Sten Nadolny : Das Glück des Zauberers

Das Glück des Zauberers
Das Glück des Zauberers Originalausgabe: Piper Verlag, München 2017 ISBN 978-3-492-05835-3, 316 Seiten ISBN 978-3-492-97773-9 (eBook) Taschenbuch-Ausgabe: Piper Verlag, München 2018 ISBN 978-3-492-31389-6
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Zauberer Pahroc lebt von 1905 bis 2017. Im Alter von 106 Jahren beginnt er, Briefe an seine gerade erst geborene Enkelin Mathilde zu schreiben, die sie allerdings erst mit Erreichen der Volljährigkeit bekommen soll. Weil er weiß, dass sie ebenfalls über Zauberkräfte verfügt, erteilt er ihr Ratschläge und schildert Momente seines langen Lebens.
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Kritik

Die Grundidee, das 20. Jahrhundert aus der Perspektive eines über 100 Jahre alten Zauberers Revue passieren zu lassen, ist originell. Aber Sten Nadolny hakt die zeitgeschichtlichen Ereignisse in "Das Glück des Zauberers" einfach nur der Reihe nach ab. Passagenweise ist die Lektüre amüsant, auch wenn es dem Briefroman an Esprit fehlt
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Die Familie

Pahroc ist 106 Jahre alt, als er im März 2012 anfängt, seiner zu diesem Zeitpunkt vier Monate alten Enkelin Mathilde Briefe zu schreiben, die sie allerdings erst 2030 bekommen soll.

Pahroc wurde 1905 in Berlin als Sohn einer Deutschen und eines US-Amerikaners geboren. Seine Mutter, eine Berlinerin, hieß Marianne. Sein Vater John Pahroc war 1899 mit einer Wildwestshow aus Nevada nach Deutschland gekommenen. Bei ihm handelte es sich um einen Paiute-Indianer vom Stamm der Pahranagat. Der Sohn heißt John wie sein Vater, benutzt jedoch seinen Vornamen nicht, denn das ist bei Zauberern so üblich.

John Pahroc sen. kämpfte im Ersten Weltkrieg für seine Wahlheimat Deutschland und fiel im Sommer 1916 beim Fort Douaumont. Seine Witwe verkaufte die gemeinsam mit ihm in Berlin-Pankow gegründete Tanzschule und zog mit ihrem Sohn nach Wedding, wo sie den Lebensunterhalt als Näherin verdiente.

Mathildas Vater Johann Pahroc wurde 1955 als fünftes Kind von John Pahroc jun. und dessen Ehefrau Emma geboren. Wenige Monate später starb die Mutter im Alter von 43 Jahren. Emma war die Tochter des Grafen Pankraz von Schroffenstein und dessen Ehefrau Dorothea, einer geborenen Haidle. Johanns ältester Bruder, Felix, war Jahrgang 1930, Felicitas („Fee“) ein Jahr jünger; Titus kam 1934 zur Welt, Carola 1942.

Als Schauspieler änderte Johann Pahroc seinen Namen in John Parrock. Er heiratete Adele Reuter, und zeugte mit ihr die Tochter Mathilde.

Das Kind ist nicht älter als vier Monate, als es dem Großvater die Brille von der Nase reißt, ohne sich im Bettchen sichtbar zu bewegen. Obwohl ein Brillenglas zerbricht, ist Pahroc glücklich, denn er weiß nun, dass Mathilde die seltene Gabe der Zauberei besitzt. Deshalb überlegt er sich Ratschläge aus seinem eigenen Erfahrungsschatz, die seine Enkelin allerdings erst nach Erreichen der Volljährigkeit bekommen soll.

Lehrjahre

In Wedding, gegenüber von Pahroc und seiner Mutter Marianne, wohnt ein Zauber-Meister namens Schlosseck, der sich des Nachbarjungen annimmt und ihm die ersten Kunststücke beibringt.

Weil Pahroc sich vor allem für Elektrizität begeistert, wird er Volontär bei Telefunken, und das Unternehmen lässt ihn dann auch an der Technischen Hochschule studieren. So erwirbt er den akademischen Titel eines Diplomingenieurs.

Im Früjahr 1931 mietet Pahroc eine Hinterhofwohnung in Berlin für Emma, Felix und sich.

