Ursula Krechel : Landgericht
Inhaltsangabe
Kritik
Richard Kornitzer wird am 4. Juli 1903 in Breslau geboren und kommt im Alter von 16 Jahren mit seiner Mutter und seinem Stiefvater nach Berlin. Dort promoviert der jüdische Jurist 1926, legt beide Staatsexamen ab und fängt als Assessor beim Landgericht an.
1930 heiratet Richard Kornitzer die Protestantin Claire Marie Pahl. Sie ist bei der 1924 von Fritz und Clara Löwenhain im Grunewald gegründeten Deutschen Propaganda- und Werbedienst GmbH (Prowerb) beschäftigt und bringt es in dem Unternehmen, das nicht nur Werbefilme produziert, sondern auch Reklame in Theatern und Lichtspielhäusern vermittelt, zur alleinigen Geschäftsführerin. Am 22. Januar 1932 wird Claire von einem Sohn entbunden, der den Namen Georg erhält.
Aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 schickt der Staat Juden wie Richard Kornitzer zwangsweise und ohne Bezüge in den Ruhestand. Nach sieben Monaten Arbeitslosigkeit fängt der bis zuletzt hervorragend beurteilte Jurist als Prüfer in einer Glühlampenfabrik zu arbeiten an.
Die Tochter Selma wird am 30. März 1935 geboren.
Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ – eines der drei Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 – verbietet Ehen ebenso wie außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden [Judenverfolgung].
Um Prowerb weiterführen zu können, müsste Claire Mitglied der Reichsfilmkammer werden, aber das ist nicht möglich, weil sie für ihren Ehemann keinen Ariernachweis vorlegen kann.
Anfang 1938 stirbt Richards Mutter, eine zweifache Witwe. Richards Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen, sein Stiefvater an einer Embolie gestorben. Richard erbt nicht nur die wertvolle Einrichtung der Wohnung am Kurfürstendamm, sondern auch ein Grundstück in Schmargendorf, Geld und ein Aktienpaket. Aufgrund einer Verordnung vom 6. April 1938 muss er das Vermögen melden.
Nach dem Tod der Mutter lässt Richard sich protestantisch taufen, aus Überzeugung, nicht aus Berechnung, denn er kennt den Runderlass des Reichsinnenministers vom 4. Oktober 1936, demzufolge der Übertritt zum Christentum nichts an der Zugehörigkeit zur jüdischen „Rasse“ ändert.
Im Winter 1938/39 schicken Claire und Richard ihre beiden „halbjüdischen“ Kinder mit einem von Quäkern organisierten Transport nach England. Dort, so hofft das Ehepaar, werden Georg und Selma sicherer als in Deutschland sein.
Die private Krankenkasse fordert Richard Kornitzer auf, endlich seinen Austritt zu erklären:
Wenn Sie die Signale der letzten Zeit verstehen, so ist für Juden kein Platz mehr in Deutschland, noch viel weniger in einer Gefahrengemeinschaft (Krankenversicherung) von nur arischen Volksgenossen. […] Für Erkrankungen von Juden werden Beiträge deutscher Volksgenossen keine Verwendung mehr finden.
Richard erfährt, dass Kuba sich bereit erklärt hat, Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Dass die Visa nicht von der Botschaft in Berlin, sondern vom Konsul in Hamburg ausgestellt werden, wundert ihn zwar, aber er fährt hin. Der Konsul erwartet Schmiergeld. Als er hört, dass Richard mit patentrechtlichen Angelegenheiten beschäftigt war, schreibt er ihm den Namen eines kubanischen Anwalts auf, den er kontaktieren soll und stellt ihm ein Visum aus. Für Claire gibt es keines.
Nachdem Richard auch die am 8. Dezember 1931 eingeführte Reichsfluchtsteuer bezahlt hat, verabschiedet er sich im Februar 1939 von Claire und reist nach England. Bevor er sich in Southampton nach Kuba einschifft, sieht er noch einmal die Kinder. Er hofft, dass Claire, Georg und Selma bald nachkommen und er mit ihnen von Kuba in die USA emigrieren kann.
Aber noch im selben Frühjahr ändert Kuba seine Einwanderungspolitik. Anlass ist der Verdacht, dass Manuel Benítez Gonzáles, der Chef der Einwanderungspolitik, unter der Hand Einwanderungszertifikate verkauft habe. Ein Dampfer der Hapag-Lloyd mit etwa 930 jüdischen Emigranten an Bord trifft am 27. Mai vor Havanna ein, wird jedoch zurückgewiesen und muss nach Hamburg zurückkehren, nachdem er auch in den USA nicht anlegen durfte.
