Christian Kracht : Die Toten

Die Toten
Die Toten Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016 ISBN: 978-3-462-04554-3, 212 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Handlung spielt zu Beginn der 30er-Jahre, als die Nationalsozialisten dabei sind, die Macht zu übernehmen, also vor dem Hintergrund der aufziehenden Barbarei und des Totalitarismus. Noch bevor Japan und Deutschland 1936 den Anti­komin­tern­pakt schließen, strebt das japanische Außenministerium eine gegen Hollywood gerichtete "zelluloidene Achse" mit Berlin an, und der Medienmogul Alfred Hugenberg schickt den Schweizer Film­regisseur Emil Nägeli nach Tokio ...
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Kritik

Christian Kracht vermischt in der Farce "Die Toten" Fakten und Fiktion. Mit viel Witz, großer Fabulierlaune, virtuoser Sprachspielerei und einer Vorliebe für verrückte Einfälle erzählt er eine manieriert-artifizielle Geschichte.
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Im Alter von drei Jahren liest Masahiko Amakasu seinen Eltern aus der Zeitung vor, und als Neunjähriger hat der Sohn eines Germanistik-Professors in Tokio bereits sieben Sprachen erlernt; er komponiert Klavierkonzerte und beschäftigt sich mit komplizierten Algorithmen. Als die Eltern mit ihm zu einem Picknick fahren, verschwindet er hinter eine Linde, stellt sich seine eigene Beerdigung vor, reißt sich erregt die Hose herunter und masturbiert an der Baumrinde.

Wann wohl hatte der Vogel seiner Sexualität begonnen, sich aus den niederen Regionen jener kindlichen Unterdrückungs- und Todesfantasien zu tatsächlicher Geschlechtlichkeit emporzuschwingen?

Seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt Masahiko mit einem Kindermädchen, das allerdings vier Monate später bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Im Internat muss er sich mit sieben anderen Jungen ein Zimmer teilen, die ihm gleich am ersten Abend den Inhalt seines Koffers ausschütten und ein Stofftier zerstören. Masahiko wartet mit der Rache einige Monate. Dann wird der Rädelsführer im Wald gefunden, an einen Baum gefesselt, äußerlich unverletzt, aber so verstört, dass er bald darauf in eine Nervenheilanstalt in Osaka eingewiesen werden muss.

Einzig der Deutschlehrer Herr Kikuchi, der sich nicht mehr sicher war, ob er überhaupt noch für den deutschen Nachrichtendienst arbeitete, da die von ihm über Jahre verfassten und an die deutsche Legation weitergegebenen Berichte über Stimmungen und Befindlichkeiten seiner Landsleute weder quittiert noch kommentiert wurden, fand einen Weg zum jungen Masahiko und erkannte in ihm ein phänomenales Genie.
Kikuchi hatte vor dem Ersten Weltkrieg als junger Mann Ballett getanzt, in Wien, bei den Gastspielen Michel Fokines, nun, zurück in seinem Heimatland, lange temperiert durch die befreienden männlich-sportlichen Erfahrungen in Zentraleuropa, unterrichtete er die verdorbene, in seinen Augen zur Mittelmäßigkeit tendierende und krankhaft angepasste junge Elite Japans.

Herrn Kikuchis Berichte werden sehr wohl gelesen. Wilhelm Solf, der deutsche Botschafter in Japan, wird dadurch auf den hochintelligenten Schüler Masahiko Amakasu aufmerksam.

An dessen letztem Schultag geht der Dachboden des Internats in Flammen auf. Nach dem Schulabschluss besucht Masahiko Amakasu die Militärakademie und beginnt schließlich als Kulturbeamter im japanischen Außenministerium eine vielversprechende Karriere.

