John Banville : Das Buch der Beweise

Das Buch der Beweise
Originalausgabe: The Book of Evidence, 1989 Das Buch der Beweise Übersetzung: Dorle Merkel Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991 ISBN 3-462-02127-3, 263 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Freddy Montgomery, früher ein Erfolg versprechender Wissenschaftler, lebt als Aussteiger mit Frau und Sohn auf einer Mittelmeerinsel. Mit der Erpressung eines Drogendealers löst Freddy eine Ereigniskette aus, die dazu führt, dass er in seine irische Heimat zurückkehrt und dort ein junges Mädchen mit einem Hammer erschlägt. Seine Lebensbeichte ist auch der Versuch, sein ihm selbst fremd gewordenes Leben zu verstehen.
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Kritik

In seinem sprachlich virtuosen Roman "Das Buch der Beweise" erzählt John Banville nicht ohne schwarzen Humor die fesselnde Geschichte eines irischen Aussteigers, der ohne viel Nachdenken ein sinnloses brutales Gewaltverbrechen begeht.
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Frederick („Freddy“) Charles St. John Vanderveld Montgomery sitzt in Irland in Untersuchungshaft. In einem Monat wird der Prozess gegen ihn beginnen. Der Achtunddreißigjährige muss sich wegen der Ermordung eines Dienstmädchens verantworten. In seiner Gefängniszelle schreibt er auf, was geschah, vermutlich, um sich selbst klar darüber zu werden.

Vor fünfzehn Jahren hatte Freddy seine verwitwete Mutter in Coolgrange verlassen und war als Wissenschaftler nach Berkeley in Kalifornien gegangen.

Ich nahm das Studium der Wissenschaft auf, um Gewissheit zu finden. Nein, das stimmt nicht ganz. Sagen wir lieber, ich wandte mich der Wissenschaft zu, um mit dem Mangel an Gewissheit besser zurechtzukommen. (Seite 25)

Ich […] plante, einer dieser kühlen, genialen Techniker, einer der heimlichen Beherrscher der Welt zu werden. (Seite 80)

Freddy war immer ein Außenseiter und fiel in den USA nicht zuletzt durch das Tragen einer Fliege auf. Zufällig traf er in einer Galerie in Berkeley seine Jugendfreundin Anna Behrens wieder, und als er sie besuchte, fand er in ihrem Haus eine junge Frau vor, die er bereits auf der Party eines Professors kennen gelernt hatte: Daphne. Er blieb einige Zeit bei den beiden Frauen, bis sie eines Abends zu dritt ins Bett gingen. Nur ein einziges Mal; danach trennten sich die beiden Frauen. Daphne heiratete Freddy und verließ mit ihm die USA. Ohne viel darüber nachzudenken, gab er seine Universitätskarriere auf. Das Geld, das er von seinem Vater geerbt hatte, ermöglichte es ihnen, als Aussteiger auf einer Mittelmeerinsel zu leben. Freddys und Daphnes inzwischen sieben Jahre alter Sohn leidet an einer seltenen Gehirnerkrankung; er wird nie richtig sprechen können, niemals irgend etwas richtig können.

Kürzlich lernte Freddy einen Mann kennen. In seinem Bericht nennt er ihn Randolph, aber den richtigen Namen hat er vergessen. Randolph war hinter Daphne her und behauptete zunächst, Maler zu sein, bis Freddy ihm einige einschlägige Fragen stellte; da wurde plötzlich ein Schriftsteller aus ihm. Im Rausch gestand er Freddy schließlich, dass er davon lebte, vermögende Urlauber auf der Insel mit Drogen zu beliefern. Das veranlasste Freddy zu der Drohung, zur Polizei zu gehen und auf diese Weise ein „Darlehen“ von ihm zu erpressen. Da Randolph nicht über so viel Geld verfügte, musste er selbst etwas borgen. Freddy hatte nie daran gedacht, die Summe zurückzuzahlen, aber Randolph ließ nicht locker und warnte ihn vor den Leuten, die ihm den Betrag geliehen hatten. Die würden keinen Spaß verstehen.

