Jeanette Winterson : Der weite Raum der Zeit

Der weite Raum der Zeit
Originalausgabe: Gap of Time The Hogarth Press, London 2015 Der weite Raum der Zeit Übersetzung: Sabine Schwenk Albrecht Knaus Verlag, München 2016 ISBN: 978-3-8135-0673-0, 320 Seiten ISBN: 978-3-641-16145-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der erfolgreiche Londoner Investment-Banker Leo Kaiser unterstellt seiner schwangeren Ehefrau MiMi und seinem amerikanischen Jugendfreund Xeno, ihn zu betrügen. Das erwartete Kind sei von Xeno gezeugt worden, glaubt der rasend Eifer­süchtige, ohne dass es dafür einen Grund gäbe. Nach der Geburt der Tochter Perdita verlässt MiMi ihren Mann. Der entführt Perdita und beauftragt einen Gärtner, sie zu ihrem vermeintlichen Vater Xeno in die USA zu bringen ...
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Kritik

Jeannette Winterson hat den Plot der Shakespeare-Komödie "Das Wintermärchen" in unsere Zeit verlegt. Ihren flotten Roman "Der weite Raum der Zeit" kann man als einfallsreiches Spiel mit Figuren und Klischees auffassen.
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Leo und Xeno waren 13 Jahre alt, als sich ihre Wege 1987 im Internat kreuzten. Beide wurden von ihren Vätern ins Internat geschickt, Leo, weil seine aus Italien stammende Mutter die Familie verlassen hatte, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben, Xeno, weil seiner alkoholkranken Mutter das Sorgerecht entzogen worden war. Die beiden Schüler wurden enge Freunde, und unter der Dusche masturbierten sie sich auch schon mal gegenseitig. Leo überredete Xeno zu einer Mutprobe mit den Fahrrädern an der Klippe. Dabei stürzte Xeno. Nachdem man ihn von einem Felsvorsprung geborgen hatte, wurde er mit einer Gehirnerschütterung und einem Beckenbruch ins Krankenhaus gebracht.

Mit 18, nach dem Examen, kaufte Xeno sich ein Wohnmobil, besorgte sich einen Hund aus dem Tierheim und vagabundierte einige Zeit. Dann begann er Computerspiele wie „Der weite Raum der Zeit“ zu entwickeln. Leo bekam durch seinen Vater einen Job bei Barclays in London. Drei Jahre lang sahen sich die Freunde nicht.

Weil Leo als Investment-Banker einigen Schaden verursacht hatte, kündigte ihm die Bank 2008 in der Finanzkrise. Als er das Gebäude verließ, bewarfen ihn Demonstranten gegen den Kapitalismus mit Eiern. Leo packte zwei der Kerle, stieß sie zu Boden und brach einem dritten die Nase. Jemand filmte die Szene, und Leo wurde wegen Körperverletzung verhaftet, kam am Ende jedoch mit einer Geldstrafe davon. Aus Frustration trank Leo. Er ließ sich nach drei Monaten in eine Entzugsklinik aufnehmen und begann anschließend mit einer Psychotherapie. Unvermittelt besann er sich, hörte sowohl mit der Therapie als auch mit dem Trinken auf und legte einen eigenen Hedgefonds auf, den er Sicilia nannte. Damit peilt er inzwischen die Milliarden-Marke an.

Leo Kaiser ist seit 2003 mit der am 6. November 1977 in New York als Tochter einer Amerikanerin und eines russischen Diplomaten geborenen, in Paris aufgewachsenen und unter dem Künstlernamen MiMi berühmten Sängerin Hermione Delannet verheiratet. Xeno war einer der Trauzeugen. Am 1. April 2004 bekamen Leo und MiMi einen Sohn. Inzwischen ist Milo neun Jahre alt, und seine Mutter erwartet ein zweites Kind.