Einmal beobachtet er, wie ein Mädchen von einem Kliff stürzt. Er klettert nach unten, findet Blutspuren und stößt in einer Höhle auf eine nur mit ein paar Lederfetzen bekleidete, karmesinrot bemalte Frau, die ihn packt und zu Boden wirft. Ihrem Schoss entströmt ein abscheulicher Gestank. Sie sei eine Aristokratin, behauptet sie, und werde gegen ihren Willen hier festgehalten. Bevor Masahiko Amakasu wieder nach oben klettert, verspricht er zwar, ihr zu helfen, aber daran hält er sich nicht; er vergisst es.

Kürzlich wurde er 30 Jahre alt.

In den letzten Wochen schaute sich Masahiko Amakasu Filme von Friedrich Wilhelm Murnau, Leni Riefenstahl, Jean Renoir, Carl Theodor Dreyer und anderen Europäern an, darunter auch „Die Windmühle“ des Schweizer Regisseurs Emil Nägeli, denn er hat sich vorgenommen, die kulturelle Überfremdung Japans durch Hollywood und den Tonfilm einzudämmen. Zu diesem Zweck strebt er eine „zelluloidene Achse“ zwischen Berlin und Tokio an. Jemand hat ihm 1932 einen Film zugespielt, auf dem der Seppuku (Harakiri) eines jungen japanischen Offiziers in aller Deutlichkeit zu sehen ist.

[…] und eine Blutfontäne spritzte seitwärts zur unendlich zart getuschten kakejiku, zur Bildrolle hin. Es sah aus, als sei das kirschrote Blut mittels eines Pinsels, den ein Künstler mit einer einzigen, peitschenhaften Bewegung aus dem Handgelenk ausgeschüttelt hatte, absichtlich quer über die kakejiku geklatscht worden, die dort in erlesener Einfachheit im Alkoven hing.

Masahiko Amakasu wird eine in öligem Zellophan versiegelte Kopie des Films nach Berlin schicken, an den Medienunternehmer Alfred Hugenberg, dem auch die Ufa gehört. Das Begleitschreiben in deutscher Sprache tippt er selbst, statt es einer Sekretärin aus dem Schreibpool des Ministeriums zu diktieren, und aus Sicherheitsgründen verbrennt er anschließend das verwendete Farbband.

Er regte an, man möge doch bitte rasch aus Deutschland Fachleute schicken, die bereit seien, mit den exzellenten Objektiven von Carl Zeiss und dem allem überlegenen Agfa-Filmverfahren in Japan zu wirken, hier zu drehen, zu produzieren, und so dem – wenn man das so sagen könne – allmächtig erscheinenden US-amerikanischen Kulturimperialismus entgegenzuarbeiten […]

Sein Wunschkandidat wäre Arnold Fanck.

Er sei einmal so frei und schreibe es ganz unverblümt: wenn Fanck nicht verfügbar sei, dürfe er dann auf Fritz Lang hoffen? Friedrich Murnau und Karl Freund seien ja leider bereits unrettbar und unwiederbringbar in Hollywood, Murnau sogar dort kürzlich bei einem Autounfall verstorben.

Einige Wochen später nimmt Masahiko Amakasu in Tokio an einem Empfang der amerikanischen Legation für Charlie Chaplin teil, der Japan in Begleitung seines Faktotums Toraichi Kono bereist.

Da war der niederländische Botschafter (Päderast), dort ein namhafter chinesischer Kommunist (spielsüchtig), in einer Ecke rauchte mit spitzen Fingern ein italienischer Oberst (impotent). Amakasu erblickte den greisen Premierminister Inukai […]

Charlie Chaplin überredet Masahiko Amakasu, mit ihm und Toraichi Kono zusammen den Empfang zu verlassen. Sie fahren zum Essen ins Imperial Hotel. Dort meint Kono:

Die japanische Kultur borge sich Erscheinungen und perfektioniere sie, ganz so, wie Zucker raffiniert werde; im Grunde sei hier zwar alles chinesischen Ursprungs, China sei aber ein Land, dessen Liederlichkeit man nicht mehr akzeptieren könne […]
Er, Kono, sei Verfechter des hokushin-ron, des nördlichen Expansionsweges, es sei ganz natürlich, dass Japan sich große Gebiete Nordchinas aneigne, um schließlich dereinst gegen die Sowjetunion um Sibirien zu kämpfen. Wer weiß, selbst Alaska könne man besetzen, hinabstoßen bis nach Kalifornien.