Weil die Möglichkeiten von Lochkarten Pahroc faszinieren, wechselt er als Elektroingenieur zur DEHOMAG, der Deutschen Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH in Berlin.

NS-Regime

Sein Jugendfreund Schneidebein, ebenfalls ein Zauberer, schließt sich früh den Nationalsozialisten an und steigt nach Hitlers Machtübernahme 1933 in der Hierarchie des Regimes weit auf. Weil der ehemalige Freund längst zum Konkurrenten und zum Gegner geworden ist, zieht Pahroc 1934 heimlich mit seiner Familie nach Gebhardswalde in der Uckermark. Dort benutzen sie gefälschte Papiere auf den Namen Schnittwitz und behaupten, ihre Vorfahren seien mit dem Gesinde der damals 15-jährige Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, der späteren Zarin Katharina die Große, 1744 nach Russland gekommen. Pahroc alias Schnittwitz gibt sich als Elektriker aus Sankt Petersburg aus und lässt sich von Pastor Friedrich Schnabel als Küster in der evangelisch-lutherischen Gemeinde St. Michael anstellen.

Als Pahrocs Mutter in Berlin stirbt, wagt er es nicht, an der Beerdigung teilzunehmen, weil er damit rechnen muss, dass Schneidebein ihm dort auflauern würde.

Schlosseck wird seit Sommer 1934 vermisst. Später wird Pahroc erfahren, dass Schneidebein den Zauber-Meister hinterrücks erschoss.

Nach dem Vorbild seines Lehrmeisters, der alle seine Diener Wladimir nannte, wählt Pahroc für seine Gehilfen den Namen Waldemar.

Waldemar I. vertrauen Pahroc und seine erneut schwangere Frau die Kinder an, als sie zu einem von dem Pianoforte-Fabrikanten Robert Blüthner organisierten europäischen Zauberer-Treffen am 7. Januar 1937 in St. Polykarp reisen ‒ aus eigener Kraft durch die Luft, wie sich das für Zauberer gehört. Bei der Konferenz lernen Emma und ihr Mann Kolleginnen und Kollegen wie den Connétable de Lesdiguières kennen.

Im Juli 1940 wird Waldemar I. von Männern in Ledermänteln abgeholt. Pahroc und seine Familie sind also in Gebhardswalde nicht mehr sicher vor Schneidebein. Blüthner lässt sie von seinem Chauffeur fürs Erste nach Dresden bringen. Dann erhält die Familie Zuflucht in Wasserburg am Inn. Dort amtiert der Zauberer Kajetan Gnadl als Verkehrspolizist. Als er unlängst seinen Freund Josef Gruber tot vorfand, beerdigte er die Leiche heimlich bei einem Gipfelkreuz und vertuschte den Tod des Betreibers eines Elektroladens in Wasserburg, damit Pahroc in dessen Rolle schlüpfen kann. Emma und die Kinder behalten ihre Identitäten. Der Legende zufolge gilt Emmas Ehemann Pahroc als vermisst, und nachdem sie in Berlin ausgebombt wurden, hat Josef Gruber sie aus Mitleid aufgenommen.

Während Emma mit Carola schwanger ist, versteckt Pahroc sich 1942 als Soldat an der Ostfront. Mit Müh und Not kann er sich im Winter 1942/43 aus dem Kessel von Stalingrad retten. Aber während er durch die Luft fliegt, wird er Opfer eines Mönch-von-Heiserbach-Effekt genannten Zeitsprungs und kommt erst zwei Jahre später wieder zu sich. Er trägt einen Judenstern auf der Brust und ist abgemagert. Ein paar Wochen lang arbeitet er in einer Rüstungsfabrik, die dem Unternehmer Oskar Schindler gehört, dem es gelingt, mehr als tausend seiner jüdischen Zwangsarbeiter vor der Ermordung in den Vernichtungslagern zu bewahren.

Während Pahroc weiter nach Nordwesten fliegt, beobachtet er unter sich Flüchtlingstrecks und Todesmärsche von KZ-Häftlingen.

An der Ostsee trifft er auf den großen Zauberer Babenberg, der in der Gestalt der rothaarigen Krine Profuso aus Zülpich 1937 in St. Polykarp inkognito dabei war und als Sekretär Griffzich mit im Büro saß, als Pahroc seinen mächtigen Widersacher Schneidebein in Berlin aufsuchte, um sich nach Schlosseck zu erkundigen.