Xeno ist bei Leo und MiMi in London zu Besuch. Obwohl er schwul ist und seine in New Bohemia/Virginia zurückgelassene Ehefrau nicht liebt, hat das Paar einen achtjährigen Sohn mit Namen Zel. Als Xeno einen besorgten Anruf von der Schule bekommt, weil Zel nicht mehr spricht, will er sich von seinen Freunden verabschieden und nach Hause fliegen. Aber Leo überredet ihn, noch ein wenig länger zu bleiben.

Weil Leo überzeugt ist, dass MiMi ihn betrügt, beauftragte er vor zwei Monaten einen Privatdetektiv, sie zu beschatten, und als dieser nichts Verdächtiges zu melden hat, lässt Leo im Schlafzimmer seiner Frau eine Webcam montieren. Heimlich beobachtet er MiMi auf dem Bildschirm. Er sieht sie mit seiner 45-jährigen Assistentin Pauline Levy und Xeno. MiMi probiert ein Kleid an. Vorübergehend trägt sie nicht einmal Unterwäsche. Leo fühlt sich in seinem Verdacht bestätigt: MiMi betrügt ihn nicht nur mit Xeno, sondern die beiden haben zugleich eine Dreierbeziehung mit Pauline!

Nachdem MiMi sich für ein Kleid entschieden hat, fährt sie mit Xeno und Pauline zum Roundhouse. Dabei handelt es sich um einen früheren Lokschuppen mit Drehplatte. Inzwischen finden dort Musik- und Theaterveranstaltungen statt. Leo plant, das Bauwerk abzureißen, um Platz für zwei 20-stöckige Hochhäuser mit Luxusapartments zu gewinnen. Ein paar Sozialwohnungen sind ebenfalls vorgesehen, und das Roundhouse soll auch wieder einen Theatersaal für 250 Zuschauer bekommen.

Nach MiMis Auftritt im Roundhouse beobachtet Leo, wie Xeno für Pauline ein Taxi ruft und dann zur Tiefgarage geht, um MiMis Kleinwagen zu holen. Der eifer­süchtige Ehemann rast mit seinem Jeep los und rammt den Fiat. Xeno steigt aus – und kann gerade noch beiseite springen, als der Jeep erneut auf ihn zukommt. Warum sein Freund versucht, ihn umzubringen, begreift er nicht. Im letzten Augenblick findet er hinter einem Stahlgitter Schutz vor dem Wütenden.

Zu Hause stürzt Leo sich auf seine im achten Monat schwangere Frau, die bereits im Bett liegt. Fassungslos starrt sie ihn an, als er sie fragt, wie lange sie ihn schon mit Xeno betrüge. Er schlägt und vergewaltigt sie im Zorn. Die Fruchtblase platzt. Pauline eilt MiMi zu Hilfe.

Nachdem MiMi sich im Krankenhaus erholt hat, kehrt sie nicht zu ihrem Mann zurück, sondern wohnt bei Pauline, die Leo vergeblich auffordert, einen Vaterschaftstest durchführen zu lassen.

Drei Monate nach der Geburt der Tochter, die den Namen Perdita erhält, entführt Leo die beiden Kinder aus Paulines Haus. Anthony („Tony“) Gonzales, Leos 62 Jahre alter, aus Mexiko stammender Gärtner, soll Perdita zu Xeno nach New Bohemia bringen. Leo versichert ihm, Xeno sei der leibliche Vater des Säuglings und warte darauf. Am Flughafen übergibt Leo dem Mann das Baby, ein Ticket, einen Pass für Perdita und eine Tasche mit Babysachen. Als er mit Milo nach Berlin fliegen will, wird er bei der Sicherheitskontrolle abgeführt. MiMi alarmierte nämlich bereits die Polizei. Es kommt zu einem Gerangel. Milo nutzt die Gelegenheit, um wegzulaufen. Draußen rennt er versehentlich vor einen Lastwagen. Der Neunjähirge ist sofort tot.

Tony Gonzales mietet nach der Ankunft in Virginia einen Leihwagen, wie Leo es ihm aufgetragen hat. Bei der von Leo genannten Bank erwartet man ihn bereits. Nachdem er sich ausgewiesen hat, erhält er gegen Quittung einen mit Geld­bündeln und Diamanten gefüllten Koffer. Tony nutzt die Gelegenheit, um sich nach dem Weg zu Xenos Adresse zu erkundigen.