Charlie Chaplin stimmt zu und erweist sich als „ein richtiger kleiner japanischer Nationalist“.

Bald darauf lädt der 77 Jahre alte japanische Premierminister Tsuyoshi Inukai den amerikanischen Gast zum Abendessen ein, aber Charlie Chaplin erhält die Einladung aus unerklärlichen Gründen nicht, und Tsuyoshi Inukai wartet am Abend des 15. Mai 1932 vergeblich auf ihn. Charlie Chaplin sitzt mit Masahiko Amakasu, Toraichi Kono, der Deutschen Ida von Üxküll und Takeru Inukai, dem Sohn des Regierungschefs, bei einer Nō-Aufführung im Theater, während sich sieben Marinekadetten in die Residenz des Premierministers schleichen. Sie wollen den Hollywood-Star töten, dessen Filme den japanischen Volkscharakter bedrohen. Aber sie finden nur den Regierungschef vor und erschießen ihn.

Alfred Hugenberg reagiert auf Masahiko Amakasus Schreiben mit einer Einladung des Berner Filmregisseurs Emil Nägeli nach Berlin.

Von seinem Vater war Emil Nägeli immer nur „Philip“ gerufen worden. Als der Vater vor einem Jahr starb, wollte er seinem Sohn noch etwas sagen, konnte jedoch nur noch ein „H“ hauchen. Emil Nägeli ist mit der Deutschen Ida von Üxküll verlobt, die sich seit einiger Zeit in Japan aufhält.

Nachdem er einige Wochen auf Gotland verbracht hat, reist er weiter nach Sørlandet, um im Auftrag der dänischen Nordisk-Filmgesellschaft mit Knut Hamsun über die Verfilmung des Romans „Mysterien“ zu sprechen. Der norwegische Schriftsteller lässt ihn zunächst stundenlang bei Wasser und Apfelschnitzen auf einer Holzbank vor dem Haus warten und fertigt ihn dann barsch ab. In Oslo erreicht Emil Nägeli die Einladung Alfred Hugenbergs, aber er kehrt zunächst nach Hause zurück und fliegt dann von Zürich nach Berlin.

Dort wird er von Putzi Hanfstaengl empfangen, dem Auslands-Pressechef der NSDAP. Auch Heinz Rühmann ist da. Mit einem Vertreter der Nordisk-Filmgesellschaft zusammen fahren sie zu einem Varieté in der Nähe des Nollendorfplatzes. Während die Revuegirls alle Blicke auf sich ziehen, stößt Alfred Hugenberg, der seit 30. Januar 1933 auch als Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung amtiert, unauffällig zu Nägeli, Rühmann, Hanfstaengl und dem Nordisk-Repräsentanten.

Der Schweizer Regisseur solle in Japan eine Komödie mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle drehen, erklärt Hugenberg. Über die Kosten für den Flug mit der Deutschen Lufthansa oder auf Wunsch auch einer Schiffsreise brauche Emil Nägeli sich keine Gedanken zu machen, und in Tokio werde man eigens eine deutsch-japanische Filmgesellschaft für ihn gründen. Als der Berner verwundert fragt, was das Deutsche Reich damit bezwecke, antwortet Alfred Hugenberg: „Warum? Warum das alles?“

Der Tycoon schüttelt sich und lacht, und es tönt wie eine rachitische Ziege. Ja, warum? Mensch, Hugenberg wolle die Amerikaner nicht nur brüskieren, sondern sie auch heraushaben aus den mit ihnen eingegangenen paramountschen Knebelverträgen, dann wolle er natürlich die sich dem Tonfilm verweigernden Japaner einbinden, die sich über kurz oder lang den asiatischen Raum untertan machen würden, man stelle sich nur diese gigantischen Märkte vor, das könne man nicht einfach kampflos Metro-Goldwyn-Mayer überlassen, man müsse den Erdball überziehen mit deutschen Filmen, kolonialisieren mit Zelluloid.