In seiner Interpretation von Wörtern wie „leihen“ und „zurückzahlen“ ließ er es bedauerlicherweise sehr an Fantasie fehlen. (Seite 20)

Dann erhielt Freddy ein Paket, und als er es öffnete, fand er darin ein schlampig abgeschnittenes menschliches Ohr. Tatsächlich trug Randolph bei der nächsten Begegnung einen Verband auf der linken Kopfseite. Kurze Zeit später brachte man Jerry zu Randolphs Gläubiger.

Da ich durch Randolph in eine Art Vorfilm gestolpert zu sein schien, hatte ich erwartet, dass die Besetzung dieser Komödie aus lauter Schurken bestehen würde, beängstigenden Typen mit niedrigen Stirnen und kleinen dünnen Schnurrbärten, die mit den Händen in den Hosentaschen im Kreis um mich herumstehen, grässlich grinsen und an Zahnstochern nagen würden. Stattdessen wurde ich zu einer Audienz mit einem silberhaarigen Hidalgo im weißen Anzug zitiert, der mich mit einem langen festen Händedruck begrüßte und mir mitteilte, dass sein Name Aguirre sei. Sein Benehmen war höflich und enthielt eine Spur des Bedauerns. Er passte schlecht zu seiner Umgebung. Ich war in einem engen Treppenhaus zu einem schmutzigen niedrigen Raum über einer Bar hinaufgestiegen, in dem ein mit einem Wachstuch bedeckter Tisch und ein paar Korbstühle standen. Auf dem Boden unter dem Tisch saß ein völlig verdrecktes Kleinkind und saugte an einem hölzernen Löffel […] Es roch nach gebratenem Essen. Mit einer leicht angeekelten Grimasse prüfte Señor Aguirre den Sitz eines der Stühle und ließ sich nieder. Er goss Wein für uns ein und leerte sein Glas, indem er auf mein Wohl trank. Er sei ein Geschäftsmann, sagte er, ein einfacher Geschäftsmann, kein berühmter Professor – und er lächelte mich an und verbeugte sich leicht – aber trotz allem wisse er, dass es gewisse Regeln gebe, gewisse moralische Imperative. Er dächte besonders an einen, vielleicht könne ich mir denken, welchen? Stumm schüttelte ich den Kopf. Ich fühlte mich wie eine Maus, mit der eine geschmeidige, gelangweilte, alte Katze spielt. Sein Bedauern vertiefte sich. Darlehen, sagte er sanft, Darlehen sollten zurückgezahlt werden. Das sei das Gesetz, auf dem sich der Handel gründe. (Seite 28f)

Freddy erklärte Señor Aguirre, er habe das Geld ausgegeben und müsse nach Irland zurück, um sich eine entsprechende Summe zu borgen. Als Sicherheit bestand Aguirre darauf, dass Daphne und Van auf der Insel blieben.

In der Stadt nahe seinem Geburtsort Coolgrange traf Freddy in „Wally’s Pub“ den Familienfreund Charlie French. Früher war Charlie ein mickriger Händler für Gemälde und Antiquitäten gewesen, doch obwohl er inzwischen wohlhabend geworden zu sein schien, brachte Freddy es nicht fertig, ihn anzupumpen.

Es war tatsächlich so, als seien wir Vater und Sohn […], die sich zufällig in einem Bordell trafen. Befangen, traurig und leicht beschämt taten wir so, als sei alles in schönster Ordnung, machten ein Riesengetöse, stießen unsere Gläser zusammen und tranken auf die guten alten Zeiten. Aber es hatte keinen Zweck, nach kurzer Zeit stockten wir und verfielen in ein düsteres Schweigen. Dann schaute Charlie mich plötzlich an, mit einem fast blitzartig aufflackernden schmerzlichen Gesichtsausdruck, und sagte mit leiser, leidenschaftlicher Stimme, Freddie, was hast du bloß mir dir gemacht? Er schämte sich sofort und rückte angstvoll von mir ab, während er verzweifelt grinste und zur Tarnung eine Rauchwolke ausstieß. (Seite 47)

