Anna Gavalda : Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein
Originalausgabe: Ensemble c'est tout Le Dilettante, Paris 2004 Zusammen ist man weniger allein Übersetzung: Ina Kronenberger Carl Hanser Verlag, München / Wien 2004 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-596-17303-5, 553 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vier einsame, grundverschiedene, in einer Wohngemeinschaft in Paris lebende Personen werden enge Freunde: der intellektuelle Aristokratensohn Philibert, der ins Stottern gerät, wenn er mit anderen spricht, die magersüchtige Künstlerin Camille, der Koch Franck und dessen Großmutter Paulette, die nicht im Seniorenheim bleiben wollte ...
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Kritik

"Zusammen ist man weniger allein" ist ein anspruchsloser Unterhaltungsroman von Anna Gavalda, ein Großstadtmärchen über Gutmenschen, bei dessen Lektüre man sich wohlfühlen kann – wenn man nichts anderes vorhat, als der Realität für ein paar Stunden zu entfliehen.
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Philibert Jehan Louis-Marie Georges Marquet de la Durbellières wurde am 27. September 1967 in einem Schloss geboren. Die beiden Schwestern des jetzt Sechsunddreißigjährigen leben noch dort bei den Eltern, die von den Kindern mit „Sie“ angesprochen werden und sich gegenseitig ebenfalls siezen. Philibert stottert bei der geringsten Gefühlserregung. Er hat zwar das Staatsexamen in Geschichte, aber wegen seiner Prüfungsangst scheiterte er dreimal bei der Aufnahmeprüfung in die École des Chartres. Jetzt verkauft er Ansichtskarten in einem Museumsladen in Paris – und wird nicht zuletzt deshalb von seinem Vater verachtet. Vorübergehend lebt er in einer 300 Quadratmeter großen Wohnung in der Avenue Émile-Deschanel. Sie gehörte seiner im letzten Jahr verstorbenen Großmutter mütterlicherseits, und bis zur Klärung eines Erbschaftsstreits soll Philibert im Auftrag seines Vaters als Pförtner, Hauswart und Nachtwächter auf die Wohnung aufpassen, damit sich dort keine Verwandten einnisten.

Einen Mitbewohner hat Philibert dennoch: Franck Germain Maurice Lestafier ist drei Jahre jünger und arbeitet in einem Feinschmecker-Restaurant außerhalb von Paris als Koch.

Franck wuchs bei seinen Großeltern auf. Von seiner Großmutter Paulette Lestafier weiß er, dass seine Mutter Nadine abtreiben lassen wollte, nachdem sie von einer Zufallsbekanntschaft auf dem Rücksitz eines Autos geschwängert worden war, aber Paulette gab ihr kein Geld dafür.

Seit dem Tod ihres Ehemanns Maurice lebt Paulette Lestafier allein in einem Haus am Stadtrand von Paris. Nachdem sie sich bei einem Sturz in der Küche einen Oberschenkelhalsknochen gebrochen hat, drängt ihre etwas jüngere Freundin Yvonne Carminot den Enkel, die Greisin nach dem Aufenthalt im Krankenhaus und in der Reha-Klinik in einem Seniorenheim unterzubringen. Paulette ist darüber so verärgert, dass sie eine Zeit lang mit Franck kein Wort mehr spricht. Und in dem Heim integriert sie sich auch nicht.

Im Treppenhaus fällt Philibert eines Tages auf, dass die Bewohnerin der früheren Dienstmädchen-Kammer unter dem Dach krank aussieht. Camille Fauque ist sechsundzwanzig und wiegt bei einer Körpergröße von 173 cm nur 48 kg, denn seit ihrer Kindheit – als ihr die kettenrauchende Mutter Catherine lieblos zubereitete Gerichte auf den Tisch gestellt hatte – verspürt sie keinen Appetit mehr [Anorexie]. Ihr Vater Jean-Louis war von einem hohen Gebäude gestürzt oder gesprungen. Mit siebzehn lief sie zum ersten Mal von zu Hause weg und übernachtete bei einer Freundin, aber ihre Mutter holte sie mit der Polizei zurück. In der Nacht auf ihren 18. Geburtstag verließ Camille ihre Mutter dann endgültig und begann an der Kunstakademie zu studieren. Weil Catherine, die bereits ihren Ehemann durch mehrere Selbstmordversuche unter Druck zu setzen versucht hatte, Camille noch immer vorwirft, sie in Stich gelassen zu haben, wird jedes Treffen der beiden Frauen zur Qual.

Séraphin Tico, Camilles Kunstlehrer und Geliebter, betrog sie mit anderen Studentinnen, und als sie ihn einmal davon abhalten wollte, sich Drogen zu beschaffen, verletzte er sie mit einem Messer an der Schulter. Davon blieb eine Narbe. Vittorio, ihrer nächster Liebhaber, stiftete sie dazu an, Gemälde zu fälschen, die er für viel Geld verkaufte. Als der Betrug aufflog, verschwand er. Camille trieb sich einige Tage lang auf der Straße herum, dann suchte sie bei dem Kunsthändler Pierre Kessler und seiner Ehefrau Mathilde Daens-Kessler Zuflucht. Die beiden brachten sie in dem Dienstmädchenzimmer in der Avenue Émile-Deschanel unter, das Pierres verstorbenen Eltern gehört hatte.