Endlich kehrt Pahroc zu seiner Familie in Wasserburg zurück. Emma, die zwei Jahre lang nichts von ihm hörte, hat beide Eltern verloren: der Vater wurde festgenommen und ermordet, die Mutter bei einem Bombenangriff getötet.

Die Fortsetzung der Legende lautet: Emmas vermisster Ehemann Pahroc sei wieder da, während Josef Gruber entweder gefallen oder in russische Kriegsgefangenschaft geraten sei.

Nachkriegszeit

Der Connétable de Lesdiguières besucht seinen Kollegen Pahroc 1953 in Wasserburg. Kurz darauf stirbt er in Paris und wird in Grenoble beigesetzt.

Emma stirbt 1955 wenige Monate nach Johanns Geburt. Der trauernde Witwer glaubt, den Verlust nicht zu überleben und fängt einen Abschiedsbrief an den Säugling an, den er dann allerdings nicht fertig schreibt, als er neuen Lebensmut gewinnt.

Dr. Schneider, der Leiter des Abwehramts Ost, versucht Pahroc als Geheimagenten anzuwerben. Der hält ihn zunächst hin und kündigt dann an, er werde sich in ein Kloster zurückziehen, um ihn sich vom Hals zu schaffen. Sein Verdacht, dass Schneider mit Schneidebein zusammenarbeitet, der inzwischen bei der Stasi Karriere gemacht hat, bestätigt sich.

Der in Rosenheim lebende Zauberer Babenberger verunglückt tödlich, als er aus seiner Limousine aussteigt, um den Watzmann zu bewundern und ihn das Fahrzeug auf der abschüssigen Straße von hinten überrollt, weil die Handbremse nicht angezogen ist.

Johann ist fünfeinhalb Jahre alt, als der Vater mit ihm von Wasserburg nach Berlin zieht, wo gerade eine Mauer quer durch die Stadt gebaut wird. Wenn Pahroc als Fluchthelfer unterwegs ist, kümmert sich sein Diener Waldemar II. um den Jungen.

Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts

Pahroc gründet eine Führungsakademie in Berlin, aber im Zug der Achtundsechziger Bewegung und der Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg wird Führung als Bevormundung aufgefasst und gerät in Misskredit. Statt einer Obrigkeit soll die Basis entscheiden, und alles wird nun ewig diskutiert.

Daraufhin sattelt Pahroc um und eröffnet als „Dr. med. Pahroc“ eine Praxis für „Analytische Ereignistherapie“. Das erweist sich als Fehler, denn Schneidebein sorgt dafür, dass Dr. Schneider ihn denunziert und er Ende 1973 zu zwei Jahren Haft wegen der Vortäuschung eines akademischen Titels verurteilt wird. Der Zauberer lässt häufig einen Doppelgänger in der Zelle, um Dinge außerhalb des Gefängnisses erledigen und beispielsweise den Dichter Kurt Kusenberg in Hamburg besuchen zu können.

Für Johann, der inzwischen eine Schauspielschule besucht, sorgt der 1972 eingestellte Diener Waldemar III., bis Pahroc wegen guter Führung nach eineinhalb Jahren freigelassen wird und als Feuerwerker beim Film unterkommt.

Johann alias John Parrock wird also Schauspieler. Carola studierte Germanistik in München, Titus Holzwirtschaft in Rosenheim. Felicitas („Fee“) wurde Sprengstoffexpertin und promovierte in Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.). Felix studierte in München alte Sprachen und Geschichte.

Anfang der Achtzigerjahre beendet Waldemar III. seine Dienertätigkeit, um ein Buch zu schreiben.

1990 unternimmt Pahroc seine erste Schiffsreise. Bei einem Captain’s Dinner im Dezember 1999 begegnet er unerwartet Schneidebein. Der 97-jährige Oberst a. D. starrt ihn an, verlässt den Tisch und springt über Bord.

Pahroc ist zwar inzwischen in der Lage, Geld zu zaubern, aber zur Tarnung betreibt er eine Bed-and-Breakfast-Pension.

Nach der Jahrtausendwende

Von 2002 an beschäftigt Pahroc den Diener Waldemar IV.