Siegfried Kracauer, der mächtig betrunkene Leiter des Feuilletons der Frankfurter Zeitung, gesellt sich ebenso wie die strenge Filmkritikerin Lotte Eisner dazu. Hugenberg und Rühmann kehren um halb vier Uhr morgens ins Hotel Adlon zurück, aber die anderen wollen weitermachen und nehmen ein Taxi.

Vorne sagt der Taxischofför nun in feige hingenöltem Berliner Dialekt etwas sehr Hässliches: die Juden seien schuld am ganzen Schlamassel, an der Misere. Nur gut, wenn man sie alle wegjage, nach Timbuktu, tief in den fernsten Urwald, wo das animalische Pack hingehöre. Wer hier nicht anständig deutsch leben wolle, der müsse eben gehen, oder gegangen werden, und er zieht sich die Handfläche an der Gurgel entlang.

Lotte Eisner kann Emil Nägeli davon abhalten, den Fahrer von hinten zu ohrfeigen, aber Siegfried Kracauer sticht ihm vom Beifahrersitz aus mit zwei Fingern in die Augen. Der Fahrer verliert die Kontrolle über den Wagen, und sie prallen gegen eine Litfaßsäule.

Nägeli und Eisner werden leicht nach vorne geschleudert, aber außer nasenblutendem Kracauer, dessen Lachanfall eine Zahnreihe freigibt, an der Mundblut die Spalten zwischen den Zähnen hochklettert, ist niemand zu Schaden gekommen.

In Siegfried Kracauers Wohnung trinken sie weiter Champagner. Die Kritikerin und der Feuilletonchef reden dem Regisseur ein, sich nicht mit den von Alfred Hugenberg angebotenen 200 000 US-Dollar zufriedenzugeben. Am nächsten Tag bittet Emil Nägeli deshalb um einen Termin beim Minister, der ihn nur kurz warten lässt.

[…] bis nach fünf, sechs sich kaugummiartig dehnenden Minuten die Flügeltüren öffnen und der Tycoon grinsepolternd erscheint, die Arme auseinandergerissen, die Handflächen zum umarmenden Gruße schaufelbreit geklafft.

Emil Nägeli ist die Situation unangenehm.

Er verflucht innerlich seine neuen Freunde Kracauer und Eisner, dass sie ihn überredet haben, sich hier zu prostituieren, bei diesem Angeber, der darunter auch noch leidet, ein reicher Parvenü zu sein […].

Hugenberg hat bereits eine Idee für den deutsch-japanischen Film:

[…] es brauche einerseits das Böse, selbstverständlich sexuell aufgeladen, die arische Unschuld werde durch (das dürfe man den japanischen Freunden so natürlich nicht erzählen) die asiatische Bestie verdorben, und andererseits müsse es einen Widersacher des Untoten geben, der ihn am Ende dem hellen Morgenlicht aussetze und ihn dadurch töte, mit, wie es könne es anders sein, einem Eibenholzpflock ins Herz.

Ohne weiteres erhöht Alfred Hugenberg das Budget auf 800 000 Dollar und unterschreibt die entsprechenden, von seiner Assistentin vorbereiteten Verträge.

[…] unter wehenden Papierstößen segelt sie heran, hier eine Unterschrift, da, da und dort, und dort unten auch noch, nein, bitte ganz rechts unten.

Sobald Emil Nägeli fort ist, brüllt Hugenberg, er werde doch keinen deutschen Regisseur zu den Perversen in Japan schicken. Selbst der Belangloseste wäre ihm zu schade dafür.

