Howard Jacobson : Shylock
Inhaltsangabe
Kritik
Simon Strulovitch kommt auf den Friedhof der Messiaslosen in Gatley im Süden Manchesters, um den kürzlich nach zwölfmonatiger Trauerzeit auf dem Grab seiner Mutter Leah errichteten Stein zu inspizieren. Dabei sieht er Shylock zum ersten Mal. Er nimmt ihn mit zu seinem „leichenwagenähnlichen“ Mercedes. Der schwarze Chauffeur Brendan fährt die beiden Herren zum Haus seines Arbeitgebers in Mottram St Andrew, der östlichen Spitze von Cheshires Goldenem Dreieck. Dieses Anwesen hat Simon Strulovitch von seinen Eltern geerbt. Außerdem besitzt er ein Haus in Hampstead.
Bei Simon Strulovitch handelt es sich um einen Kunstsammler und Mäzen elitärer Institutionen mit Ehrendoktorhüten der Universitäten London, Manchester und Tel Aviv.
[…] er ist ein reicher, aufbrausender, leicht zu kränkender, schnell zu begeisternder und ebenso schnell ernüchterter Philanthrop mit einer angesehenen Sammlung anglo-jüdischer Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts und alter Bibeln, mit einer Leidenschaft für Shakespeare […]
Als Simon Strulovitch die Christin Ophelia-Jane Smythson geheiratet hatte, war er von seinem Vater Morris enterbt worden, aber die Ehe mit der Schickse scheiterte nach kurzer Zeit, und nach der Scheidung versuchte Simon Strulovitch es mit der Jüdin Kay Kominsky. Daraufhin nahm der Vater seinen Fluch zurück und erkannte ihn wieder als Sohn und Erben an. Das Paar bekam eine Tochter, aber an Beatrices 14. Geburtstag verlor Kay Strulovitch durch einen Schlaganfall einen Großteil ihrer Sprache und ihres Gedächtnisses. Deshalb kann Simon Strulovitch nicht mit ihr über seine Sorgen reden. Die inzwischen 16-jährige, an der Golden Triangle Academy Kunst studierende Tochter Beatrice ist in Kreise geraten, die dem Vater gar nicht gefallen. Aber sie hört nicht mehr auf ihn.
Beatrices neue Freundin heißt Anna Livia Plurabelle Cleopatra Shalcross. Ihr Vater Peter Shalcross, MBE, war Dekan an der Business School in Stockport.
[…] ein Gras rauchender, Gras und Medien missbilligender Medien-Dozent. Er war ein Erbe, der für die Umverteilung allen Wohlstands eintrat, des eigenen ausgenommen, ein Utopist, der dem Prinzip sozialer Verbesserungen misstraute, ein Liebhaber gregorianischer Gesänge, der von einer Karriere als Rockstar träumte, ein wunderlicher Naturschützer, der seinen Söhnen schnelle Autos kaufte […]
Nachdem ihn seine Frau Christine verlassen hatte, nahm er sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben. So wurde die einzige Tochter zur reichen Erbin. Um sich einen Mann zu suchen, ging Plurabelle an ihrem 21. Geburtstag zu einer Swinger-Party in Alderley Edge – vergewisserte sich jedoch zuvor, dass sie dort nicht ihrer Mutter begegnen würde. Nachdem sie die Schlüssel eines VW Käfer, BMW Alpina und Porsche Carrera in einen Kübel mit Eiswürfeln geworfen hatte, beobachtete sie die Männer. Diese prügelten sich um den BMW und den Porsche, aber keiner von ihnen beachtete den VW. Sie urteilten also alle nur auf Grund von Oberflächlichkeiten und kamen deshalb für Plurabelle nicht in Frage.
Enttäuscht lebte sie ein Jahr lang als Lesbe, trieb es auch schon mal mit zwei anderen Frauen gleichzeitig und ließ sich die Brüste wieder verkleinern. Nachdem sie sich als Model, Journalistin und Künstlerin versucht hatte, eröffnete sie in den früheren Ställen des Old Belfry das Restaurant „Utopia“ und begann die Fernsehsendung „Küchen-Ratgeber“ zu moderieren. D’Anton, ein in Guinea geborener Sohn wohlhabender missionarisch beseelter Eltern, ein vielleicht homosexueller, zweifellos nicht eindeutig heterosexueller Stammgast im „Utopia“, wurde schließlich ihr Vertrauter.