Richard sucht den Rechtsanwalt auf, dessen Adresse ihm der Konsul in Hamburg gab. Rodolfo Saniesteban Cino weiß, dass der Konsul darauf aus ist, deutsche Patente in Kuba zu nutzen, aber er hält davon nichts. Stattdessen stellt er Richard als freischaffenden Rechtskonsulenten ein; der Deutsche soll vor allem die Termine überwachen.
Im August 1941 werden alle deutschen Konsulate in Kuba geschlossen. Als die Japaner den US-Stützpunkt auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 angreifen und die USA sich daraufhin am Zweiten Weltkrieg beteiligen, gilt Richard in Kuba als feindlicher Ausländer und hat keine Möglichkeit mehr, mit seiner Frau oder den Kindern in Kontakt zu bleiben.
Schließlich lernt er in Havanna die Geografie-Lehrerin Charidad Pimienta kennen. Sie wird von ihm schwanger. Weil eine unverheiratete Lehrerin mit einem Kind in Kuba undenkbar ist, zieht Charidad sich in die Kleinstadt zurück, in der sie aufwuchs. Dort bringt sie die Tochter Amanda zur Welt und übergibt sie einer Cousine, die ihrem Mann, der viel auf Montage unterwegs ist, vortäuscht, dass Amanda ihr viertes gemeinsames Kind sei. Charidad kehrt allein nach Havanna zurück.
Richard findet das traurig: Er hat nun schon drei Kinder verloren.
Um von der Standard Oil Company entwickelte Brandbomben testen zu können, lassen die USA von dem Architekten Erich Mendelsohn und anderen deutschen Experten auf dem Militärgelände Dugway Proving Ground in Utah Berliner zwölf Mietshäuser nachbauen und einrichten. Die Luftwaffe fliegt 1943 mehrere Testangriffe gegen das „German Village“.
Claire zieht im Januar 1944 von Berlin nach Bettnang, einen Weiler am Bodensee. Dort wird sie – ebenso wie eine aus dem Egerland vertriebene Familie – von der Familie Pfempfle aufgenommen. Sie wohnt in einer Dachkammer des Bauernhofes. Fließendes Wasser gibt es nicht. Arbeit findet sie als Sekretärin eines Patentanwalts in Lindau.
Lindau wird am 30. April 1945 kampflos den Franzosen übergeben und bleibt deshalb unzerstört.
Gleich nach dem Krieg wendet sich Claire ans Rote Kreuz, um nach ihrem Mann und den Kindern zu suchen.
Als Erstes findet man ihren Mann in Kuba. Eine Hilfsorganisation bezahlt ihm die Rückreise nach Deutschland. Im März 1948 trifft er in Bettnang ein.
Richard wendet sich an die Betreuungsstelle für politisch Verfolgte im Landsratsamt, aber dort werden nur Deutsche betreut. Er kann es nicht fassen: Seine Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und er waren Deutsche, und er verzichtete auch nicht freiwillig auf den deutschen Pass, aber nun gilt er als Staatenloser, als Displaced Person. Zu den Juden gehört er auch nicht mehr, denn er ließ sich protestantisch taufen.
Als die durch den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft angeschlagene Anwaltskanzlei durch die Währungsreform am 20. Juni 1948 vollends ins Trudeln gerät, wird Claire entlassen. Eine neue Stelle findet sie im Sekretariat einer Molkerei in Lindau.
Richard erhält schließlich ein Angebot aus dem Justizministerium des am 30. August 1946 neu gegründeten Landes Rheinland-Pfalz: Er soll Richter am Landgericht Mainz werden. Weil drei Viertel der Stadt im Krieg zerstört wurden, herrscht Wohnungsnot in Mainz. Richard bleibt nichts anderes übrig, als sich zunächst ein Zimmer in einem Hotel zu nehmen, das in einem Luftschutzbunker eingerichtet wurde. Am 31. August 1949 wird er vereidigt. Mit einem Berechtigungsschein vom Wohnungsamt gelingt es ihm nach einiger Zeit, ein Zimmer im Haus einer Familie in Mainz-Mombach zu bekommen. Weil es kein Bad gibt, waschen sich das Ehepaar Dreis, die Tochter Barbara, der Sohn Benno und Richard Kornitzer in der Waschküche im Keller. Barbara Dreis‘ Ehemann, der Vater ihrer kleinen Tochter Evamaria, wird noch vermisst. – Unter diesen Umständen besteht noch keine Möglichkeit, dass Claire ihrem Mann nach Mainz folgt. Das Ehepaar lebt erneut getrennt.