Bald darauf emigrieren Lotte Eisner und Siegfried Kracauer nach Frankreich. Im Speisewagen des Nachtzugs nach Paris setzt sich Fritz Lang zu ihnen, der sich ebenfalls aus dem Deutschen Reich absetzt. Im Koffer hat er eine Kopie des Drehbuchs für den Film „Das Testament des Dr. Mabuse“. Seine Ehefrau Thea von Harbou ist in Berlin zurückgeblieben. Als Lotte Eisner und Siegfried Kracauer auf Emil Nägeli zu sprechen kommen, sagt Fritz Lang, er halte „Die Windmühle“ – eine einfache, ereignisarme und langatmig entwickelte Geschichte aus einem Schweizer Bergdorf – für einen der bedeutendsten Filme aller Zeiten.

Draußen vor den Fenstern des Zuges huschen gelb beschienene französische Dörfer vorbei […]
Und Wälder! Wie anders, lacht Lotte, atmeten doch die französischen Bäume, wie seien doch diese von der Geschwindigkeit des Nachtzuges verwischten Eichen dort draußen frei vom teutonischen Gestammel um deren deutschen Boden drüben, jenseits der gerade überschrittenen Grenze, der so magisch raune, der vermeintlich druidische Kraft in die Äste hinaufdrücke, der damals schon den Caesaren aufgezeigt habe, wie das heidnische, erdverbundene Prinzip des Hirschkönigs Siegeskraft ausdrücke, der die Dekadenz des Lateiners überwinden könne mit dem moosigen Druck der Erdkrume Germaniens und dessen Urwäldern aus Eiche. Mon Dieu!

Emil Nägeli reist per Schiff nach Japan und fährt von Kōbe nach Tokio mit der Bahn. Vor dem Wiedersehen mit seiner Verlobten Ida sucht er noch einen Coiffeur auf. Ida von Üxküll und Masahiko Amakasu erwarten ihn in einer vom Ministerium für ausländische Filmschaffende angemieteten Villa. Ida hofft, dass Emil seine Glatze nicht länger mit einer langen Haarsträhne zu kaschieren versucht. Überrascht stellt sie fest, dass er inzwischen eine Perücke trägt und damit jünger aussieht. Er bringt ihr ein vor einiger Zeit von Ezra Pound für sie signiertes Buch über das klassische Nō-Theater mit, das sie verlegt hatte.

Masahiko Amakasu redet über den Regisseur Yasujirō Ozu und die Schauspielerin Mitsuko Yoashikawa. Dass er Alfred Hugenberg dazu anregte, einen deutschsprachigen Filmregisseur nach Japan zu schicken, erwähnt er nicht. Emil Nägeli erkärt dem Kulturbeamten, er beabsichtige, erstmals ohne Drehbuch zu arbeiten.

In der Küche zerschneidet Masahiko Amakasu eine Schweineleber, schleckt das Messer genüsslich ab und verzehrt eines der Fleischstücke. Dass er und Ida von Üxküll einige Male miteinander geschlafen haben, ahnt der Verlobte nicht. Aber als Emil Nägeli ein Glas sucht und einen hohen Eichenschrank öffnet, entdeckt er in der Rückwand eine Luke, und als er über eine Leiter nach oben steigt, sieht er durch ein Guckloch Ida und Masahiko Amakasu nackt auf dem Bett. Der Regisseur holt eine Handkamera aus seinem Gepäck und filmt die beiden. Dann reist er ab, ohne sich zu verabschieden.

Ziellos fährt Emil Nägeli durch Japan. Auf der Insel Hokkaidō nimmt er eine Fähre zu den Kurilen, wo er Krabbenfischer beim Flicken ihrer Netze filmt und sie dann überredet, ihn zur russischen Grenze zu fahren. Aber der sowjetische Offizier lässt ihn nicht einreisen, und der Schweizer muss sich von den Fischern nach Hokkaidō mitnehmen lassen. Nach einem einwöchigen Fußmarsch erreicht er das Städtchen Asahikawa.