Zu seiner Verwunderung ist Xeno nicht zu Hause. Es heißt, er sei in Los Angeles und werde erst in zehn Tagen zurückerwartet. Weil Perdita nicht zu kreischen aufhört, fährt Tony mit ihr ins Santa Maria Hospital, wo sich die Krankenschwester Anna Conchitas um das Kleinkind kümmert.

Mehrmals fällt Tony ein bestimmtes Auto auf, und er begreift, dass er verfolgt wird. Vermutlich haben es die beiden Männer in dem Wagen auf den Koffer abgesehen. Es war leichtsinnig, in der Bank Xenos Adresse zu nennen. Tony versucht zunächst, mit Perdita zu Fuß zu entkommen, aber als ein Wolkenbruch einsetzt, legt er das kleine Mädchen in die Babyklappe des Santa Maria Hospitals, stellt den Aktenkoffer dazu und klemmt einen Stift in die Klappe, damit sie sich nicht schließt. In der Absicht, den Verfolgern zu sagen, das Geld befinde sich im Hotelzimmer, geht er auf die beiden Fremden zu.

Kurz darauf kommen zufällig der afroamerikanische Barpianist Shep und sein 20-jähriger Sohn Clo angefahren. Sie sehen, wie Tony Gonzales von zwei Männern zusammengeschlagen wird. Die Gangster zerschießen einen Vorderreifen. Der Wagen prallt gegen den Bordstein. Die Verbrecher flüchten. Shep und Clo rennen zu dem am Boden liegenden Fremden. Aber der ist bereits tot.

Statt die Polizei zu rufen, steuern Shep und Clo den nahen Parkplatz des Santa Maria Hospitals an. Während Clo den Reifen wechselt, fällt Shep auf, dass in der offenen Babyklappe Licht brennt. Er hebt das kleine weiße Mädchen vorsichtig heraus und nimmt auch den Koffer an sich.

Vor einem Jahr erstickte Shep im Krankenhaus seine künstlich beatmete Frau, um ihr weiteres Leid zu ersparen [Sterbehilfe]. Der überlastete Arzt, der trotz des Alarms erst nach längerer Zeit nachschaute, stellte den Totenschein aus und trug „Atemversagen“ als Ursache ein.

Ich bereue es nicht, doch verzeihen kann ich es mir nicht. Ich habe das Richtige getan, doch es war falsch.
„Sie haben aus dem richtigen Grund das Falsche getan“, hat der Pfarrer gesagt.

Aus den Medien erfahren Shep und Clo, dass es sich bei dem Opfer des Raub­über­falls um Anthony Gonzales handelt. Zeugen werden gesucht. Statt sich zu melden, ziehen Shep und Clo mit dem Säugling in ein anderes Viertel, wo man sie nicht kennt. Das Mädchen heißt Perdita. Dieser Name stand auf einem Zettel in dem Koffer. Außerdem enthielt das Gepäckstück 500 000 Dollar und ein Säckchen mit Diamanten. Shep verkauft die alte Wohnung. Mit dem Erlös und dem Geld aus dem Koffer erwirbt er die Pianobar „Fleece“.

Als Jugendliche gründet Perdita mit den ein Jahr älteren Drillingen HollyPollyMolly die Girlgroup „The Separations“. Die drei chinesischen Mädchen waren in eine Babyklappe in Guangzhou gelegt und von einem Baptisten-Missionar adoptiert worden. Der brachte sie mit nach New Bohemia. Dass Perdita auch einmal in einer Babyklappe lag, ahnt sie nicht. Sie weiß nur, dass Shep und Clo nicht ihr leiblicher Vater bzw. Bruder sind.