Claire findet schließlich auch den Aufenthaltsort von Georg und Selma heraus. Die Kinder lebten zunächst in einem Pfarrhaus in Warwickshire, bei einem Pfarrer, seiner Frau und deren Schwester. In den Sommerferien 1943 durften sie vom Internat der Quäker, in dem sie zur Schule gingen, nicht zurück ins Pfarrhaus, denn der Reverend war schwer erkrankt. Vorübergehend wurden sie in einem Hostel for Displaced Children untergebracht. Von dort kamen sie nach Kent, zur Familie Bosomworth. Bei den neuen Pflegeeltern und deren Kindern fühlten sie sich wohl, aber im Herbst 1944 begannen die deutschen Angriffe mit V1-Raketen. Georg machte es schwer zu schaffen, dass seine eigenen Landsleute ihn, seine Schwester und die Pflegefamilie in Lebensgefahr brachten. Als die Familie Bosomworth dann nach Sansibar auswanderte, wurden Selma und Georg von der Familie Hales auf einem Bauernhof in Suffolk aufgenommen.
Dort besucht Claire sie für einige Tage. Besonders für Selma ist es ein Schock, dass eine Fremde auftaucht, die ihre Mutter ist. Die Kinder verstehen auch nicht, warum sie vor dem Krieg von den Eltern weggeschickt wurden. Das Ehepaar Hales möchte die beiden Kinder aus Deutschland adoptieren.
Von England fährt Claire zu ihrem Mann nach Mainz.
Richard erwirkt einen Gerichtsbeschluss, demzufolge Selma zu ihm und seiner Frau gebracht werden muss. Georg soll in England bleiben, damit er sich ungestört auf den Collegebesuch vorbereiten kann. Mrs Hales will Selma nach Mainz begleiten. Weil das Kind nicht adoptiert ist, kann Mrs Hales es nicht in ihren Pass mit eintragen lassen. Das Jewish Refugee Committee stellt schließlich ein Papier für eine Person „of No Nationality“ aus, aber das haben die Grenzbeamten noch nie gesehen. Es dauert deshalb einige Zeit, bis die beiden die Grenzen passieren dürfen. Mrs Hales kehrt noch am selben Tag zurück. In Mainz wohnt Selma mit Claire in einem Hotelzimmer.
In Bettnang kann Selma ein eigenes Zimmer bekommen, weil die Egerländer Flüchtlinge den Bauernhof inzwischen verlassen haben. Richard besucht seine Frau und seine Tochter so oft wie möglich am Wochenende.
Selma ist frustriert, denn sie wurde von ihrem Bruder, der Pflegefamilie und den Tieren auf dem Bauernhof getrennt, spricht kaum ein Wort Deutsch und glaubt, dass sie zuerst von ihrer Mutter und dann auch von der Pflegefamilie verraten worden sei. Claire und Richard erlauben ihr schließlich, nach England zurückzukehren, aber sie muss versprechen, dass sie und Georg die Sommerferien zukünftig mit den Eltern verbringen.
Am 1. September 1949 wird Richard zum Landgerichtsdirektor ernannt. Die Stabsstelle „Opfer des Faschismus“ bietet ihm ein Haus an. Endlich können Richard und Claire wieder zusammen leben. Und die Kinder kommen regelmäßig in den Sommerferien zu ihnen.
1951/52 sorgt der Fall Philipp Auerbach für Aufsehen.
Mit dem am 18. September 1953 hastig beschlossenen so genannten Bundesergänzungsgesetz sollen für die Betroffenen günstigere Entschädigungsregelungen verhindert werden. Zwangsarbeiter sind ebenso wenig antragsberechtigt wie Künstler, deren Werke von den Nationalsozialisten als „entartet“ bezeichnet wurden. Auch eine „arische“ Frau, die ihrem jüdischen Ehemann in den Widerstand folgte, geht leer aus:
Die Klägerin gibt zu, dass sie persönlich nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen nicht ausgesetzt gewesen sei, dass sie sich auch von ihrem Mann ohne weiteres habe trennen können. Sie sei ihm aber trotzdem in die Illegalität gefolgt. Somit beruhte ihr Leben in der Illegalität auf ihrem freien Entschluss und war nicht durch eine gegen sie gerichtete nationalsozialistische Gewaltmaßnahme bedingt.
Richard wird die Übernahme einer Wiedergutmachungskammer angeboten. Früher hätte er sich gern als Richter mit diesem Thema befasst, aber jetzt lehnt er das Angebot aus Gewissensgründen ab, denn er betrachtet die geltenden Regelungen für unzureichend.