Währenddessen schiffen sich Charlie Chaplin und Toraichi Kono, Ida von Üxküll und Masahiko Amakasu in Yokohama nach Los Angeles ein. An Bord des Dampfers schauen sie sich einige Filme an, darunter: „Die Mumie“ von Karl Freund, „Das blaue Licht“ von Leni Riefenstahl, „Tabu“ von Friedrich Wilhelm Murnau und „Scarface“ von Howard Hawks. Charlie Chaplin, der Ida von Üxküll versprochen hat, ihr in Hollywood zu einer großen Karriere als Filmschauspielerin zu verhelfen, entlässt Toraichi Kono verärgert noch auf dem Schiff aus seinen Diensten und gerät mit Masahiko Amakasu in Streit. Im Schutz der Dunkelheit zwingt der Filmstar den japanischen Kulturbeamten zu einer Entscheidung: ent­weder ein Schuss in den Bauch oder ein Sprung von Bord. Masahiko Amakasu klettert über die Reling, und Charlie Chaplin stößt ihn 100 Kilometer von Hawaii entfernt in den Ozean. Am nächsten Morgen täuscht er Ida von Üxküll die Besorgnis vor, der vermisste Japaner könne in suizidaler Absicht über Bord gegangen sein.

Trotz Charlie Chaplins Versprechungen erhält Ida von Üxküll in Hollywood lediglich eine Rolle in einem B-Movie. Sie spielt die Ehefrau eines Wrestlers, der in allen Kämpfen unterliegt und sie am Ende mit einer Prostituierten betrügt. Dass ihr Filmpartner Wallace Beery sie bei jeder Gelegenheit in den Hintern zwickt und ihr im Umkleidewagen schmerzhaft die Brüste knetet, nimmt sie hin, denn sie möchte ein Star werden. Aber der fertig geschnittene Film „Spirit of the Fight“ kommt wegen eines Abkommens zwischen Paramount und MGM nicht in die Kinos, und andere Rollen werden Ida nicht angeboten. Die kühle nordische Frau sei inzwischen démodée, erklärt man ihr. Um zu überleben, putzt sie für eine Filmschauspielerin, die sich weigert, Juden oder Afroamerikaner zu beschäftigen. Eines Abends entdeckt Ida von Üxküll Charlie Chaplin unter den Gästen, doch als sie sich ihm nähert, wird sie von der Hausherrin geohrfeigt und hinausgeworfen.

Zurück in Niederdorf südöstlich von Basel, sichtet Emil Nägeli das aus Japan mitgebrachte Filmmaterial. Bei der Nordisk in Oerlikon schneidet er es, und in der Überzeugung, dass ihm nach „Die Windmühle“ ein zweites Meisterwerk gelungen ist, führt er die Rohfassung des schwarz-weißen Stummfilms vor, wobei eine Pianistin und ein unbegabter Cellist für die musikalische Untermalung sorgen. Bei der Aneinanderreihung von in Japan aufgenommenen Impressionen – darunter die heimlich gefilmte Bettszene von Masahiko Amakasu und Ida von Üxküll – bleiben nicht alle wach.

Ein paar aufgeschlossene Journalisten sind gekommen, einige Freunde ebenfalls, die Nägeli anderntags unter anerkennendem Gelächter die Zeitungen zeigen, in denen er als Avantgardist und Surrealist tituliert wird, in der Neuen Zürcher hingegen als debil. Und das in der Schweiz! ist dort zu lesen.

Ida von Üxküll tingelt erfolglos von Vorsprechen zu Vorsprechen. Weil sie mit der Miete in Rückstand gerät, wird ihr das Zimmer gekündigt. Als sie in einem Diner vor der zwölften Tasse Gratiskaffee sitzt, spricht ein brasilianischer Gentleman sie an und lädt sie in eine Villa ein. Dort bietet er ihr und einigen anderen Mädchen Brandy und Heroin an, bevor er sie auffordert, sich auszuziehen, zwei Film­kameras einschaltet und die Haustür verriegelt. Als ein Assistent einen Base­ball­schläger als Requisit bringt, bekommt Ida „es mit der Angst zu tun und eine Ohrfeige verpasst“. Schreiend flieht sie durch die Terrassentür und den Regen der Sprinkleranlagen im Garten.