Eineinhalb Jahre später musste ein Automechaniker gerufen werden, und als Plurabelle hörte, Barnaby sei in ihrer Garage schnurstracks auf den VW Käfer zugegangen, ohne die Luxusautos auch nur anzuschauen, wusste sie, dass sie den richtigen Mann fürs Leben gefunden hatte. Aber sie stellte ihren neuen Lebensgefährten immer wieder auf die Probe.
Zu Hause […] musste Barney erraten, in welchem Kleid sie sich heute am liebsten mochte, welche Ohrringe am besten dazu passten, ob sie ihren Hummer ausgelöst oder in der Schale wollte (Thermidor oder Newburg), ob schnörkellosen oder perversen Sex, im Hellen oder Dunkeln, bei offenem oder geschlossenem Fenster.
„Du kennst mich einfach nicht“, sagte sie, wenn er danebentippte. „Ich weiß nicht, warum wir zusammen sind.“
Von Beatrice und Plurabelle erzählt nun Simon Strulovitch seinem Gast Shylock .
Shylock war am Grab seiner Frau Leah, der er gern aus Büchern vorliest. Auch von der gemeinsamen Tochter Jessica erzählt er ihr. Die Verstorbene ist für ihn lebendiger als Kay Strulovitch für ihren Mann. Aber darüber, dass Jessica einen Ring stahl, den Leah ihm geschenkt hatte, sich vom Erlös einen Affen kaufte und mit ihrem Liebhaber Lorenzo durchbrannte, verschweigt er seiner Frau. Da geht es ihm wie Simon Strulovitch, der seine Sorgen in Bezug auf Beatrice auch nicht mit seiner Frau teilen kann.
Beatrice war 13 Jahre alt, als ihr Vater anfing, sie zu überwachen. Er wollte nicht, dass ihr „irgendein chthonisches Arschloch an den Brüsten herumfummelt“. Und obwohl er sich nicht für religiös hält, würde er auf keinen Fall einen nichtjüdischen Schwiegersohn akzeptieren.
Auf jeden Fall folgte er ihr auch weiterhin, und sie gewöhnte sich so an seine Gegenwart (im Schatten eines Parkplatzes, am Ende der Theke mit dunkler Brille hinter der Financial Times versteckt), dass sie ihn ungeniert fragte, ob er sie nach Hause bringen könne, wenn sie das Gefühl hatte, lange genug unterwegs gewesen zu sein, oder ihn um Geld bat, wenn sie keines mehr hatte.
Als ihm ihre Appetitlosigkeit auffiel und er Bissspuren an ihrem Hals entdeckte, passte er noch mehr auf.
Eines Abends folgte er ihr nach Levenshulme – einen Vorort, in den eine Tochter Strulovitchs keinesfalls ihren Fuß setzen durfte –, trat die Tür einer Sozialwohnung ein und würgte den Ersten, den er in die Finger bekam. Es war der Großvater von jemandem, zu alt, um sich an Strulovitchs Tochter zu vergehen, wobei er natürlich Wache halten konnte, während es ein Jüngerer tat. Fünf Leute waren notwendig, um den Alten aus seinen Klauen zu befreien. Einer von ihnen war der vermeintliche Verführer, der in diesem Moment eine zu klägliche Figur abgab, um sich auch nur an einer Maus zu vergehen.
Bald darauf erlitt Kay den Schlaganfall.
Mit 16 verliebt sich Beatrice ausgerechnet in Gratan Howsome, einen auch als Unterwäsche-Model tätigen nicht-jüdischen Fußballer, der doppelt so alt ist wie sie und bereits mehrere gescheiterte Ehen hinter sich hat. Er liebe die Juden, beteuert er, als er sich bei ihrem Vater vorstellt, und versichert, dass er keinen Konfessionswechsel von Beatrice erwarte. Aber damit gibt Simon Strulovitch sich nicht zufrieden, und er erklärt Gratan Howsome, wie dieser durch eine kleine Operation zu dem gemacht werden kann, was er nicht ist.
