Per Olov Enquist : Das Buch der Gleichnisse
Inhaltsangabe
Kritik
Im Februar 2011 erhält der 76-jährige Erzähler Per Olov Enquist mit der Post einen angesengten Notizblock seines 1935 im Alter von 32 Jahren verstorbenen Vaters Elof Enquist. Eine Cousine Per Olovs fand den Schreibblock im Nachlass ihrer Mutter, einer Schwester Elofs. Der Waldarbeiter Elof Enquist hatte Liebesgedichte für seine Ehefrau Maja geschrieben, aber die tief religiöse Lehrerin hielt das für sündig und warf den Notizblock nach seinem Tod ins Herdfeuer. Im nächsten Augenblick überlegte sie es sich anders und zog das Konvolut mit bloßen Händen aus den Flammen.
Trotz der Brandschäden sind die Aufzeichnungen noch gut lesbar. Allerdings fehlen neun Seiten. Sie wurden vermutlich noch vor dem Feuer herausgerissen. Warum? Und wer tat es? Das Rätsel treibt Per Olov Enquist um. Er wird „von dem unerklärlichen Gefühl gejagt, dass es die neun herausgerissenen Blätter waren, die die eigentliche Einsicht enthielten“.
Die Entdeckung und die sich dadurch aufdrängenden Fragen bringen Per Olov Enquist dazu, die Trauerrede umzuschreiben, die er 1992 am Grab seiner im Alter von 88 Jahren gestorbenen Mutter hielt. Das Vorhaben wird aber auch zu einer intensiven Selbstbefragung des Autors und führt zu einem Abtauchen in Erinnerungen.
Er flieht, auf irritierende Weise schnüffelnd: wie ein Hund, der auf seine eigene Witterung stößt und erschrickt.
Per Olov Enquist grübelt unter anderem darüber nach, wie viele seiner Verwandten verrückt wurden oder sich das Leben nahmen.
Seine Urgroßmutter Margareta hatte den Verstand verloren, als 1886 innerhalb von drei Monaten sechs ihrer Kinder an Diphtherie gestorben waren.
Sie war vierunddreißig Jahre in der kleinen Kammer eingeschlossen und schrieb Wörter an die Wände, bis sie ihr die Bleistifte abnahmen. Da kritzelte sie weiter Dichtungswörter mit Hilfe eines Sechszollnagels. Ritzte sie ein, sozusagen.
Onkel Aron, der Bruder seiner Mutter Maja, hackte ein Loch in das Eis eines zugefrorenen Sees, legte sich einen mit Steinen gefüllten Rucksack um und ertränkte sich.
Per Olovs zwei Jahre älterer Bruder war zwei Minuten nach der Geburt gestorben. Als Maja Lindgren dann im Frühjahr 1934 zum zweiten Mal schwanger war, durfte sie ihren Schwager Ansgar nicht besuchen, weil er damals sechs Monate im Irrenhaus in Umedalen verbrachte und man noch glaubte, die Begegnung mit einem Verrückten könne für eine werdende Mutter und ihr Kind schädlich sein.
Über eine Großcousine aus Istermyrliden, die ein Jahr nach ihm zur Höheren Volksschule in Bureå gegangen war und deren linke Brust er einmal berührt hatte, schreibt Per Olov Enquist in „Das Buch der Gleichnisse“:
Als diese Großkusine – man kann sie Malin Nordmark nennen, das war zwar nicht ihr richtiger Name, aber jetzt ist sie tot, und da kommt es auch nicht mehr darauf an –, als sie sechsundzwanzig Jahre alt geworden war und einen Verlobten bekommen hatte, hatte ihre Mutter Tyra Nordmark durch Zuträgerei erfahren, dieser Verlobte, der sechsunddreißig Jahre alt war, habe einst eine Ausbildung als Prediger in Johannelund in Stockholm begonnen, seine Studien jedoch aufgrund mangelnden Glaubens an seinen Erlöser plötzlich abgebrochen und sei in Bygdsiljum auf einem Tanz gewesen.
