A. L. Kennedy : Also bin ich froh
Inhaltsangabe
Kritik
Die Ich-Erzählerin Jennifer M. Wilson (das „M“ steht für Mercy) arbeitet als Sprecherin beim Rundfunk und in der Radiowerbung. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern – ihre Mutter war die zweite Frau ihres Vaters – ständig vor ihren Augen übereinander herfielen. Das hatte ihr Angst eingejagt, solange sie noch klein war und nicht begriff, was die beiden da machten. Während Jennifer noch zur Schule ging, kamen ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
Kürzlich scheiterte ihre Beziehung mit Steven. Mit ihm hatte sie häufig „Käpt’n Bligh“ gespielt, das heißt, sie war als Domina aufgetreten.
[…] habe ich Sex […] wie ein Mörderwal, der verzweifelt versucht, einen Brief zu öffnen, kann ich nicht vom Sex lassen. (Seite 6)
Jennifer sagt von sich:
Ich bin kein emotionaler Mensch. (Seite 8)
Ich entdeckte schnell, wie leicht man intime Nähe durch Intimverkehr vermeiden konnte. (Seite 8)
Aber ich verrate Ihnen gern, dass meine anscheinende Seelenruhe tatsächlich nur Leere ist – oder, um genau zu sein, eine Pause. Ich bin nicht ruhig, ich bin unspontan. Wenn mir etwas passiert, weiß ich nicht, was ich fühlen soll. (Seite 9)
Manche Dinge verstehe ich einfach nicht. Ich lasse mich ganz leicht von einem Wort oder einem Blick oder einem unbedeutenden Ereignis verwirren, und dann kann ich nicht umhin zu fragen, warum mein Leben gerade so und nicht anders verlaufen soll. Am Ende stelle ich immer Fragen, auf die ich keine Antworten bekommen kann. (Seite 5)
Jennifer bewohnt mit Liz, Arthur und Peter ein graues Haus in Glasgow und teilt sich mit ihnen die Miete. Liz ist selten da, Arthur arbeitet in einer Bäckerei, und bevor Peter 1993 für längere Zeit verreist, kündigt er einen Ersatzmieter namens Martin an.
Während Liz und Arthur nicht im Haus sind, taucht unvermittelt ein Mann auf. Jennifer hält ihn zunächst für Martin, findet aber bald heraus, dass es sich nicht um den erwarteten neuen Mieter handelt. Der Fremde scheint sein Gedächtnis verloren zu haben, denn er weiß nicht, wie er hergekommen ist. Jennifer bringt ihn in dem freien Zimmer unter und lässt Liz und Arthur in dem Glauben, es handele sich um Martin. Trotz seiner Angst, das Haus zu verlassen, überredet Jennifer ihn nach einigen Tagen zu einem ersten kurzen Spaziergang in den Park, aber da bekommt er plötzlich eine Panikattacke.
Jennifer:
Nachts wusste ich nicht mehr, wo ich war, und am Tag schien die Wirklichkeit wie immer, bloß einen halben Zentimeter verschoben. All meine Erinnerungen an die Zeit sind leicht verwischt und ungeordnet. Und deswegen erzähle ich Ihnen diese Begebenheit zuerst, auch wenn Sie vielleicht viel lieber erfahren würden, wer Martin denn nun war. Ich will sie nicht auf die Folter spannen – ich würde Ihnen zu gern sofort erzählen, wer er ist –, aber anscheinend kann ich mich nur auf dieses eine nachmittägliche Gespräch konzentrieren. (Seite 43)
Endlich offenbart der Unbekannte seine Identität: Es handelt sich um den 374 Jahre alten – eigentlich seit 1655 toten – französischen Dichter Savinien de Cyrano, Écuyer, Sieur de Bergerac.