Ida von Üxküll klettert auf das H des berühmten Schriftzugs in den Hollywood Hills. Sie gleitet ab, kann sich nicht mehr festhalten und stürzt in die Kakteen, die ihr das Gesicht und die Kleidung zerfetzen.

Putzi Hanfstaengl, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in England als enemy alien interniert und nach Kanada gebracht wurde, beschwert sich im Kriegsgefangenenlager Q in Monteith über die Haftbedingungen.

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Der Roman „Die Toten“ von Christian Kracht (* 1966) spielt zu Beginn der Dreißigerjahre, als die Nationalsozialisten im Deutschen Reich dabei sind, die Macht zu übernehmen, also vor dem Hintergrund der aufziehenden Barbarei und des Totalitarismus. Noch bevor Japan und Deutschland 1936 den Anti­komin­tern­pakt schließen, strebt das japanische Außenministerium eine gegen Hollywood gerichtete „zelluloidene Achse“ mit Berlin an.

Christian Kracht vermischt in „Die Toten“ Fakten und Fiktion, spielt mit historischen Personen und Ereignissen. „Weit weg vom ‚Wirklichkeitsfetischismus‘ der Gegenwartsliteratur“ (Ijoma Mangold, „Die Zeit“, 1. September 2016) kreiert der Schweizer Schriftsteller einen „raffinierten Realismus“ (Moritz Baßler, „TAZ“, 14. September 2016). Die Farce in drei Teilen bzw. 46 Kapiteln orientiert sich an der dramaturgischen Struktur des Nō-Theaters.

[…] die raffiniertesten Geschichten im Nō würden sich durch einen Mangel sowohl an Handlung als auch an repräsentativen Charakteren auszeichnen sowie durch die Anwesenheit von Geistern.

[…] das Essentielle am Nō-Theater sei das Konzept des jo-ha-kiū, welches besagt, das Tempo der Ereignisse solle im ersten Akt, dem jo, langsam und verheißungsvoll beginnen, sich dann im nächsten Akt, dem ha, beschleunigen, um am Ende, dem kiū, kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt zu kommen.

Mit großer Fabulierlaune, viel Fantasie, einer Vorliebe für verrückte Einfälle und mit zahlreichen cineastischen Verweisen füllt Christian Kracht den Raum zwischen den historischen Eckpunkten mit einer manieriert-artifiziellen Geschichte. Zu diesem Ästhetizismus passt die virtuos-antiquierte Sprache. Wo dabei die Grenzen zwischen Ernst, Zynismus, Parodie, Spott und (Selbst-)Ironie verlaufen, lässt sich nicht klar ausmachen. Auf jeden Fall handelt es sich bei „Die Toten“ um einen originellen, intelligenten und witzigen Roman.

„Die Toten“ endet mit der Szene, in der ein Reporter das „roh zerfleischte Gesicht“ der vom H des Hollywood-Schriftzeichens gestürzten Filmschauspielerin fotografiert. Der letzte Satz lautet:

Es wird heißen in diesen Schriften, sie sei wie ein Feuer gewesen, das im Kiesel schläft.

Das hat Christian Kracht aus dem Roman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin übernommen. Dort heißt es am Ende des 16. Kapitels:

Wir sind, wie Feuer, das im dürren Aste oder im Kiesel schläft; und ringen und suchen in jedem Moment das Ende der engen Gefangenschaft. Aber sie kommen, sie wägen Aeonen des Kampfes auf, die Augenblicke der Befreiung, wo das Göttliche den Kerker sprengt, wo die Flamme vom Holze sich löst und siegend emporwallt über der Asche, ha! wo uns ist, als kehrte der entfesselte Geist, vergessen der Leiden, der Knechtsgestalt, im Triumphe zurück in die Hallen der Sonne.

