Thomas Bernhard : Das Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns
Inhaltsangabe
Kritik
Das Elternhaus des Kaufmannssohns Georg in Innsbruck war „ein furchtbares, noch dazu feuchtes und riesiges Erwachsenenhaus, in welchem niemals Kinder, sondern immer gleich grauenhafte Rechner auf die Welt gekommen sind, Großmaulsäuglinge mit dem Riecher für das Geschäft und die Unterdrückung der Nächstenliebe“. Georg war eine Ausnahme, denn er kam verkrümmt und verkrüppelt zur Welt. Vergeblich hoffte die Familie auf seinen frühzeitigen Tod. „Georg war und blieb ihnen ein aus lauter Nutzlosigkeit ständig im Weg und im Magen liegender Fleischklumpen, der auch noch Gedichte schrieb.“
Einerseits hatten die Seinigen schon von Anfang an gewusst, dass er für den väterlichen Kaufmannsberuf und also für die Übernahme des Geschäftes in der Anichstraße, das einen wie sie erforderte, nicht in Frage kam, andererseits hatten sie aber lange die Hoffnung nicht aufgegeben, es könnte aus Georg, dem Krüppel, doch noch über Nacht, möglicherweise von einem Ochsenziemerhieb auf den anderen, das werden, was sie von Anfang an in ihm haben wollten: der Nachfolger des jetzt schon in den Sechzigern stehenden Gemischtwarenhändlers! Schließlich aber hatten sie sich, wie auf Verabredung, hinter seinem, Georgs, Rücken, schon über Nacht, für immer, für seine ältere Schwester entschieden, und die stopften von diesem Augenblick an, wie sie nur konnten, alles, was sie nur konnten, ihre ganzen Kaufmannskräfte und ihr ganzes Kaufmannswissen in die auf dicken Beinen den ganzen Tag wie ein schweres Vieh durch das Kaufmannshaus gehende Person hinein, in die dicke, blutunterlaufene, rustikale Irma; Sommer wie Winter in Puffärmeln, wuchs sie, die erst zwanzig und mit einem Metzgergehilfen aus Natters verlobt war, sich zu einer an den Waden ständig Eiter lassenden Säule des Kaufmannsgeschäfts aus.
Schließlich kam Georg als Pharmazie-Student nach Wien. Acht Semester lang teilte er sich mit dem ein Jahr älteren, Jura studierenden Erzähler ein Zimmer in der Zirkusgasse. Morgens erwachte er häufig schweißgebadet, weil ihn immer wieder die Erinnerungen an schreckliche Szenen im Elternhaus heimsuchten und er nicht immer stark genug war, den Bühnenvorhang zuzuziehen. „Wir frühstückten meistens nicht, weil uns vor dem Essen und Trinken ekelte. Vor den Vorlesungen ekelte uns. Vor den Büchern ekelte uns. Die Welt war uns eine aus perverser tierischer und perverser philosophischer Pest und aus widerwärtiger Operette.“
Eines Nachts achtete Georg darauf, kein Geräusch zu machen, um seinen Zimmergenossen nicht zu wecken, und nahm sich das Leben. Als der Erzähler aus der Klinik nach Hause kam, war Georgs Vater aus Innsbruck da. Wegen des schlechten Wetters war es dunkel, und der Jurastudent hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber er erkannte ihn sofort. „… sah ich, dass dieser Mensch, der einen schwarzen Überrock mit einem ausgeschlagenen Schafspelz anhatte, dass dieser Mensch, der den Eindruck erweckte, in Eile zu sein und alles von Georg auf einen Haufen zusammenwarf, um es fortzuschaffen, dass dieser Mensch und dass alles, was mit diesem Manne in Zusammenhang stand, an dem Unglück Georgs, an der Katastrophe die Schuld trug.“
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp, Frankfurt am Main
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