„Ich tötete jeden, der die Absicht hatte, mich zu töten. Ansonsten schrieb ich Gedichte.“
(Seite 194)
Unbedacht verrät Jennifer ihm, dass sie heimlich die Miete für ihn bezahlt. Als sie von der Arbeit nach Hause kommt, findet sie einen Abschiedsbrief vor:
[…] mir fehlen alle Mittel, dir etwas zurückzuzahlen; so bleibt mir nur, die Wurzel weiterer Verpflichtungen zu entfernen, nämlich diesen Mann. (Seite 111)
Jetzt erst gesteht Arthur, er wisse schon seit einiger Zeit, dass Martin nicht Martin sei, weil Peter aus London geschrieben habe, sein Bekannter werde das Zimmer doch nicht nehmen.
Jennifer sehnt sich nach dem geheimnisvollen, schutzbedürftigen Mann. In ihrer Einsamkeit verabredet sie sich wieder mit Steven und wälzt sich mit ihm in seinem Bett herum, bemüht sich aber vergeblich, zum Orgasmus zu kommen.
Inzwischen näherte sich auch Steven dem Liefertermin für die nächste in Gummi verpackte Samenspende, und ich gab mein Bestes, mich mental einzustimmen, richtig dabeizusein. (Seite 125)
Dann fesselt sie Steven nackt auf den Couchtisch, knebelt ihn und schlägt ihn mit einem Gürtel blutig. Am nächsten Morgen meldet er sich krank und lügt, ein Betrunkenen habe ihn verprügelt. Jennifer pflegt ihn, bis er sie am vierten Tag fortschickt und nichts mehr mit ihr zu tun haben will.
Am 27. Januar 1994 kehrt Savinien unvermittelt zurück. Der Schmutz im Badezimmer – wo Jennifer ihn nach der Arbeit entdeckt – lässt darauf schließen, dass er völlig verwahrlost war. Inzwischen hat er gebadet und sich den Kopf kahlgeschoren. Er leidet unter Entzugserscheinungen, und Jennifer findet tatsächlich einen im Kamin versteckten Plastikbeutel mit achtundzwanzig Tranquilizer-Kapseln. Um sich an Saviniens Bett abwechseln zu können, melden sie und Arthur sich eine Woche lang krank.
Dann ertappt Jennifer Savinien mit blutigen Händen: Er hat einfach die Klinge eines Tranchiermessers gepackt und zugedrückt.
Nach seiner Genesung geht Jennifer mit ihm in ein Pub. Dort taxiert er die anderen Männer und verrät seiner Begleiterin, dass er sich ohne Waffe unwohl fühlt.
Liz gibt ihr Zimmer im Haus auf und zieht zu Sandy, ihrem Geliebten, der sich angeblich von seiner Frau scheiden ließ. Kurze Zeit später kehrt sie wütend und enttäuscht zurück, denn Sandy hatte sie angelogen. Savinien will sich sofort mit ihm duellieren und kann kaum verstehen, wieso ihn Arthur und Jennifer davon abhalten wollen, die Ehre der gedemütigten Frau zu verteidigen.
Im Frühjahr 1994 gestehen Savinien und Jennifer sich ihre Liebe, und er weist sie darauf hin, dass die Wörter für Liebe und Tod im Französischen ähnlich klingen: „la mort“ und „l’amour“.
Am 4. Juni wird der von Savinien angelegte Vorgarten absichtlich verwüstet. Als es einige Tage später erneut geschieht, ist Savinien nicht mehr zu halten: Er weiß, wer es getan hat und stellt den Mann – er heißt James – nachts im Park. Obwohl James mit einem Säbel kämpft, und Savinien nur eine Eisenstange gefunden hat, ist der Franzose seinem Gegner überlegen. Jennifer, die ihm nachgerannt ist, sieht verstört zu und befürchtet, Savinien werde seinen Feind töten. Am Ende schlägt er ihn jedoch nur in die Flucht.
Savinien will unbedingt in seine Heimat. Jennifer stiehlt Arthurs Pass und begleitet ihren seltsamen Freund nach Frankreich. Am 20. Juli 1994 treffen sie in Paris ein und nehmen ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Savinien lebt auf und zeigt Jennifer seine Geburtsstadt. In der Bibliothèque Nationale blättern sie in der Biografie, die sein Freund Henri le Bret 1657 über ihn veröffentlicht hatte und in seinen eigenen, ebenfalls von le Bret herausgegebenen Werken. Zornig stellt Cyrano de Bergerac fest, dass der Freund sie offenbar aus Angst vor der Zensur und vor Beleidigungsklagen an vielen Stellen veränderte.