Die streng religiöse Mutter verbot ihrer Tochter den weiteren Umgang mit dem Abtrünnigen. Darüber wurde Malin verrückt und verbrachte zwölf Jahre lang im Irrenhaus in Umedalen. Im Februar 1958 schrieb sie ihrem in Uppsala studierenden Großcousin Per Olov und bat ihn, ihre Mutter wegen der im Brief aufgezählten angeblichen sexuellen Eskapaden anzuzeigen.
Siklund, der 19 Jahre jüngere Sohn einer Cousine zweiten Grades, suchte Per Olov Enquist 1974 auf.
Das mit dem Jungen, Siklund, war anderst. Er wusste ja, dass sich Siklund geradezu krankhaft in seine Bücher hineingesteigert, sich fast für eine Gestalt in ihnen gehalten, im Übrigen seinen Vornamen hergeliehen hatte.
Als Siklund dann in eine Nervenheilanstalt musste, bekam er eine Katze. Albert Schweitzer hatte die Ansicht vertreten, dass psychisch Kranke durch Haustiere geheilt werden könnten. Die Katze sollte Siklund dazu bringen, das Leben zu bejahen. Er gab ihr den Namen Kim – nach dem Protagonisten in Rudyard Kiplings Roman „Kim“, dem in den Slums von Lahore aufgewachsenen irischen Waisen Kimball O’Hara.
Eriksson [ein Patient, dem kein Tier zugeteilt worden war, weil er zur Kontrollgruppe der Versuchsreihe gehörte] hatte Kim gepackt und war zur Mauer gestürzt, die hoch war, aber nicht hoch genug. Und dann hatte Eriksson gleichsam mit einem Riesenschwung Kim ausgeeimert, ja mit einem Riesenschwung Kim ausgeeimert über die Mauer. Und man konnte einen Schrei hören, wie von einer Katze in Todesgefahr. Es war jetzt fast dunkel, und Siklund hatte, mehreren Zeugen zufolge, verzweifelt versucht, über die Mauer zu klettern, um seinen Begleiter zu retten, und auf eine beinahe groteske Weise mit den Händen an der Zementmauer gekratzt, die sich jedoch nicht besiegen ließ; und Siklund hatte so laut gebrüllt, dass sehr rasch Hilfe zur Stelle gewesen war und ihn festgehalten hatte, vier Mann, die Eriksson vor dem tobenden Siklund gerettet hatten.
Zwei Tage lang war die Katze verschwunden. Siklund hatte in dieser Zeit die Einrichtung in seiner Zelle, oder seinem Zimmer, demoliert. Es war einen Tag später, als er Erikssons Bauch mit einer Schere aufschnitt und als die Katze von einem Fuchs getötet wurde und wiederauferstand.
Das war Siklunds Geschichte in Kürze.
Am 26. November 1977 zog sich der 24 Jahre alte Siklund in der Psychiatrie eine Plastiktüte über den Kopf und erstickte sich.
Per Olovs Mutter hatte im Kirchenchor in Bureå gesungen und von einer Karriere als Opernsängerin geträumt, aber sie wurde Volksschullehrerin in dem nordschwedischen Dorf Hjoggböle. Im Winter legte sie den drei Kilometer weiten Weg auf Skiern zurück. Majas strenger Glaube ließ sie Lebensfreude für eine Sünde halten. Als sie herausfand, dass ihr Sohn dreimal nacheinander Rudyard Kiplings Roman „Kim“ gelesen hatte, versteckte sie das Buch entsetzt in der Vorratskammer.
Im Gegensatz zu Maja wandte sich deren Schwägerin Valborg vom Glauben ab.
Als ihr Bruder Elof Enquist gestorben war, hatte seine verwitwete Schwester ihren kleinen Neffen vorübergehend zu sich genommen, obwohl sie putzen musste, um sich, ihren Sohn und Per Olov durchzubringen.
[…] sie hatte sich um ihn gekümmert, beinahe als wäre sie eine Magd und nicht die Schwägerin der Mutter. Dies, weil die Mutter ja ihre tägliche Arbeit in der Schule in Östra Hjoggböle hatte, einer Zwergschule […].