Inzwischen schlägt Camille sich als Mitarbeiterin eines Reinigungsunternehmens durch. Mit ihren Kolleginnen Mamadou, Samia und Carine putzt sie unter der Aufsicht der Kolonnenführerin Josy Bredart nachts Büros.

Philibert macht sich Sorgen über die zehn Jahre jüngere, magere und kranke Frau, die in der ungeheizten Dachkammer wohnt. Mitten in der Nacht nimmt er sich ein Herz, geht hinauf und klopft an ihre Tür. Die ist nicht abgesperrt. Fiebernd liegt Camille auf einer Matratze. Philibert hilft ihr auf und bringt sie in eines der unbenutzten Zimmer der von ihm beaufsichtigen Wohnung. Er legt sie in das Bett von Tante Edmée, zieht ihr die verschwitzten Sachen aus, erschrickt, weil sie keinen Büstenhalter trägt und reibt ihr dann mit einem Waschlappen das Gesicht und den Oberkörper ab. Tiefer wagt er sich nicht.

Als Camille sich nach einigen Tagen erholt hat und zurück in ihre Wohnung will, stellt sie fest, dann jemand die Tür aufgebrochen und alles durchwühlt hat. Da nimmt sie Philiberts Einladung an und richtet sich in Tante Edmées Zimmer ein.

Franck ist entsetzt, dass nun auch noch eine Frau zur Wohngemeinschaft gehören soll.

Er war unruhig und erfüllte die Wohnung mit seinem Leben wie ein Hund, der überall hinpinkelt, um sein Revier abzustecken. (Seite 139)

Als Franck in seinem Zimmer mit einem Mädchen laute Musik hört und Camilles Beschwerden ignoriert, wirft sie kurzerhand seine Stereoanlage aus dem Fenster. Dafür revanchiert er sich einige Stunden später mit einer geräuschvollen Bettszene.

Während Philibert von Anfang an für Camille so etwas ist wie der große Bruder, von dem sie immer träumte, müssen sie und Franck sich erst zusammenraufen. Dabei legen sie am letzten Tag des Jahres 2003 einen großen Schritt zurück: Franck überredet Camille, das Küchenpersonal im Restaurant bei den Vorbereitungen für das Silvestermenü zu unterstützen. Obwohl die Arbeit anstrengend ist, hilft Camille weit über die vereinbarte Zeit hinaus bis zum Schluss in der Küche. Einige Zeit später nimmt Franck sie auf seinem Motorrad mit zur Schweineschlachtung bei den Bauern Jean-Pierre und Jeannine. Er war mit ihrem Sohn Frédéric befreundet und zusammen auf der Hotelfachschule. Vor zehn Jahren kam Frédéric bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Trotzdem besucht Franck dessen Eltern einmal im Jahr, und seine Mithilfe beim Schweineschlachten ist dabei nur ein Vorwand. Weil Jean-Pierre und Jeannine annehmen, dass Camille Francks Freundin ist, denken sie sich nichts dabei, dass für die beiden nur ein Bett zur Verfügung steht. Franck holt jedoch die Matratze heraus und legt sie für Camille auf den Boden, während er mit dem Lattenrost des Bettgestells vorlieb nimmt. Erst als sie wieder zurück in der Avenue Émile-Deschanel sind, werden sie ein Liebespaar: Eines Abends ergreift Camille die Initiative, geht zu ihm ins Zimmer und zieht sich aus.

In ihrer Dachkammer quartiert Camille einen obdachlosen Junkie ein, der die Abhängigkeit überwinden will. Er heißt Vincent. Sobald es ihm besser geht, malt Camille ihn nackt.

Sie fängt wieder an, zu zeichnen und zu malen. Auch ihre Kollegin Mamadou steht ihr Modell. Die aus dem Senegal stammende dicke Afrikanerin, die 1972 mit ihrem Bruder Léopold nach Frankreich kam, heißt eigentlich Marie-Anastasie Bamundela M’Bayé.

Nach einem gemeinsamen Restaurant-Essen mit Paulette bringen Franck, Camille und Philibert die alte Dame wieder zurück ins Seniorenheim. Als sie von dort losfahren, schlagen Camille und Philibert vor, Francks Großmutter in ihre Wohngemeinschaft aufzunehmen. Camille geht noch einmal in das Gebäude und holt Paulette heraus. Sie kündigt ihre Stelle und widmet sich ganz der Pflege der Greisin, der sie einen Rollstuhl besorgt, damit sie mit ihr ins Freie kann.

Bei einer Theateraufführung in Kulturzentrum am Stadtrand von Paris schleppt Philibert sich in einer Ritterrüstung auf die Bühne, und während er stammelnd von seiner Familie und seinem eigenen verkorksten Leben erzählt, entkleidet er sich bis auf die Unterhose.