Freddys Mutter Dorothy („Dolly“) freute sich kein bisschen, als sie ihren Sohn nach so vielen Jahren zum ersten Mal wiedersah. Es war allerdings verständlich, denn er hatte sie damals in Stich gelassen und war nach Amerika gegangen, hatte geheiratet, ohne es ihr mitzuteilen und ihr kein einziges Mal ihren Enkel gezeigt. Verwundert stellte Freddy fest, dass das Stallmädchen Joanne – „breiter Hintern, breiter Busen“ (Seite 57) –, das er für siebzehn hielt, das jedoch siebenundzwanzig Jahre alt war, „Dolly“ zu seiner Mutter sagte und offenbar sehr vertraut mit ihr war. Es fiel ihm auf, dass die von seinem Vater gekauften Gemälde fehlten. Dolly hatte sie nach dem Tod ihres Mannes aus Not Helmut („Binkie“) Behrens verkauft. Behrens, Annas Vater, besaß Diamantenminen, ein Firmenimperium und eine berühmte Kunstsammlung in Whitewater.

Empört verließ Freddy sein Elternhaus nach einer einzigen Übernachtung und machte sich auf den Weg nach Whitewater. Als Freddy auf die Gemälde zu sprechen kam, behauptete Behrens, Dolly aus Mitleid einen guten Preis gemacht und die Bilder gleich weiterverkauft zu haben. Ohne ihm das Gästezimmer anzubieten, brachte Anna Freddy zur Tür und wich zurück, als er sie zu küssen versuchte.

Mit einem bereits zuvor von Anna herbeitelefonierten Taxi fuhr Freddy zur Busstation, aber der letzte Bus war bereits fort. Deshalb brachte ihn der Taxifahrer bei seiner Mutter unter, die in ihrem Wirtshaus ein Gästezimmer hatte. Ohne für das Taxi, die Übernachtung und das Frühstück zu bezahlen, ging Freddy am nächsten Morgen fort.

In einem Eisenwarengeschäft kaufte er Faden, Packpapier und einen Hammer. Dann mietete er ein Auto, für das er 5 Pfund Kaution hinterlegen musste und fuhr erneut nach Whitewater. Die Verandatür stand offen. Freddy ging hinein und zielstrebig auf das zwischen 1655 und 1660 datierte, 82 mal 65 Zentimeter große „Portrait einer Frau mit Handschuhen“ zu. Als er die Arme ausbreitete, um es abzunehmen, wurde plötzlich eine Tür geöffnet, und eine Touristengruppe strömte herein. Die Fremdenführerin ermahnte Freddy, bei der Gruppe zu bleiben und erläuterte einige der Gemälde. Freddy wartete, bis er wieder allein war. Dann nahm er das Bild von der Wand, legte es auf den Boden und packte es in das mitgebrachte Packpapier ein. Dabei wurde er von dem Dienstmädchen Josephine Bell überrascht. Verärgert über die ständigen Schwierigkeiten drückte Freddy ihr das Paket in die Arme und schob sie vor sich her über den Rasen zum Auto. An einem großen Fenster im ersten Stock drängten sich die Touristen und schauten zu, wie er den Wagenheber und alles andere aus dem Kofferraum des Leihwagens warf, bevor er das Gemälde hineinlegte, Josephine grob am Arm packte und sie in den Fond warf. Während sie bisher alles widerstandslos hingenommen hatte, statt einfach wegzulaufen, begann sie während der Fahrt, mit den Fäusten gegen die Scheiben zu hämmern; dann trommelte sie auf seine Schultern und versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Freddy kam ins Schleudern und hielt den Wagen an.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Ich drehte mich zu ihr um. Ich hatte den Hammer in der Hand. Erschreckt schaute ich sie an. Um uns herum stieg die Stille in die Höhe wie Wasser. Nein, nicht!, sagte sie […]
Es ist nicht leicht, im Auto einen Hammer zu schwingen. Als ich das erste Mal traf, erwartete ich, das scharfe klare Krachen zu spüren, das entsteht, wenn Stahl auf einen Knochen trifft; aber es war eher, als schlüge ich auf Lehm oder hartgewordenen Kitt […] Der erste Schlag traf sie dicht am Haaransatz, über ihrem linken Auge. Es gab nicht viel Blut, nur eine dunkelrot glänzende Delle mit verfilztem Haar darin. Sie erschauderte, blieb aber aufrecht sitzen, schwankte ein wenig hin und her und blickte mich mit verschwommenen Augen an. Vielleicht hätte ich in diesem Augenblick aufgehört, wenn sie sich nicht plötzlich schreiend und wild um sich schlagend über die Rückenlehne des Sitzes hinweg auf mich gestürzt hätte. Ich war bestürzt. Wie war es möglich, dass mir all das geschah – es war alles so unfair! Bittere Tränen des Selbstmitleids stiegen mir in die Augen. Ich schob sie von mir weg, holte weit aus und schwang den Hammer mit aller Kraft […] (Seite 138f)

