und aus gehen. Zuletzt haben sie die kleinen Teller mitgenommen. „Bitte, Tantchen, wer sollte schon deine Teller nehmen statt echter Kostbarkeiten?“, habe ich sie gefragt. Sie lächelte maliziös und erwiderte: „Wer? Na derjenige, der kleine Teller braucht!“
Tja, was soll man dazu sagen. Meine Therapeutin meint, sie litte an einem Wahn, und das Entscheidende am Wahn sei, er ließe sich nicht durch die Wirklichkeit widerlegen. Tante sieht das anders. Sie sei normal und sehe klar, alle anderen seien das Problem.

Als Tante Helena unvermittelt behauptet, eigentlich Gretchen zu heißen, fragt ihre Nichte sie spöttisch nach Hänschen. Unbeirrt erzählt daraufhin die Greisin, wie sie und ein Junge namens Hans von ihrer Stiefmutter vor den Nazis im Wald versteckt wurden.

„Wir kamen wieder nach Hause, aber schon bald wurden die Repressalien immer schlimmer, das Leben für uns immer unsicherer. Unsere Stiefmutter, Katholikin, brachte uns erneut in den Wald, gab uns alles mit, was wir an Essen tragen konnten, und verschwand. Hans hielt sie für verlogen, sie wolle uns loswerden, meinte er. Ich glaube, sie handelte klug.“

Die Nichte sucht zu Hause die Geburtsurkunde der Tante heraus und liest verwundert den vollen Namen „Helena Gretchen Fuhrmann“. In den wirren Vorstellungen der alten Frau spiegelt sich noch immer die Judenverfolgung.

Anton, ein Nachbarjunge der Autorin, macht seiner Mutter Anja und den Lehrern mit seiner Hyperaktivität zu schaffen. ADHS wird bei ihm diagnostiziert.

Sind die Kinder, vor allen Dingen die Jungs, heute zappeliger? Oder ist es genau umgekehrt? Die Umgebung, in der Kinder aufwachsen, ist unruhiger, voller Reize und Möglichkeiten, vielleicht können sie darauf nur mit Nervosität reagieren? Tragen die Medien eine Mitschuld mit ihrer Dauerberieselung, Dauerbelastung? Macht die ununterbrochene Verfügbarkeit von Technik die Kinder nervös und krank? Und wieso erwischt es die Jungs häufiger? Was machen die Mädchen? Sind sie braver? Vielleicht. Sie werden Spezialistinnen für Sekundärtugenden, reagieren dafür mit allerlei Essstörungen. Die überforderten Eltern geben die Erziehungspflicht auf oder an die Lehrer weiter. Die durch die verkürzten Schuljahre selbst schon stark unter Druck stehen. Wie können Kinder da anders als überreagieren?

Als sich die Ich-Erzählerin ein wenig mit Anton beschäftigt, stellt sie beeindruckt fest, dass es sich um einen hochbegabten Jungen voller Energie, Fantasie und Kreativität handelt. Schließlich wird er jedoch mit Ritalin ruhiggestellt.

Ein Kapitel in „Das Meer und ich waren im besten Alter“ ist der Dichterin Mascha Kaléko (bürgerlich: Golda Malka Aufen, 1907 – 1975) gewidmet.

Ich konnte Mascha Kaléko nie leiden. Nicht, dass ich sie gelesen hätte. Nein, einfach so. Sie war, als ich in den frühen 80er-Jahren nach Berlin kam, derartig „in“, dass es zum Fürchten war. Alle lasen sie, sie gehörte zu einem gewissen linksliberalen Kanon. In jedem Café wurden ihre Texte als Matinee zum Besten gegeben, es gab auch Lesungen am Nachmittag und mitten in der Nacht. Kaléko zu jeder Tageszeit – das war mir suspekt. Und sowieso: das Hofieren der toten Juden löst bei mir immer wieder einen bitteren Geschmack aus. Ich wusste, sie war um die Jahrhundertwende in Galizien geboren, als kleines Mädchen nach Deutschland gekommen, bald nach Berlin. Na und? Viele Juden haben, bevor sie die Grundschule verlassen, bereits drei Länder passiert und ebenso viele Fremdsprachen gelernt. Ich will jetzt nicht angeberisch klingen, aber mit vier verließen wir Jugoslawien, mit sieben musste ich von Italien nach Deutschland, kein Grund, dafür gelobt zu werden, passierte nicht freiwillig und hat mit Sprachbegabung nichts zu tun. Man hat mehrere Heimaten verloren, bevor man Dreirad fahren kann.

Vom Rotaryclub Bad Kissingen zu einer Lesung aus Werken von Mascha Kaléko eingeladen, beginnt die Autorin sich mit der Dichterin zu beschäftigen – und ist beeindruckt:

Immer wieder werde ich gefragt, ob es jüdischen Humor gebe. Keine Ahnung, was das ist, aber Mascha Kaléko hatte eine Menge davon.
Das bleibt. Und ihre Gedichte.
Die ich von nun an lesen werde zu Matineen, Soireen, gelegentlich auch mitten in der Nacht.

Zwischendurch blitzen in „Das Meer und ich waren im besten Alter“ Bonmots und Aperçus auf:

Unsere Religion braucht wirklich etwas Auffrischung nach 5777 Jahren Patriarchat.

Man muss natürlich enorm aufpassen, denn sollte die Demenz gewinnen, vergisst man vielleicht noch, dass man am Leben ist …

Das Schönste an Berlin ist, dass es eigentlich eine hässliche Stadt ist.

Inzwischen sind sie beim Tierfilm so weit, dass man den Flöhen beim Brüten zuschauen kann. Irre.

Alles zu wollen, Kinder und Beruf und Reisen und Vergnügen? Unbedingt! Ist mehr als erlaubt. Nicht alles zu schaffen? Naheliegend. Aber deshalb zu bereuen, ist schlichtweg feige.

Adriana Altaras vermittelt in „Das Meer und ich waren im besten Alter“ Beobachtungen und Gedanken über Alltägliches, das Familienleben, das Altern, aber auch über politische, kulturelle und gesellschaftliche Phänomene. Einiges ist trivial, anderes klug und witzig. In der Summe ist „Das Meer und ich waren im besten Alter“ ein buntes, unterhaltsames Plädoyer für Freiheit, Toleranz und Zivilcourage, gegen Feigheit, Fanatismus und Rassismus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Adriana Altaras: Titos Brille (Verfilmung)
Adriana Altaras: Doitscha. Eine jüdische Mutter packt aus
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