Perdita verliebt sich in einen acht Jahre älteren Mann namens Zel, der in der Autowerkstatt eines Mannes namens Autolycus arbeitet, obwohl er Philosophie studiert hat. Sie lädt ihn zur Geburtstagsfeier ihres Pflegevaters ein. Nach seinem Vater gefragt, sagt Zel, der entwickle Computerspiele.

„Eine lange Geschichte, er ist im Prinzip schwul, aber er und meine Mom haben sich irgendwie arrangiert. Er wollte einen Sohn. Ich war sein Ego-Projekt.“

„Dad war viel da, bis ich ungefähr acht Jahre alt war. Dann hatte er irgendwie einen Zusammenbruch, und von da an haben wir ihn nicht mehr oft gesehen. Er hat alles für mich bezahlt, hat mir auch das ganze Studium finanziert.“

Zel war acht Jahre alt, als die Mutter mit ihm nach New York zog. Sein Vater blieb in London zurück, und sie sahen ihn nur noch selten.

Unerwartet taucht Xeno bei der Geburtstagsfeier auf. Er habe von Autolycus erfahren, dass Zel hier sei, erklärt er.

Er streckte Perdita die Hand hin.
„Ich bin Xeno. Zels Vater.“
„Sie haben einen britischen Akzent“, sagte Perdita.
„Ich bin Engländer. Zel ist Amerikaner, weil seine Mutter Amerikanerin ist. Er ist auch hier aufgewachsen.“

Xeno kommt auf den Raubmord an einem Mexikaner vor 18 Jahren in New Bohemia zu sprechen.

„Es gab einen Zeugen. Ein Pfleger, der gerade aus dem Krankenhaus kam. Angeblich hat er ein Auto mit geplatztem Reifen gesehen und zwei Typen, die im Regen das Rad wechselten wie in einem finsteren Film Noir. Aber die hat man auch nicht gefunden.“

„Ich bin der Mann, den Tony Gonzales damals gesucht hat.“
Totenstille.
„Was? Der Typ wollte Ihnen das Geld bringen und das …?“
Clo brachte seinen Satz nicht zu Ende. Shep war aufgestanden. Leise schwankend stand er da. Sein Gesicht zuckte. Offenbar versuchte er vergeblich, etwas zu sagen […]

Shep sinkt zu Boden. Im Krankenhaus wird ein Schlaganfall diagnostiziert.

Am nächsten Morgen möchte Perdita von Clo wissen, warum Shep auf Xenos Äußerung so heftig reagierte. Clo sagt, der Vater habe vorgehabt, ihr nach ihrem 18. Geburtstag die ganze Wahrheit zu erzählen. Nun übernimmt er es.

„[…] wir haben versucht, diesem Typen, diesem Gonzales zu helfen. Wir waren im Auto. Wollten nach Hause. Wir haben den Überfall gesehen. Sind hin, um ihm zu helfen. Aber es war zu spät. Als er gefallen ist, ist er mit dem Kopf aufgeschlagen. Wir wussten ja nicht mal, dass auf den geschossen worden war. Eigentlich weiß ich das immer noch nicht. Aber er war tot. Dad wollte nicht auf die Bullen warten. Du weißt doch, dass er den Bullen nicht traut. Er dachte, die würden uns das anhängen. Himmel, wir sind schwarz!“

„Nachdem er sich dafür entschieden hatte, dich zu behalten, wollte er nichts hören und sehen. Ein paar Monate lang hat er dich in der Wohnung versteckt. Dann sind wir in die Vorstadt gezogen, in eine Mietwohnung. Die Leute dachten bestimmt, das Kind wäre meins – wieder so ein schwarzer Kerl, der keinen Job hat, dafür aber ein Kind – und dass Shep der Großvater wäre […].“

„[…] haben wir dich ganz legal angemeldet. Wir haben eine Frau gefunden, die Geld brauchte und bereit war, zu sagen, sie wäre deine Mutter und Shep dein Vater. Gewusst hat die gar nichts. Der war das egal. Ging ihr nur ums Geld. Wir haben ein Geburtsdatum erfunden, und so hast du eine Geburtsurkunde gekriegt, Pass, Sozialversicherung, den ganzen Scheiß.“

Perdida sucht Xeno auf. Der berichtet, Leo sei überzeugt gewesen sei, dass er und MiMi ihn betrogen hätten.