Am 16. September 1932 stürzte sich tatsächlich eine arbeitslose Schauspielerin vom 15 Meter hohen H des Schriftzugs in den Hollywood Hills. Peg Entwistles Leiche wurde zwei Tage später mit einem Abschiedsbrief gefunden.

Das Attentat auf den japanischen Premierminister Tsuyoshi Inukai ist ebenso wenig erfunden. Am 15. Mai 1932 wurde er von elf Marinekadetten bei einem erfolglosen Putschversuch getötet. Der Anschlag galt vor allem dem am Tag zuvor in Tokio eingetroffenen Hollywood-Star Charlie Chaplin, der zu einem Empfang eingeladen war, aber stattdessen mit Takeru Inukai, dem Sohn des Regierungschefs, ein Sumō-Ringen anschaute.

Mit wenigen Ausnahmen gibt es zu den Figuren in „Die Toten“ historische Entsprechungen. Charlie Chaplin, Tsuyoshi Inukai und Takeru Inukai wurden bereits genannt. Wilhelm Heinrich Solf war von 1920 bis 1928 deutscher Botschafter in Tokio. Der Unternehmer und Medienmogul Alfred Hugenberg, einer der bürgerlichen Wegbereiter der Nationalsozialisten, erwarb 1927 die Universum Film AG (Ufa) und amtierte von 30. Januar bis 29. Juni 1933 als Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung. Ernst („Putzi“) Hanfstaengl war ab 1931 Auslands-Pressechef der NSDAP. Als er liquidiert werden sollte, setzte er sich ins Ausland ab. Er wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien interniert, nach Kanada gebracht und 1942 in die USA überstellt. Der norwegische Literatur-Nobelpreisträger Knut Hamsun sympathisierte mit dem National­sozialismus und kooperierte mit den deutschen Besatzern. Ezra Pound gab tatsächlich ein Werk über das Nō-Theater heraus: „‚Noh‘, or, Accomplishment. A Study of the Classical Stage of Japan“ von Ernest Fenollosa (London 1916). Siegfried Kracauer, einer der Begründer der Filmsoziologie, gehörte ab 1922 zur Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung und wurde 1930 Feuilletonchef des Blatts in Berlin. Nach dem Reichstagsbrand flüchtete er nach Paris. Dorthin emigrierte 1933 auch die deutsch-französische Filmhistorikerin und -kritikerin Lotte Eisner. (Ob eine Dame damals eine Strumpfhose trug, in der sie Dollarbündel über die Grenze schmuggeln konnte, wie Christian Kracht auf Seite 134 schreibt, ist zu bezweifeln. Zumindest gab es damals noch keine industrielle Fertigung von Strumpfhosen.) Fritz Lang nahm 1933 spontan den Nachtzug von Berlin nach Paris. Seine zu diesem Zeitpunkt bereits gescheiterte Ehe mit Thea von Harbou wurde im April 1933 geschieden. Filmregisseure mit den Namen Robert Bresson, Oleksandr Petrowytsch Dowschenko, Carl Theodor Dreyer, Arnold Fanck, Friedrich Wilhelm Murnau, Yasujiro Ozu, Jean Renoir, Leni Riefenstahl und Jean Vigo existierten wirklich, ebenso wie die Darsteller Heinz Rühmann, Wallace Beery und die japanische Schauspielerin Mitsuko Yoshikawa.

Den Roman „Die Toten“ von Christian Kracht gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Wanja Mues (ISBN 978-3-86231-978-7).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Christian Kracht: Faserland
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Der dystopische Thriller "Der letzte Weg" von Eve Smith spielt in naher Zukunft in England, und zwar nach einer von multiresistenten Bakterien verursachten Tuberkulose-Pandemie. Eine solche Entwicklung ist angesichts des massenhaften Einsatzes von Antibiotika in der Tiermast und bei der Behandlung auch harmloser Infektionen durchaus realistisch, sollte uns also zu denken geben.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.