A. L. Kennedy : Süßer Ernst

Süßer Ernst
Serious Sweet Jonathan Cape, London 2016 Süßer Ernst Übersetzung: Ingo Herzke, Susanne Höbel Carl Hanser Verlag, München 2016 ISBN 978-3-446-26002-3, 560 Seiten ISBN 978-3-446-26128-0 (eBook) Taschenbuch Deutscher Taschenbuch-Verlag, dtv, München 2020 ISBN 978-3-423-14758-3, 560 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Jon ist Ende 50 und seit kurzem von seiner promiskuitiven Ehefrau geschieden. Als hoher Ministerialbeamter in London muss er politische Machenschaften schönfärberisch darstellen. Das ist ihm zuwider. Voller Selbstzweifel ist auch Meg, eine seit einem Jahr trockene Alkoholikerin Mitte 40. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Annäherung der beiden frustrierten, einsamen Menschen.
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Kritik

Ein einziger Tag, zwei Personen, 560 klein gedruckte Seiten: "Süßer Ernst" ist nichts für Leserinnen und Leser, die eine knappe Darstellung bevorzugen. Vor jedem der teilweise tragikomischen, abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Hauptfiguren erzählten Kapitel hat A. L. Kennedy eine Miniatur mit einer alltäglichen Szene aus dem Großstadtleben in London eingefügt.
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Jon

Jonathan („Jon“) Corwynn Sigurdsson ist Ende 50. Der stellvertretende Direktor eines britischen Ministeriums ließ sich unlängst von seiner promiskuitiven Ehefrau Valerie („Val“) scheiden.

In legaler und praktischer Hinsicht ganz einfach: Ich durfte Val verlassen, und Val bekam alles andere.

Weil Valerie das Haus im Londoner Stadtteil Chiswick von ihrer Mutter geerbt hat, in deren Besitz es durch Heirat gekommen war, wohnt Jon nun in einem Ein-Zimmer-Apartment in Loughborough Junction zwischen Brixton und Peckham.

Trotz allem gießt er an diesem frühen Morgen – 06.42 Uhr – den nun Val allein gehörenden Garten, während sie in die Karibik gereist ist. Dabei entdeckt er ein Amsel-Junges, das sich in einem Netz verfangen hat, das die Früchte eines Heidelbeerbusches schützen soll. Vom Muttertier pausenlos attackiert, befreit Jon den kleinen Vogel. Weil der ihm dann noch auf die Hose kackt und ihm keine der im Schrank hängenden Hosen von Vals Liebhabern passt, muss er an diesem Vormittag noch eine neue Hose kaufen.

Noch vor seiner Scheidung gab Jon eine erste Anzeige unter dem Namen Corwynn August auf und bot Frauen auf Bestellung handgeschriebene Briefe an, Pakete zu 12 Briefen, einen pro Woche. Für Antworten der Frauen hat er ein Postfach in Mayfair eingerichtet.

Jons Aufgabe im Ministerium ist die Öffentlichkeitsarbeit. Weil es ihm zuwider ist, dass er die politischen Machenschaften schönfärberisch darstellen muss, sticht er als Whistleblower auch andere Informationen an die Medien durch, zum Beispiel über Erkenntnisse zum Thema Kindesmissbrauch – die allerdings ignoriert werden.

Allerdings blieb das Informationsleck im Ministerium nicht unentdeckt, und der Geheimdienst spürte nicht nur sein Postfach in Mayfair auf, sondern fand auch heraus, dass er Frauen zärtliche Briefe schreibt. Sein Chef Harry Chalice hält wenig von den „traurigen kleinen Hirnficks auf Papier“:

„Nichts für ungut, Jon, aber so ein halbkahler Aktenschieber, der jede Hoffnung auf Beförderung fahrenlassen musste, weil er feuchte Briefchen verfasst hat, seine Wichsfantasien aufschreibt […]. Alles ein bisschen widerlich.“

An diesem Nachmittag setzt ihn Harry Chalice auf den Journalist Steven Milner an: Jo soll ihm auf den Zahn fühlen und herausfinden, ob Steven Milner zu den Empfängern durchgestochener Informationen gehört.

Der Journalist durchschaut, dass Jon ihn aushorchen soll und erklärt:

„Ach, und ich werde bestimmt nicht das Maul halten. Ich bin der Letzte der Letzten, die sich das Maul stopfen lassen. […] Ich bin ein richtiger Journalist. Ich bin das wahre Fundament der freien Scheißpresse.“

Jon denkt:

Chalice wird Freude daran haben, mich nach Einzelheiten zu fragen und zu wissen, dass ich weiß, dass er sie schon kennt, und dass ich auch das weiß. Scheiße.

Meg

Margaret („Meg“) Williams war früh bei ihren Eltern ausgezogen. Sie studierte und wurde Wirtschaftsprüferin, aber als die Eltern kurz nach einander starben, stürzte sie ab, verlor ihre Anstellung und behielt nur deshalb ein Dach über dem Kopf, weil sie das kleine Haus der Eltern am Telegraph Hill im Südosten Londons geerbt hat.

Seit einem Jahr ist die inzwischen 45-jährige Alkoholikern trocken. Im Gartosh Farm Home, einem Tierheim, erledigt sie Büroarbeiten.

Unter dem Decknamen Sophia nahm sie das Angebot von „Corwynn August“ in Anspruch, und weil sein Einfühlungsvermögen sie überzeugte, wollte sie ihn persönlich kennenlernen. Vor drei Wochen passte sie ihn ab, als er sein Postfach in Mayfair leerte, und bei einem kurzen Gespräch in einem Café legten sie ihre wahren Identitäten offen.