Bezüglich seiner eigenen Ansprüche lässt er sich von dem Rechtsanwalt Wilhelm Westenberger beraten und vertreten. Die Eingaben werden bürokratisch, formal korrekt und abschlägig beantwortet.
Auf die Ernennung eines jüngeren Landgerichtsdirektors zum neuen Präsidenten des Landgerichts reagiert Richard, indem er am 20. September 1956 zwei Absätze aus dem Grundgesetz vorliest, bevor er als Vorsitzender Richter die anstehende Gerichtsverhandlung eröffnet. Warum er das tut, erklärt er nicht.
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. […] (Artikel 3, Absatz 3)
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. (Artikel 97, Absatz 1)
Das kommentarlose Verlesen dieser Absätze aus dem Grundgesetz sorgt für Aufsehen. Vorgesetzte holen schriftliche Zeugenaussagen ein und versuchen, Richard Kornitzer einen Verstoß gegen Dienstpflichten nachzuweisen.
Die Frustration über die Ungerechtigkeit, die er in der Zurückweisung seiner Ansprüche und in der Ernennung eines Kollegen zum Landgerichtspräsidenten sieht, setzt ihm zu. Er wird dick und leidet unter einer Herzschwäche, lässt sich krankschreiben und geht mehrmals in Kur.
Rechtsanwalt Wilhelm Westenberger erhält durch geschickte Verhandlungen mit dem Justizministerium in Rheinland-Pfalz die Zusage, dass man einen Antrag seines Mandanten auf Versetzung in den Ruhestand genehmigen und ihn zuvor noch zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz ernennen würde, damit die Pension entsprechend höher ausfiele. Richard lässt sich darauf ein: Am 25. September 1957 erhält der 54-Jährige die Ernennungsurkunde, drei Tage später wird er mit Wirkung vom 1. Oktober pensioniert.
Nun verwendet er noch mehr Zeit darauf, seine Ansprüche geltend zu machen. Dazu fährt er eigens nach Berlin. Als er nach Mainz zurückkommt, findet er seine seit Jahren nierenkranke Frau bewusstlos auf dem Fußboden liegend vor. Zunächst befürchtet er, dass sie einen Schlaganfall erlitten habe, aber sie stürzte auf der Treppe und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach dem Krankenhausaufenthalt bringt Richard sie in einem Pflegeheim unter. Dort stirbt sie einige Zeit später.
Der Witwer vertritt nun auch Claires Ansprüche und verlangt eine Entschädigung für ihre Wertgegenstände, die in der von der Gestapo requirierten Wohnung in Berlin verschwanden. Wilhelm Westenberger kann ihn dabei nicht mehr unterstützen, denn er wird am 19. Mai 1959 Justizminister in Rheinland-Pfalz.
Als Amanda Pimienta, die Sängerin geworden ist, Kuba verlässt und nach Paris zieht, fliegt sie über Frankfurt am Main und besucht ihren Vater.
Die Oberfinanzdirektion Berlin schlägt Richard Kornitzer 1970 eine gütliche Einigung vor. Man ist bereit, ohne weitere Prüfung und ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs 3000 D-Mark für die in Claires Wohnung abhanden gekommenen Wertgegenstände zu zahlen. Der Witwer nimmt das Angebot an. Kurz darauf stirbt er.
George (er zieht die englische Schreibweise der deutschen vor) Kornitzer, der inzwischen als Ingenieur bei einer Firma in Deutschland arbeitet und mit seiner Ehefrau, der Tochter eines Uhrmachers aus Ipswich, in einem Reihenhaus bei Mainz wohnt, erhält im Sommer 1974 von der Redaktion des Biografischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigranten nach 1933 einen Brief. Man möchte einen Artikel über Richard Kornitzer aufnehmen und ersucht dessen Sohn, die zusammengetragenen biografischen Angaben zu prüfen. Zur Verwunderung seiner Frau antwortet George, viele der Daten seien falsch, aber er habe nicht die Zeit, sie zu korrigieren. Die werde er sich nur nehmen, wenn ihm die Redaktion in einer wichtigen Sache helfe:
Sein Vater, der 1970 verstorben war – diese Angabe bestätigte er beiläufig –, sei in seinen letzten Lebensjahren durch viele Enttäuschungen schwer verängstigt gewesen. Er habe einen Testamentsvollstrecker eingesetzt, und dieser habe nun mehr als vier Jahre verstreichen lassen, um den Nachlass zu regeln, obwohl er, seine Schwester in England sowie die ebenfalls erbberechtigte Frau Amanda Pimienta (eine Verwandtschaftsbezeichnung zu nennen, vermied er) sich in allen Fragen des Testaments und der Aufteilung des Erbes einig seien. Er bat die Redaktion des Handbuches, diesen Skandal aufzugreifen und der schreienden Ungerechtigkeit, die letzte, die sein Vater erdulden müsse, ein Ende zu bereiten.