Am 28. Juli fahren Savinien und Jennifer in den Pariser Vorort Sannois bei Argenteuil und suchen die Rue du Puits Mi-ville auf, wo Cyrano de Bergerac auf den Tag genau vor 339 Jahren starb. Unvermittelt kippt er nach vorn; Jennifer hört etwas wie Ausatmen. Dann sammelt sie die noch warmen Kleidungsstücke vom Boden auf.
Einige Tage später reist sie nach Glasgow zurück.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Unter dem Titel „Also bin ich froh“ erzählt die schottische Schriftstellerin und Filmemacherin Alison Louise Kennedy (*1965) eine fantastische Liebesgeschichte: 1993 taucht der französische Dichter Cyrano de Bergerac (6. März 1619 bis 28. Juli 1655) in Glasgow aus dem Nichts auf. Eine spröde, indifferente und sadomasochistisch veranlagte Radiosprecherin, der es schwer fällt, andere Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen, verliebt sich ihn den romantischen Haudegen und begleitet ihn schließlich voll Mitgefühl und Zärtlichkeit in seine Heimatstadt Paris, wo er an seinem Todestag im Jahr 1994 vor ihren Augen wieder verschwindet.
Amüsant ist nicht zuletzt, wie A. L. Kennedy mit einer Ich-Erzählerin spielt, die sich von Zeit zu Zeit an ihr Publikum wendet.
Ich habe nur gesagt, dass ich ruhig bin. Ich habe nie auch nur angedeutet, ich sei nett. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ich besser oder schlechter bin als andere Menschen, bloß weil ich Ihnen dies schreibe. (Seite 132)
Diesen nächsten Abschnitt brauchen Sie nicht zu lesen oder überhaupt zu beachten. Er wird Ihnen nicht weiterhelfen beim Verständnis des Buches oder der Geschichte, die darin zu erzählen versucht wird. (Seite 73)
Und an dieser Stelle verlassen wir mich eine Weile. In unserer Abwesenheit wird nicht allzu viel passieren. (Seite 72)
Wollen Sie es sehen? Wenn nicht, schließen Sie jetzt die Augen. […]
Für diejenigen, die nicht hingesehen haben: Sie können die Augen jetzt wieder öffnen. (Seite 134f)
Lange Zeit verrät die Ich-Erzählerin nicht, um wen es sich bei dem in Glasgow aufgetauchten Fremden handelt. Auf Seite 43 äußert sie zwar Verständnis für die Neugier der Leser und beteuert, sie nicht auf die Folter spannen zu wollen, aber auch noch acht Seiten danach hält sie die Leser weiter hin:
[…] die Ereignisse reihen sich aneinander, das Zeitgefüge ordnet sich, und bald schon werden Sie ihn beinahe so kennen wie ich. Vergeben Sie mir die Verzögerung. Ich müsste Ihnen eigentlich ganz ohne Probleme mitteilen können, wer er war. Ich weiß nicht, warum es mich so nervös macht, Ihnen sein Geheimnis mitzuteilen. Vielleicht bin ich jetzt ein bisschen eifersüchtig in Bezug auf ihn, weil wir eine enge persönliche Beziehung hatten. (Seite 51)
Bereits lange vor der 1965 in Dundee (Schottland) geborenen Schriftstellerin und Filmemacherin Alison Louise Kennedy hat Edmond Rostand in seinem Theaterstück „Cyrano de Bergerac“ dem französischen Dichter ein Denkmal gesetzt. Das Stück aus dem Jahr 1897 wurde von Jean-Paul Rappeneau 1990 unter dem gleichen Titel verfilmt.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach
Jean-Paul Rappeneau: Cyrano de Bergerac
Alison Louise Kennedy: Gleissendes Glück
Alison Louise Kennedy: Paradies
Alison Louise Kennedy: Day
Alison Louise Kennedy: Was wird
Alison Louise Kennedy: Das blaue Buch
Alison Louise Kennedy: Süßer Ernst
Alison Louise Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land