„Was hat er mit dem Kind gemacht?“
„Er hat sie zu mir geschickt, aber sie ist nie angekommen.“
„Warst du der Vater?“
„Nein. Ja. Leo war der Vater. Ich habe beide geliebt, Leo und MiMi. Ich war in beide verliebt. Und ich wollte immer eine Tochter haben.“

Er sei nicht da gewesen, als Tony Gonzales ihm das Kind bringen wollte, sagt Xeno. Dann korrigiert er sich:

„Es stimmt nicht, dass ich nicht da war. Ich war da, als Tony Gonzales mit dem Baby kam, hier, in diesem Haus. Leo hatte mir gemailt, aber ich wollte es nicht glauben. Als es dann doch geschah, dachte ich, Tony würde einfach wieder ins Flugzeug steigen, mit dem Baby zurückfliegen und es MiMi zurückgeben. Von dem Geld wusste ich nichts. Leo hatte sich das ausgedacht, um mich zu verletzen. Er hätte es mir auch überweisen können, das Arschloch, dann hätte ich es sofort zurückgeschickt. Stattdessen brachte er es cash. Ein großer, gut gefüllter Fick-dich!-Koffer. Aber irgendjemand hat von dem Geld gewusst, in der Bank muss etwas durchgesickert sein.“

Zel begleitet Perdita auf dem Flug nach London, aber zu der Fondsgesellschaft Sicilia geht sie allein. Der transsexuellen Empfangsdame Lorraine LaTrobe stellt sie sich als Miranda Shepherd vor und behauptet, sie wolle sich um ein Praktikum bewerben. Erst am Abend hat Leo Kaiser Zeit für sie. Er nimmt sie mit in eine Bar an der Themse und bestellt Scampi. Er sei geschieden und habe keine Kinder, antwortet er auf entsprechende Fragen.

Als Perdita zu Zel ins Hotel zurückkommt und er wissen möchte, ob sie Leo Kaiser sagen wolle, dass sie seine Tochter ist, meint sie:

„Ich weiß nicht. Dann ist er in meinem Leben drin. Und er ist ziemlich dominant.“

Am Morgen ruft Leo an und verabredet sich mit Perdita am Roundhouse.

„Ich dachte mir, wenn Sie bei uns das Praktikum machen wollen, sollten Sie unser nächstes Projekt kennen.“

Als Leo ihren Begleiter erblickt, fragt er ungläubig: „Zel? Xenos Zel?“

Shep erholt sich von dem Schlaganfall. Er ahnt, dass sein Sohn Perdita das Geheimnis anvertraut hat, und Clo bestätigt es. Daraufhin will Shep mit Xeno reden. Clo erhält die Adresse von Autolycus, fährt hin und fordert Xeno zu einem Besuch im Krankenhaus auf.

Zu viert fliegen sie nach London. In den Büros von Sicilia treffen sie Leo Kaiser mit Pauline Levy und Lorraine LaTrobe an. Erst jetzt erfährt Leo, dass die angebliche Bewerberin für ein Praktikum nicht Miranda, sondern Perdita heißt.

„Der Mann, den Sie geschickt haben“, sagte Shep, „dieser Tony Gonzales, er hat das Baby in die Babyklappe des Santa Maria Hospitals gelegt, um es in Sicherheit zu bringen. Jemand war wegen dem Geld hinter ihm her, aber das wusste ich damals nicht. Clo und ich, wir haben versucht, ihn zu retten. Und dann habe ich Perdita gefunden.“
„Warum haben Sie sie nicht zur Polizei gebracht?“
„Damit Sie in ein Kinderheim kommt? Von irgendwem adoptiert wird? Wer imstande ist, sein eigenes Kind im Stich zu lassen, das dachte ich jedenfalls, ist als Vater ungeeignet.“
„Ich habe damals nicht geglaubt, dass sie mein Kind ist“, sagte Leo. „Ich dachte, sie wäre Xenos Kind.“
„Und ich wusste, dass sie nicht meins ist“, erwiderte Shep. „Aber ich habe sie geliebt.“