Am 22. Juni 1948 trafen sich die Verwandten in Hjoggböle, um Abschied von der unheilbar krebskranken Tante Valborg zu nehmen.
Die Familie und alle Vettern und Kusinen versammelten sich in Verners Wohnung, die die größte war, um Abschied zu nehmen von ihr, die bald sterben würde.
Der eingeheiratete Onkel Birger bat die Todkranke um ein Gespräch unter vier Augen in einem Nebenzimmer, und sie bemerkten Per Olov nicht, der sich zufällig dort versteckt hatte. Der 15-Jährige hörte, wie der Onkel sich besorgt über Tante Valborgs Verhältnis zur Religion äußerte. Aber sie änderte auch angesichts des Todes ihre Haltung nicht. Tante Valborg erklärte, dass das mit dem Erlöser nichts für sie sei. Elf Monate später starb sie.
Nur weil 1947, als Per Olov die Volksschule beendete, eine Höhere Volksschule für die 28 begabtesten Kinder des Kirchspiels in Bureå eingerichtet wurde, eröffnete sich für ihn eine andere Perspektive als die Maloche unter der dröhnenden Rindentrommel in der Papiermassefabrik Bureå oder bestenfalls als Vorarbeiter eines Stauertrupps im Hafen.
Tante Lily war Vorschullehrerin in Brattbygård. In dem Ort gab es ein besonderes Schulheim, eine
Anlage, die die Monster und die Missgebildeten und den Jungen mit der Krokodilhaut und die lallenden und sabbernden Kinder enthielt, die Monster, die Warnzeichen waren, und von denen seine Mutter zu wiederholten Malen in ermahnendem Ton gesagt hatte, so hätte es auch dir gehen können und du hättest eins von ihnen sein können! Wenn … wenn!, es war dieses Wenn!, das ihn verfolgte […]
Auf gewisse Weise wurde damit durch die Monster die Sündenfreiheit der Mutter illustriert, also dass sie nicht als Unverheiratete Unzucht getrieben hatte, wie Burmans älteste Tochter (mit Stefan) […]
Wenn Per Olov seine Tante Lily besuchte, gehörte es zu seinen Aufgaben, jeden Tag die Post zu holen. Als er 14 Jahre alt war, wurde das Postamt von einer Frau Mitte 30 geführt, die immer ein hauchdünnes grünes Kleid ohne Gürtel trug, unter dem sich die Konturen ihres Körpers abzeichneten. Der Anblick erregte den Jungen.
Er dachte die ganzen Tage an ebendiese kurze Expedition zur Post und an die Minuten, in denen er die Frau betrachten konnte, deren Namen er nicht kannte […]. In Brattby gab es diese beiden Pole: die Monster im Schulheim, die zeigten, wie es hätte gehen können, und die Frau auf dem Postamt.
Im Juli 1949 hielt sich Per Olov auf Gammelstället im Västerbotten auf. Außer diesem Familienhof, dem „Haus, in dem Großmutter Johanna regiert hatte“, gab es dort nur noch den Larssonhof, der in diesem Sommer von einer Frau aus dem Stockholmer Vorort Södertälje für einen Monat gemietet worden war. Als Per Olov zum Baden gehen wollte und schräg über die Weide ging, traf er auf sie. Sie sonnte sich, las in einem Buch (in dem Roman „Fjällfolk“ von Bernhard Nordh), lag mit geöffnetem Büstenhalter auf dem Bauch und trug auch sonst nur einen Schlüpfer. Unbefangen setzte sie sich auf, um mit ihm zu reden. Sie hieß Ellen und arbeitete als Wirtschaftsprüferin in einem Krankenhaus. Ellen – sie war 51, Per Olov 15 – bot dem Jungen schließlich eine Limonade an und ging barbusig mit ihm ins Haus. Seit sieben Jahren sei sie nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, erzählte sie beiläufig. Nachdem sie ihn ausgezogen und ihren Schlüpfer abgestreift hatte, legte sie sich mit ihm auf den astfreien Kiefernholzboden in der Küche.