Während er weiterfuhr, hörte er sie röcheln. Vor einer roten Verkehrsampel stoppte er. Eine Frau klopfte ans Fenster und starrte in den Fond. An der Scheibe, überall war Blut. Sie dachte wohl, er fahre das Opfer eines Verkehrsunfalls ins Krankenhaus. Obwohl inzwischen die Ampel inzwischen erneut auf Rot gesprungen war, gab Freddy Gas und brachte einen von der Seite kommenden Lastwagen zum Schleudern.

Irgendwo stellte er das Auto ab.

Helfen Sie mir, flüsterte sie. Helfen Sie mir. Eine Blutblase kam aus ihrem Mund und zerplatzte. (Seite 145)

Statt sich um die schwer Verletzte zu kümmern, öffnete Freddy den Kofferraum und warf das über dreihundert Jahre alte Gemälde fort. Dann drehte er sich um und ging. Er fuhr mit dem Bus in die Stadt und rechnete dabei jeden Augenblick mit seiner Verhaftung. In „Wally’s Pub“ traf er Charlie French wieder. Der väterliche Freund bezahlte ihm mehr Drinks, als er vertrug und nahm ihn dann vorübergehend bei sich auf.

Von Charlie erfuhr Freddy, dass sein Vater ihn als Camouflage missbraucht hatte, wenn er mit ihm – damals war Freddy noch ein Kind – sonntagnachmittags mit ihm nach Dun Loaghaire gefahren war. Er hatte sich dort heimlich mit seiner Geliebten Penelope getroffen. Andeutungen zufolge war allerdings auch Dolly ihrem Mann nicht treu gewesen; sie hatte ihn offenbar mit Charlie betrogen.

Zehn Tage lebte Freddy bei Charlie. Dann wurde er verhaftet. Während eines der Verhöre fragte ihn ein Polizeibeamter, warum er das Dienstmädchen umgebracht habe.

Ich starrte ihn erschreckt und ratlos an. Es war dies die einzige Frage, die ich mir nie zuvor gestellt hatte, nicht mit solch simpler, unumgänglicher Eindringlichkeit. (Seite 234)

Während Freddy in der Untersuchungshaft sitzt, sterben kurz hintereinander Helmut Behrens und seine Mutter. In einem sieben oder acht Jahre alten Testament vermachte Dolly ihrer Schwiegertochter Daphne etwas Geld für die Erziehung ihres Enkels und ansonsten alles dem Stallmädchen. Joanne lädt Daphne und Van ein, mit ihr zusammen in Coolgrange zu wohnen.

Die Kosten für Freddys Verteidiger Maolseachlainn Mac Giolla Gunna bezahlt Charlie.

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In seinem sprachlich virtuosen Roman „Das Buch der Beweise“ erzählt John Banville (* 1945) nicht ohne schwarzen Humor die fesselnde Geschichte eines irischen Aussteigers („Ich hatte schon immer eine Neigung zur Lethargie“ – Seite 55), der ohne viel Nachdenken ein sinnloses brutales Gewaltverbrechen begeht.

Die Romane „Das Buch der Beweise“, „Athena“ und „Geister“ bilden die so genannte „Mördertrilogie“ von John Banville.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

John Banville (kurze Biografie / Bibliografie)

John Banville: Geister
John Banville: Athena
John Banville: Der Unberührbare
John Banville: Sonnenfinsternis
John Banville: Caliban
John Banville: Die See
John Banville: Unendlichkeiten
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.