Leo unterstellt Shep, dass es ihm um die halbe Million Dollar und die Diamanten gegangen sei. Shep erwidert:

„Leo, Sie gehören zu den Typen, die die Welt so machen, wie sie ist. Und ich gehöre zu den Typen, die in der Welt leben, so wie sie ist. Für Sie bin ich einer von den Schwarzen, denen Sie meistens als Lieferanten und Sicherheitsmännern begegnen. Und weil es für Sie nichts Wichtigeres gibt als Geld und Macht, glauben Sie, für Leute, die nichts davon haben, wär’s auch das Wichtigste. Bei manchen mag das so sein – weil Typen wie Sie die Welt so gemacht haben, dass sich für Typen wie mich nur noch mit ’nem Lottoschein was ändern lässt. Harte Arbeit und Hoffnung nützen nichts mehr. Der amerikanische Traum ist ausgeträumt.“

Dann klärt er Perdita im Beisein der anderen darüber auf, dass die Piano-Bar „Fleece“ im Grundbuch auf ihren und Clos Namen eingetragen sei. Ihm selbst gehört nichts davon.

Nachdem Leo die Überraschung verdaut hat, fordert er Pauline auf, im Claridge’s Zimmer für die Besucher zu buchen, aber seine Assistentin bringt Xeno, Zel und Perdita, Clo und Shep in ihrem Haus unter. Während die Gäste noch schlafen, fährt sie mit dem Zug nach Paris und unterrichtet MiMi über die neue Entwicklung.

Als Leo von der Girlgroup „The Separations“ hört, lässt er die chinesischen Drillinge aus New Bohemia einfliegen und arrangiert einen Auftritt im Roundhouse. An dem Abend erfährt er von Pauline, dass der zuständige Minister beabsichtigt, die bereits erteilte Baugenehmigung zu überprüfen, weil gegen den Hauptinvestor Oshitavitch wegen Korruption ermittelt wird und er in Mordfälle verwickelt sein könnte. Pauline rät Leo, auf den Abriss des Gebäudes zu verzichten.

Nach dem Auftritt der Girlgroup wird die Bühne umgebaut. Dann tritt eine Sängerin ins Scheinwerferlicht und erklärt dem Publikum:

„Dieses Lied ist für meine Tochter. Sie heißt Perdita.“
Leo fuhr hoch. Er trat in den Gang. Von irgendwoher tauchte Xeno auf und ging zu ihm. Legte ihm einen Arm um die Schultern.

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Wie in der Tragödie „Othello, der Mohr von Venedig“ von William Shakespeare wütet auch in der Komödie „Das Wintermärchen“ ein Eifersüchtiger. Statt des dunkelhäutigen Feldherrn Othello ist es Leontes, der König von Sizilien. Ohne ersichtlichen Grund unterstellt er seiner schwangeren Ehefrau Hermione und seinem Jugendfreund Polixenes, dem König von Böhmen, dass sie ihn betrogen hätten und das ungeborene Kind nicht von ihm gezeugt worden sei [Inhaltsangabe].

„Das Wintermärchen“ veranschaulicht die zerstörerische Wirkung blinder Gefühle wie Eifersucht und die heilende Kraft der Vergebung. Die Vergangenheit beeinflusst zwar Gegenwart und Zukunft, aber Vergebung und Versöhnung sind jederzeit möglich.

Das 1611 uraufgeführte „Wintermärchen“ von William Shakespeare ist auch nach mehr als 400 Jahren aktuell. Das verdeutlicht die englische Schriftstellerin Jeanette Winterson (* 1959) in dem Roman „Der weite Raum der Zeit“, den sie im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts anlässlich des 400. Todestages von William Shakespeare verfasste. Sie hat den Plot in eine von Geld und Globalisierung geprägte Gesellschaft verlagert. Dass die zweite Hälfte des Romans „Der weite Raum der Zeit“ in naher Zukunft spielt, wird zwar nicht explizit erwähnt, lässt sich aber aus den anfangs genannten Daten errechnen.