Nie hatte er sich vorstellen können, dass diese zwei Zentimeter hinein in den Sinn des Lebens so unbeschreiblich sein konnten.
Am Ende muss er versprechen, das Geheimnis für sich zu behalten.
„Es war so lange her“, hatte sie gesagt und ihm den Rücken zugekehrt und das Gesicht abgewendet.
Es war schön, ich danke dir.“
„Dir selbst auch vielen Dank“, hatte er erwidert.
Während seiner Teilnahme an einer Sommerwoche schlug der Gymnasiast Per Olov Enquist 1953 als Thema für eine Gruppendiskussion „Erlösung mit Freiheit“ vor. Dabei dachte er an „die Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden“.
Sie hatte die Augen geschlossen und nur die Tür zum innersten Raum geöffnet, wo sie sich vereinigt hatten wie zwei spielende Kinder, und hatte danach ganz schlicht adieu zu ihm gesagt. Und ihn gehen lassen, ganz befreit, als sei dies mit dem religiösen Erlebnis auf dem Larssonfußboden ein nahezu maßloses religiöses Erlebnis gewesen. Das ihn jedoch, nachdem er den innersten rätselhaften und phantastischen Raum verlassen hatte, nicht in lebenslänglicher Gefangenschaft band, einer Versklavung gleich […].
Er sehnte sich nach Ellen, und im letzten Jahr am Gymnasium bat er seine Vermieterin, ein Ferngespräch führen zu dürfen. Da er nicht nur den Vor-, sondern auch den Familiennamen kannte, fiel es ihm nicht schwer, die Telefonnummer herauszufinden.
Sie hatte sich gemeldet, mit ihrer ziemlich schönen Stimme, die verblüffend gleich geblieben war seit jenem Mal, als sie über Bernhard Nordhs Bücher gesprochen hatten. Er hatte gesagt, dass sie sich vielleicht an ihn erinnere, vom Larssonhof, ob sie sich erinnere, dass er eine Limonade von ihr bekommen hatte?
Aber sie fragte ihn nur, was er wolle und beendete das Telefonat rasch.
Aber die Frau auf dem Larssonhof hatte, so lange danach, gleichsam angefangen, seine Gedanken und Erinnerungen, also eher seine Sinne, auszufüllen, und am Ende gab es nahezu keinen Platz mehr für etwas anderes.
Es war wie eine Selbsterlösung, die schiefgelaufen war.
Bei den Schwedischen Leichtathletikmeisterschaften im August 1958 in Stockholm verfehlte Per Olov Enquist das Siegertreppchen beim Hochsprung nur knapp: Er wurde Vierter. Aber er nutzte die Gelegenheit, die Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden erneut anzurufen. Diesmal gab sie sich gesprächiger und erklärte sich zu einem kurzen Wiedersehen bereit. Er nahm den Lokalzug und wartete dann am Bahnsteig in Södertälje auf sie. Sie setzte sich aber nur mit ihm auf die nächste Bank und achtete dabei auf einen gehörigen Abstand. Später kam sie auf das Telefonat vor drei Jahren zurück:
„Ich wollte nicht, dass es kaputtgemacht würde. Deshalb habe ich Angst bekommen, als du anriefst. Und es muss jetzt vorbei sein. In Zukunft sehen wir uns nicht wieder.“
Als der nächste Lokalzug nach Stockholm einfuhr, verabschiedete sie sich ohne Umarmung von ihm, und er reichte ihr noch die Tulpen, die er für sie besorgt hatte.
Als Student in Uppsala hatte Per Olov Enquist ein halbes Jahr lang eine Affäre mit Lisbeth, einer Studentin, die durch ihre „virtuose sexuelle Begabung“ zu multiplen Orgasmen gelangte.
Er hatte Lisbeth erzählt, wie es einmal angefangen hatte, also mit der einundfünfzigjährigen Frau auf dem Larssonhof, und dass es das vielleicht stärkste religiöse Erlebnis seines Lebens gewesen sei, vielleicht das einzige, das ihn dazu gebracht hatte, trotz allem am Glauben daran festzuhalten, dass es das religiöse Wunder wirklich gab und dass es ihm einmal helfen würde zu überleben. Aber da war sie ganz überraschend aus der Haut gefahren, hatte sich ihre Sachen übergeworfen und war gegangen, und das war der Anfang vom Ende.