Bald darauf, im Juni 2004, heiratet er die vierundzwanzigjährige Schauspielerin Suzy Martin und zieht zu ihr.

Camille richtet sich daraufhin mit Paulette und Franck in dem leer stehenden Haus der alten Dame ein und beginnt, den inzwischen verwilderten Garten wieder zu kultivieren. Bevor sie auch das Haus renovieren kann, stirbt Paulette friedlich im Garten.

Bis dahin machte Camille sich nichts aus einer Ausstellung, aber nach Paulettes Tod würde sie gern die Bilder herzeigen, die sie von der Greisin gemalt und gezeichnet hat.

Franck packt seine Sachen, und als Camille ihn entsetzt fragt, was das soll, erklärt er ihr, er sei im Begriff, einen neuen Job in England anzutreten, und das Haus habe seine Großmutter ihr vermacht. Camille überredet ihn, nicht fortzugehen, sondern eine der leer stehenden Gaststätten in der Umgebung zu übernehmen.

Im Schlussbild sehen wir alle in dem von Franck eröffneten Restaurant versammelt: Camille, Philibert und Suzy, Pierre und Mathilde, Mamadou, Vincent. Camille flüstert Franck zu, sie wünsche sich ein Kind von ihm. Da trägt er sie über die Treppe hinauf in die Privaträume.

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In „Zusammen ist man weniger allein“ geht es um vier einsame und grundverschiedene Menschen, die in einer Wohngemeinschaft zu engen Freunden werden. Paulette, Franck, Camille und Philibert leiden unter Verletzungen, die sie in der Vergangenheit erlitten und unter unglücklichen Mutter-Kind-Beziehungen, aber zwischen ihnen gibt es bald nur noch Sonnenschein. Es handelt sich um herzensgute Menschen: Philibert kümmert sich um die kranke Camille, die nach ihrer Genesung Francks Großmutter Paulette pflegt und sich obendrein eines obdachlosen Junkies annimmt. Die abgemagerte Künstlerin assoziiert Essen seit ihrer Kindheit mit der gestörten Beziehung zu ihrer Mutter [Anorexie], bis sie die Lebenspartnerin eines guten Kochs wird und mit ihm ein Restaurant eröffnet.

Die Perspektive wechselt zwischen der einer auktorialen Erzählerin und der einzelner Figuren. Daraus ergibt sich gleich auf den ersten Seiten ein amüsanter Gegensatz, wenn Paulette in der Küche im Selbstgespräch beteuert, sie wisse genau, dass Mittwoch sei und ihre Freundin Yvonne sie zum Einkaufen abholen werde, während Yvonne vor dem Haus über die Senilität der einige Jahre Älteren seufzt, weil sie annimmt, Paulette habe den Einkaufstag vergessen. Die Figuren werden allerdings nicht wirklich zu Charakteren entwickelt; vor allem der verklemmte Aristokratensohn Philibert ist kaum mehr als eine Karikatur. Anna Gavalda interessiert sich weder für Motivationen noch für psychologische Zusammenhänge; Konflikte hat sie weggezaubert, und selbstverständlich steuert die Handlung auf ein Happy End zu.

Vollends in den Bereich des Kitsches gehören Formulierungen wie diese:

Paulettes Haus war eine kleine stämmige Frau, die den Hals reckte, die den Besucher mit den Händen in den Hüften empfing und vorgab, kein Wässerchen trüben zu können. (Seite 475)

„Zusammen ist man weniger allein“ ist ein anspruchsloser Unterhaltungsroman von Anna Gavalda, ein Großstadtmärchen über Gutmenschen, bei dessen Lektüre man sich wohlfühlen kann – wenn man nichts anderes vorhat, als der Realität mit ihren Problemen für ein paar Stunden zu entfliehen.

Claude Berri (*1934) verfilmte den Roman „Zusammen ist man weniger allein“. Der Film kommt am 16. August 2007 in die Kinos.

Zusammen ist man weniger allein – Originaltitel: Ensemble, c’est tout – Regie: Claude Berri – Drehbuch: Claude Berri, nach dem Roman „Zusammen ist man weniger allein“ von Anna Gavalda – Kamera: Agnès Godard – Schnitt: François Gédigier – Musik: Frédéric Botton – Darsteller: Audrey Tautou (Camille Fauque), Guillaume Canet (Franck), Laurent Stocker (Philibert Marquet de la Tubelière), Françoise Bertin (Paulette) u.a. – 2007; 95 Minuten

Die Französin Anna Gavalda wurde 1970 geboren und wuchs auf dem Land auf. Nach dem Literatur-Studium in Paris arbeitete sie als Französisch-Lehrerin. Ihr erstes Buch – eine Sammlung von Erzählungen unter dem Titel „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“ – veröffentlichte sie in einem kleinen Verlag. Unerwartet wurde es ein Bestseller, und Anna Gavalda etablierte sich als Schriftstellerin.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.