Im Epilog von „Der weite Raum der Zeit“ heißt es:

Lassen wir sie nun alle samt Musik in diesem Theater zurück. Auf einem der hinteren Plätze habe ich darauf gewartet, was noch geschehen würde, und nun stehe ich draußen in der Sommernacht, der Regen tastend in meinem Gesicht.
Ich habe diese Cover-Version geschrieben, weil das Wintermärchen seit mehr als dreißig Jahren ein sehr persönlicher Text für mich ist.

Jeannette Winterson erklärt, dass sie selbst ein Findelkind sei. Sie wurde am 21. Januar 1960 von dem der Pfingstbewegung angehörenden Ehepaar Constance und John William Winterson adoptiert.

Alan Posener hält „Der weite Raum der Zeit“ für eine Schmonzette: „Wenn das Tiefsinn sein soll, dann ist Rosamunde Pilcher tiefsinnig.“ („Die Welt“, 23. April 2016). Zweifellos wimmelt es in „Der weite Raum der Zeit“ von Klischees und Ungereimtheiten, aber das kann man auch als einfallsreiches Spiel der Autorin auffassen. Ist das Happy End kitschig? Mag sein. Auf jeden Fall ist es ein Spaß. William Shakespeare hat seine Werke auch nicht übermäßig ernst genommen, und der Titel „Das Wintermärchen“ verweist darauf, dass es sich nicht um ein realistisches Stück handelt. Jeannette Winterson erzählt temporeich und schnörkellos eine turbulente, unterhaltsame Geschichte, eine „Cover-Version“, wie sie es selbst ausdrückt, der unterhaltsamen Shakespeare-Komödie „Das Wintermärchen“.

Bemerkenswert ist, dass Jeannette Winterson den Ruth Rendell gewidmeten Roman „Der weite Raum der Zeit“ mit der Entdeckung des Mädchens in der Babyklappe durch den afroamerikanischen Barpianisten Shep anfängt und ihm dabei als Ich-Erzähler das Wort überlässt. Den übrigen Teil der Handlung erzählt die Autorin selbst.

Immer wieder flicht sie Aphorismen ein, zum Beispiel:

In Leos Augen war dies der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Männer brauchten Gruppen und Gangs, Sport und Vereine, Institutionen und Frauen, weil sie wussten, dass es jenseits davon nur das Nichts und den Selbstzweifel gab. Frauen dagegen versuchten ständig, Verbindungen herzustellen, Beziehungen aufzubauen.

Männer schreckten vorm Heiraten zurück –– seine ganzen Freunde hatten es rausgeschoben, bis sie jenseits der vierzig oder sogar schon fünfzig waren. Aber wenn sie erst einmal geheiratet hatten, schreckten sie vor der Scheidung zurück.

Wir hatten ihn [den Sohn] gemacht. Ohne Qualifikationen oder Fortbildungen, ohne College-Diplome oder Forschungsdollars hatten wir einen Menschen gemacht. Was ist das für eine verrückte, unbekümmerte Welt, in der wir Menschen machen können.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Albrecht Knaus Verlag

William Shakespeare: Das Wintermärchen

Weitere Neufassungen von Shakespeare-Stücken:
Margaret Atwood: Hexensaat
Ian McEwan: Nussschale
Jo Nesbø: Macbeth
Howard Jacobson: Shylock
Anne Tyler: Die störrische Braut

Philippe Besson - Eine italienische Liebe
Philippe Besson entwickelt die Dreiecksgeschichte Schritt für Schritt, indem er Anna, Leo und – wie selbstverständlich – den toten Luca abwechselnd zu Wort kommen lässt, oder genauer: ihre innere Monologe verfolgt, die auf präzisen, eingehenden und subtilen Beobachtungen psychischer Vorgänge beruhen.
Eine italienische Liebe