1974 versuchte Per Olov Enquist noch einmal, Kontakt mit Ellen aufzunehmen, aber der Telefonanschluss existierte nicht mehr, und er fand auch nicht heraus, wo sie wohnte. Es wurde ihm bewusst, wie wenig er über sie wusste:
War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Was hatte sie gearbeitet? Woran hatte sie geglaubt? Wovor hatte sie Angst gehabt?
Im November 1977 bekam der inzwischen 43-jährige Schriftsteller Per Olov Enquist auf dem Umweg über seinen Verlag P. A. Norstedts & Söner in Stockholm einen Brief ohne Absender mit einem Zeitungsausschnitt: einer Anzeige mit der Ankündigung von Ellens Beerdigung auf dem Skogskyrkogården in Stockholm. Er fuhr hin.
Nach der Trauerfeier sprach ihn eine vielleicht 15 Jahre alte Nichte der Verstorbenen an. Weil sie den Schriftsteller im Fernsehen gesehen hatte, erkannte sie ihn. Es sei ein ausdrücklicher Wunsch ihrer Tante gewesen, ihn über ihren Tod zu benachrichtigen, erklärte sie. Sie habe ihm deshalb über den Verlag die Anzeige geschickt.
„Wissen Sie, dass sie mehrere Ihrer Bücher gelesen hat!“
„Sie sollten einmal einen richtigen Liebesroman schreiben, den würde ich auf jeden Fall lesen. Aber sie sagte, Sie hätten keinen geschrieben.“
„Ich kann keine Liebesromane schreiben“, sagte er beinahe heftig, „dazu tauge ich nicht.“
Als sich Per Olov Enquist 2011 an sein Initiationserlebnis mit Ellen erinnert, denkt er auch an Søren Kierkegaards Verhältnis zu Frauen. Im Frühjahr 1837 verliebte sich der sexuell unerfahrene 24-jährige Student in die erst 14 Jahre alte Regine Olsen, und im September 1840 verlobten sie sich. Aber im August 1841 löste Søren Kierkegaard die Verlobung. Danach scheint er nie wieder versucht zu haben, sich einer Frau zu nähern. Aufgrund der nie publizierten Vorarbeiten zu „Furcht und Zittern“ (1843) vermutet Per Olov Enquist, dass Søren Kierkegaard nur ein einziges Mal die Brüste einer Frau gesehen habe, und zwar nicht die seiner Verlobten, sondern die der Ehefrau eines Freundes. Der saß einmal seinem Besucher Søren Kierkegaard gegenüber und mit dem Rücken zur offenen Tür eines angrenzenden Zimmers, in dem seine Frau die Bluse wechselte.
Sie ist nackt darunter. Sie dreht sich langsam, mit einem kleinen Lächeln, sieht, dass er [Søren Kierkegaard] sieht, aber bedeckt sich nicht, und beschleunigt auch ihren Akt nicht, der eine Einladung ist.
1978 heiratete Per Olov Enquist in zweiter Ehe die gleichaltrige dänische Dramaturgin Lone Bastholm. 1986 fing sie als Kulturattachée an der Dänischen Botschaft in Paris an. Dort begann er noch im Herbst desselben Jahres mit seinem Gleichnisbuch.
Oft sind es kleine Scherze, die rasch in etwas Nachtschwarzes übergehen („Das Gleichnis von Esel Ia und dem leeren Honigtopf“).
Seine Alkoholkrankheit wurde unerträglich.
Es ging wohl an, solange er wirklich irgendwie beschäftigt war. Aber den größeren Teil der achtziger Jahre war er ja hauptsächlich sturzbetrunken gewesen.