Daraufhin verlässt Beatrice ihr Elternhaus und versteckt sich mit ihrem Liebhaber in der Villa ihrer Freundin Plurabelle.
Plury selbst war für ein paar Tage weg, weil an ihren Körperkonturen Korrekturen vorgenommen werden mussten.
Aber noch am ersten Abend muss Gratan Howsome seine Geliebte allein lassen, denn er hat sich mit D’Anton im Ristorante Treviso verabredet, um dessen Rat zu hören. Dort werden die Freunde von Shylock und Simon Strulovitch gesehen.
Kurz darauf erhält Simon Strulovitch einen Brief von D’Anton, der ihn um ein vor wenigen Tagen bei Capes Dunn Fine Art Auction Galleries in Manchester ersteigertes Kunstwerk bittet, eine Studie von Solomon Joseph Solomon für sein Gemälde „Love’s First Lesson“. Ein Freund wolle das Bild seiner Geliebten schenken, schreibt er. D’Anton hatte Barnaby geraten, diese Zeichnung als Geschenk für Plurabelle zu erwerben, aber sie waren zu spät zur Auktion gekommen. Wenn Simon Strulovitch nicht D’Anton mit Gratan Howsome zusammen im Restaurant gesehen hätte, wäre er bereit gewesen, ihm die Studie zum Einstandspreis abzutreten oder vielleicht sogar als Geschenk, aber nun nimmt er an, dass es sich bei dem nicht namentlich genannten Freund um Gratan Howsome handelt, der Beatrice mit D’Antons Hilfe entführte. Die Gois machen sich lustig über ihn! Darauf weist schon der Titel der Zeichnung hin!
Simon Strulovitch sucht D’Anton auf. Der stellt sogleich fest, dass der Adressat des Briefes mit leeren Händen gekommen ist.
„Aber Sie haben das Bild nicht dabei.“
„Und Sie nicht, was Sie mir dafür geben wollen.“
„Ich kann Ihnen sofort einen Scheck ausstellen.“
„Ich will keinen Scheck.“
„Was wollen Sie dann?“
„Nicht was. Wen.“
„Ich habe Ihre Tochter nicht, wenn es darum geht.“
D’Anton, der begreift, dass der Besucher annimmt, das Bild sei für Gratan Howsome gedacht, versichert ihm, weder Beatrice noch der Fußballer seien da. Simon Strulovitch glaubt ihm nicht und droht mit juristischen Konsequenzen, weil Beatrice erst 15 Jahre alt war, als Gratan Howsome erstmals mit ihr schlief. Dafür habe er Beweise, betont er. Tatsächlich fand er diese, als er auf Anraten Shylocks den Computer seiner Tochter durchsuchte.
„Dass das eine Straftat ist, muss ich Ihnen nicht erklären. Dass andere, die das wissend geduldet haben, als Mittäter angeklagt werden könnten, ist etwas, woran Sie bisher möglicherweise noch nicht gedacht haben. Ich würde es Ihnen jedoch nahelegen. Ich will meine Tochter zurück, und Ihren Freund mit ihr. Wie ich dann weiter verfahre, hängt weitestgehend von Ihrer Mithilfe ab.“
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Beatrice und Gratan flogen drei Tage zuvor nach Venedig, aber der Fußballer befürchtet nicht nur, dass Simon Strulovitch mit Interpol nach ihnen suchen lässt, sondern vor allem auch um seinen Vertrag mit Stockport County. Als D’Anton ihm simst, dass Simon Strulovitch mit einer Anzeige wegen Verführung einer Minderjährigen droht, weigert Gratan Howsome sich, zurückzukehren.
D’Anton schreibt daraufhin einen weiteren Brief an Simon Strulovitch.
„Akzeptieren Sie mich mit meiner Person als Sicherheit für Gratans Rückkehr innerhalb von vierzehn Tagen. […] Ist er dann nicht da, um sich seiner Strafe zu stellen, nehmen Sie von mir, was Sie auch von ihm nehmen würden.“
Shylock, der den von Plurabelle persönlich überbrachten Brief entgegengenommen hat, fragt seinen Gastgeber:
„Aber wie könnte dir eine Beschneidung D’Antons helfen?“
„Es wäre ein Spaß.“
Zum Ablauf der Frist veranstaltet Plurabelle einen Champagnerempfang mit einem Streichquartett. Weil Gratan Howsome nicht auftaucht, lässt Simon Strulovitch sich und D’Anton von seinem Chauffeur zur Klinik bringen und kehrt dann zum Fest zurück, um auf die Nachricht von der durchgeführten Beschneidung zu warten.