Die Mitarbeiterin in der Redaktion, die den Brief liest, schüttelt den Kopf. Was hat die Nachlassregelung mit dem Handbuch zu tun? Sie hat nicht die Zeit, der Sache nachzugehen, und weil von den Angehörigen bzw. Hinterbliebenen nicht bestätigte Biografien nicht ins Handbuch aufgenommen werden, gibt es auch keinen Eintrag über Richard Kornitzer.
Für ihren Roman „Shanghai fern von wo“ (2008) sammelte Ursula Krechel (* 1947) jahrelang Material über die schätzungsweise 18 000 deutschen und österreichischen Emigranten, die zwischen 1938 und 1941 vor den Nationalsozialisten nach Shanghai geflohen waren. Dabei stieß sie in einem Archiv auf Dokumente über einen jüdisch-deutschen Richter, der nach dem Pogrom am 9. November 1938 nach Kuba auswanderte und nach dem Krieg jahrzehntelang versuchte, Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht zu bekommen. Die Biografie dieses Richters liegt der Romanfigur Richard Kornitzer zugrunde. Wie in „Shanghai fern von wo“ verwebt Ursula Krechel auch in „Landgericht“ Tatsachen und Fiktion, Ge- und Erfundenes.
Dass Ursula Krechel Zitate aus (echten oder fiktiven?) Dokumenten einstreut, passt zu der sachlich berichtenden Art der Darstellung dieser tragischen Lebens- bzw. Familiengeschichte. Die Nüchternheit verhindert nicht, dass beim Leser Gefühle wie Mitleid und Empörung evoziert werden. Im Gegenteil: Gerade weil das Gelesene authentisch wirkt, ist die Lektüre von „Landgericht“ erschütternd.
Der Roman „Landgericht“ beginnt mit der Rückkehr des Protagonisten Richard Kornitzer im März 1948 aus dem Exil in Kuba. In der Mitte des Buches (Seite 199 bis Seite 362) holt Ursula Krechel die Vorgeschichte nach, also die Zeit bis zu Richard Kornitzers Auswanderung im Februar 1939. Im dritten Teil geht es vor allem um seine Eingaben an Behörden. 1970 stirbt Richard Kornitzer. Das meiste wird von Ursula Krechel aus seiner Perspektive dargestellt, aber in zwei Kapiteln weicht sie davon ab: Im fünften Kapitel steht Claire Kornitzer im Mittelpunkt, und im letzten, 1974 spielenden Kapitel, ist George Kornitzer die Hauptfigur.
In dem Roman „Landgericht“ prangert Ursula Krechel die deutsche Nachkriegsgesellschaft an, die sich gegenüber Opfern des NS-Regimes alles andere als mitleidig, verständnisvoll oder großzügig zeigte und versuchte, Entschädigungs- bzw. Wiedergutmachungsansprüche abzuwehren. Aber gerade der dritte Teil des Romans, der sich um dieses Thema dreht, leidet unter einem Übermaß an Details. Die ersten beiden Teile sind kraftvoller.
Auf Seite 223 hat sich übrigens ein „abgebrochener Philosophiestudent“ eingeschlichen, der noch dazu „ins Kino verliebt“ ist.
Ursula Krechel erhielt für „Landgericht“ den Deutschen Buchpreis.
Den Roman „Landgericht“ von Ursula Krechel gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Frank Arnold (Freiburg i. B., 2012, 580 Minuten, ISBN 978-3-89964-482-1).
Matthias Glasner verfilmte den Roman „Landgericht“ von Ursula Krechel nach einem Drehbuch von Heide Schwochow fürs ZDF. Die Erstausstrahlung der beiden Teile erfolgte am 30. Januar bzw. 1. Februar 2017.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Originaltitel: Landgericht – Regie: Matthias Glasner – Drehbuch: Heide Schwochow nach dem Roman „Landgericht“ von Ursula Krechel – Kamera: Jakub Bejnarowicz – Schnitt: Heike Gnida – Musik: Lorenz Dangel – Darsteller: Ronald Zehrfeld, Johanna Wokalek, Saskia Reeves, Barbara Auer, Felix Klare, Eva Löbau, Ulrike Kriener, Katharina Wackernagel, Christian Berkel, Michael Rotschopf, Kate Dickie, Ian McElhinney. Alexander Beyer, Edenis Sánchez, Carlos Leal, Aljoscha Stadelmann u.a. – 2017; 200 Minuten
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Verlag Jung und Jung