Der „alkoholisierte Restmensch, der er geworden war“ floh im Frühjahr 1989 nach Dänemark und ließ sich dort behandeln. Die Therapie einer „wunderschönen Psychoanalytikerin“ in Kopenhagen brach er zwar nach neun Sitzungen ab, weil er durch sie so erregt wurde, „wie er es als Fünfzehnjähriger auf der Wiese von Larssons Hof gewesen war“. Aber er schaffte es und „schnapste“ am 8. Februar 1990 zum letzten Mal.
Im Februar 1990 hatte er ein zweites Leben als Geschenk erhalten.
Im Oktober 2011 wird der 77-jährige Schriftsteller, der seit der Zusendung des Notizblocks seines Vaters im Februar verstärkt grübelt, wegen heftiger Magenblutungen ins Krankenhaus gebracht.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Nach zwei schweren Magenblutungen und drei Herzoperationen ist alles stabil.
Per Olov Enquist hat „Das Buch der Gleichnisse“ in neun Kapitel gegliedert:
- Das Gleichnis vom wiedergefundenen Notizblock
- Das Gleichnis von der zerknirschten Großkusine
- Das Gleichnis von der Tante, die es wagte
- Das Gleichnis von der Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden
- Das Gleichnis vom innersten Raum
- Das Gleichnis vom veruntreuten Pfund
- Das Gleichnis von den fünf Tulpen
- Das Gleichnis vom Postfräulein
- Das Gleichnis von Jesu zweiter Wiederkehr
Ein Abgleich von Daten zeigt rasch, dass „Das Buch der Gleichnisse“ weitgehend autobiografisch ist, und der Autor nennt den Erzähler auch beim Namen Per Olov Enquist, aber es ist anzunehmen, dass er die Fakten mit Fiktion angereichert hat.
Der Inhalt dreht sich um Religiosität, Liebe und Schuldgefühle, Alkoholkrankheit, Psychosen und Selbstmord. Im Mittelpunkt steht die sexuelle Initiation eines knapp 15-Jährigen durch eine 51 Jahre alte Frau, wobei Per Olov Enquist weit entfernt davon ist, die Verführung des Minderjährigen durch die Erwachsene als strafbar oder verwerflich anzuprangern. Im Gegenteil, der volle Titel lautet: „Das Buch der Gleichnisse. Ein Liebesroman“.
Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 2011. Der Hauptteil besteht aus der grüblerischen Selbstbefragung des Autors, den die Gedanken an Alter, Krankheit und Tod ängstigen, der aber vor allem über Erlebnisse in der Vergangenheit reflektiert. Obsessiv umkreist er seine Themen. Das Fehlen jeglicher Linearität und Chronologie in der fragmentarischen Darstellung erschwert es beim Lesen, die Zusammenhänge zu erkennen, aber gerade die kunstvoll gebrochene Komposition aus Erinnerungen und Rückblenden, Wiederholungen, Notizen und Gedanken, Ängsten und Fantasien, Fragen und Erkenntnissen, Ellipsen und Einschüben, Stakkati und Retardierungen ist das Entscheidende am „Buch der Gleichnisse“.
„Das Buch der Gleichnisse“ wirkt unvollendet. Und das hat Per Olov Enquist vermutlich auch so beabsichtigt, denn es ist gewiss kein Zufall, dass er mehrmals die achte Sinfonie erwähnt, die der ebenfalls alkoholkranke Jean Sibelius nicht vollendete und 1929 vernichtete.
Des Öfteren nähert sich Per Olov Enquist dem Dialekt seiner nordschwedischen Heimat, und Wolfgang Butt ahmt dies in seiner deutschen Übersetzung nach.
Laut Hans Ulrich Probst vom Schweizer Radio und Fernsehen handelt es sich übrigens beim Larssonhof in Västerbotten – einem zentralen Schauplatz des Romans „Das Buch der Gleichnisse“ – um das Anwesen, auf dem Stieg Larsson bei seinen Großeltern aufwuchs.
Den Roman „Das Buch der Gleichnisse“ von Per Olov Enquist gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Matthias Lühn (ISBN 978-87-11-34681-5).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag
Per Olov Enquist: Der Besuch des Leibarztes
Per Olov Enquist: Lewis Reise
Per Olov Enquist: Das Buch von Blanche und Marie