An diesem Tag – der für Jon mit der Rettung des Vogeljungen begann – haben sie sich erstmals verabredet, und zwar für 18.30 Uhr.

Turbulenzen

Gegenüber seiner inzwischen 28 Jahre alten Tochter Rebecca („Becky“) verspürt Jon Schuldgefühle, unter anderem auch, weil er Terry, mit dem sie seit drei Jahren zusammen ist, nicht ausstehen kann.

Leichte bis unangenehme Schuldgefühle – wie üblich –, weil sie schon erwachsen ist, und ich so oft abends noch arbeiten musste, als sie ein Kind war, als Zeit zum Reden war, zum Sein, Zeit, meine Kleine sicher ins Bett zu bringen. Nacht, Nacht.
Ich habe viel verpasst.
Schulkonzerte, Elternabende, wie sie einmal vom Pony gefallen ist und sich erschreckt hat, die Gelegenheiten, an denen wir uns hätten unterhalten sollen.
Ich habe alles verpasst. Fast.
Ich glaube, ich habe mein Leben verpasst. Ich glaube, das könnte stimmen. Wenn es auch ein bisschen pathetisch klingt.

An diesem Tag ruft ihn Becky um 16.12 Uhr an. Sie ist verzweifelt. Erst jetzt erfährt Jon, dass sie inzwischen mit Terry verheiratet ist. Aber soeben warf sie ihren Ehemann hinaus, weil sie erfuhr, dass er sie seit drei Monaten mit einer Frau namens Jenny betrog. Ob Jon zu ihr kommen könne. Sie drehe sonst durch.

Also macht Jon sich auf den Weg zu seiner Tochter, kauft unterwegs Lebensmittelvorräte für sie und ruft Meg an, um ihr mitzuteilen, dass er es voraussichtlich nicht rechtzeitig schaffen werde. Er verspricht, sich später noch einmal zu melden, um eine neue Uhrzeit vorzuschlagen.

Während er Becky mit Suppe füttert, ruft Harry Chalice an, verlangt einen Bericht über das Treffen mit Steven Milner und bestellt Jon für 21 Uhr in seinen Club.

Um 20.55 Uhr trifft Jon dort ein und wundert sich nicht darüber, dass sein Chef noch nicht da ist. Als er dann erklärt, er habe noch eine Verabredung, meint Harry Chalice maliziös, es handele sich wohl um eine von Jons „Brieffreundinnen“.

Meg ist enttäuscht, als sie statt eines Anrufs nur eine SMS von Jon bekommt, und sie rechnet nicht mehr damit, dass er sich noch mit ihr treffen möchte.

Die Verabredung

Gegen Mitternacht klappt es dann doch noch, und sie nimmt ihn mit in ihr Haus.

Die beiden küssen sich, aber Jon möchte auf keinen Fall am ersten Abend mit Meg ins Bett.

Es war nicht gut.
Scheißescheißescheiße … Ich kann so nicht sein, nicht nach diesem Tag, nach dem, wie es für sie gewesen war, sie wird denken, ich bin genauso wie all die anderen Scheißscheißscheiß …
Sein rücksichtsloser Körper hatte sich unweigerlich aufgestellt und versteift, und er hatte seine Hüften zurückziehen und sie – ungalant – von sich schieben müssen – Mist – und gespürt, dass sie das schlecht aufnahm und sich gekränkt fühlte und bekümmert war, obwohl er sie nicht bekümmern wollte, sondern ihr nur Gutes tun wollte – es lag jenseits von dem, was er …
Ich bin ein Scheißkerl. Ein Scheißkerl mit einem Ständer. Ich wusste, dass es so kommen würde.

Verzweifelt schließt Jon sich im Bad ein. Erst nach langem Zureden schiebt er den Riegel wieder zurück.

Im Morgengrauen steigen Jon und Meg gemeinsam zum Telegraph Hill hinauf.

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In ihrem Roman „Süßer Ernst“ erzählt Alison Louise Kennedy (*1965) von zwei einsamen und frustrierten Menschen, einem Mann Ende 50 und einer Frau Mitte 40, beide voller Selbstzweifel. Entsprechend schwierig gestaltet sich ihre Annäherung. Und diese Entwicklung wird von A. L. Kennedy vielschichtig, differenziert und einfühlsam nachvollzogen.

Die in London spielende Handlung beginnt um 6.42 Uhr und dauert exakt 24 Stunden. Ein einziger Tag, zwei Personen, 560 klein gedruckte Seiten: „Süßer Ernst“ ist nichts für Leserinnen und Leser, die eine knappe Darstellung bevorzugen. A. L. Kennedy schreibt extrem detailreich und bleibt gleichzeitig vage, denn sie buchstabiert ungeachtet der minuziösen Schilderung nicht alles aus, sondern lässt vieles offen.

Die teilweise tragikomischen Kapitel in „Süßer Ernst“ sind nur mit Uhrzeiten überschrieben. A. L. Kennedy wechselt zwischen den Perspektiven der beiden Hauptfiguren, und deren innere Monologe sind kursiv gesetzt.

Vor jedem Kapitel hat A. L. Kennedy eine Miniatur eingefügt, jede von ihnen eine alltägliche Szene aus dem Großstadtleben in London. Während die Autorin für die Handlung das übliche Präteritum gewählt hat, stehen die eingestreuten Miniaturen im Präsens.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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