Plurabelle verliebt sich in Shylock, der Simon Strulovitch zu dem Empfang begleitet hat und ist froh, dass Barney nicht da ist.
Nachdem Simon Strulovitch schriftlich garantiert hat, dass er Beatrice keine Vorschriften mehr machen und keine Anschuldigungen gegen Plurabelle und D’Anton erheben werde, verkündet Plurabelle ihm und den anderen Gästen, sie habe einen Brief des Chirurgen Pandhari Malik, der allerdings bereits fünf Tage alt sei. In dem von ihr vorgelesenen Schreiben fasst der Arzt das Ergebnis der Voruntersuchung zusammen: Er könne den gewünschten Eingriff nicht vornehmen, denn D’Anton sei bereits als Kind in Guinea beschnitten worden.
Brendan fährt Simon Strulovitch nach Hause – und kündigt beim Aussteigen seine Anstellung.
Unverzüglich schickt der Unterlegene seinem Herausforderer D’Anton die Studie von Solomon Joseph Solomon.
Bei Kay findet er Beatrice vor.
Von keiner der beiden Frauen erhielt er ein Zeichen der Zuneigung.
Wann sie zurückgekommen sei, fragt Simon Strulovitch seine Tochter. Gerade eben erst, antwortet sie und fügt hinzu, dass sie sich von Gratan Howsome getrennt habe.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Anlässlich des 400. Todestages von William Shakespeare bat der 1917 von Leonard und Virginia Woolf gegründete Verlag The Hogarth Press einige Schriftsteller um Neuerzählungen zu Werken von William Shakespeare:
- Margaret Atwood: „Hexensaat“ (2017) nach „Der Sturm“
- Tracy Chevalier: „Der Neue“ (2018) nach „Othello“
- Howard Jacobson: „Shylock“ (2016) nach „Der Kaufmann von Venedig“
- Jo Nesbø: „Macbeth“ (2018) nach „Macbeth“
- Edward St Aubyn: „Dunbar und seine Töchter“ (2017) nach“König Lear“
- Anne Tyler: „Die störrische Braut“ (2016) nach „Der Widerspenstigen Zähmung“
- Jeanette Winterson: „Der weite Raum der Zeit“ (2016) nach „Das Wintermärchen“
Der britische Autor Howard Jacobson (* 1942) ließ sich von der Shakespeare-Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ zu dem in der heutigen Zeit spielenden Roman „Shylock“ inspirieren. Dem „ewigen Juden“ Shylock stellt Howard Jacobson eine neu erfundene Figur gegenüber: die des ebenfalls jüdischen, sich jedoch für areligiös haltenden Kunstsammlers Simon Strulovitch. Während es in „Der Kaufmann von Venedig“ der Wucherer Shylock ist, der Anspruch auf ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Schuldners erhebt, verlangt in Howard Jacobsons Roman Simon Strulovitch von D’Anton den Verzicht auf Körpergewebe, und zwar durch eine Beschneidung.
Shylocks Geschichte wird im Roman vorausgesetzt. Mehrere Male fragt Simon Strulovitch, ob er ernsthaft vorgehabt habe, ein Stück Fleisch aus dem Körper des Kaufmanns zu schneiden.
„Wie sehr war es ein Spaß – wie ernst war’s dir damit?“
Der Roman „Shylock“ dreht sich um die Frage, wodurch ein Ungläubiger in einer säkularisierten Welt als Jude definiert ist. Zugleich wird das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden beleuchtet.
Statt die skurrile Geschichte zu inszenieren, erzählt Howard Jacobson sie und löst sie in Dialoge auf. Tiefgründig und irrwitzig sind dabei vor allem die Diskussionen, die Shylock und Simon Strulovitch miteinander führen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Albrecht Knaus Verlag
Eine Weitere Neufassung eines Shakespeare-Stückes:
Ian McEwan: Nussschale