Im Alter von 106 Jahren lernt er 2011 bei Dreharbeiten seines Sohnes in Glasgow die in Berlin lebende Regisseurin Rejlander persönlich kennen, die ebenfalls zaubern kann. Ende 2014 zieht er zu ihr.

Den zwölften und letzten Brief an seine Enkelin Mathilde schreibt Pahroc im Mai 2017 im Krankenhaus. Er habe nie zaubern können, behauptet der 111-Jährige, das sei alles geflunkert gewesen. Bevor er den Brief fertigstellen kann, stirbt er in der Nacht auf den 11. Mai 2017.

Nachlass

Rejlander verwaltet Pahrocs Nachlass und schickt Kopien der zwölf Briefe, die Mathilde mit Erlangung ihrer Volljährigkeit erhalten soll, mit einem Begleitbrief vom 28. Juli 2017 an die Maskenbildnerin Iris und den Tonmann Stephan, die mit ihr befreundet sind.

Am Dreikönigstag 2030 überreicht Rejlander Mathilde die Briefe ihres Großvaters. Das Konvolut soll als Buch erscheinen. Das Nachwort für die Edition verfasst Waldemar III. am 25. Juli 2032 in Reykjavík. (Waldemar IV. starb bereits ein Jahr nach Pahroc.)

Deutschland ist inzwischen eine Diktatur.

Die Demokratien haben den Kampf gegen den Terror nicht überlebt.

Weil Pahroc das voraussah ‒ davon ist Waldemar III. überzeugt ‒ verleugnete er im letzten Brief an seine Enkelin die Fähigkeit zum Zaubern. Rejlander, die zuletzt mit dem Araber Ibn Ruschd liiert war, fiel durch ihre Marotte auf, beim Schaufenster-Bummeln alle paar Minuten die Handtasche zu wechseln. Sie wurde aufgegriffen und vegetiert inzwischen mit einer elektromagnetischen Hirnfessel vor sich hin.

Die von Kriegen zerstörten arabischen Städte und Länder wurden wieder aufgebaut, und die nun matriarchalischen Gesellschaften florieren. Wegen der hohen Zahl von Asylanträgen aus Europa ist es schwierig, an einer der arabischen Universitäten einen Studienplatz zu bekommen, aber Mathilde hat sich vorgenommen, in Damaskus Medizin und Mathematik zu studieren.

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Der Roman „Das Glück des Zauberers“ von Sten Nadolny setzt sich aus zwölf langen Briefen des Zauberers Pahroc zusammen, die er zwischen März 2012 und Mai 2017 an seine 2011 geborene Enkelin Mathilde schreibt. Eingerahmt wird das Briefkonvolut durch den Begleitbrief der Nachlassverwalterin Rejlander vom 28. Juli 2017 an die Freunde Iris und Stephan sowie ein Nachwort von Waldemar III., des dritten von vier Dienern des Zauberers, vom 25. Juli 2032.

In seinen Briefen erteilt der Zauberer seiner Enkelin Ratschläge und erinnert sich an Abschnitte seines langen Lebens.

Sobald Du vom Boden abheben und schweben kannst, übe das unbeobachtet im Wald, und bei viel Wind sichere Dich mit einer langen Leine. Werde nicht übermütig, achte auf Stromleitungen, Windräder und alles, woran Du sonst noch hängen bleiben könntest, und trage am besten Hosen!

Die Grundidee, das 20. Jahrhundert aus der Perspektive eines Greises Revue passieren zu lassen, der zwar zaubern kann, aber nicht in der Lage ist, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, ist originell. Aber „Das Glück des Zauberers“ ist kein Epochenroman. Dazu mangelt es an Tiefgang, und Sten Nadolny hakt die zeithistorischen Meilensteine einfach nur der Reihe nach ab, vom Ersten Weltkrieg (Verdun) über das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg (Stalingrad) bis zur Flüchtlingskrise 2015 und zum Abgasskandal der Automobilindustrie: Volksaufstand 1956 in Ungarn, Achtundsechziger Bewegung, Ernő Rubiks Zauberwürfel (1974), gefälschte Hitler-Tagebücher (1983), Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (26. April 1986), Übertragung der Neujahrsansprache des Bundeskanzlers Helmut Kohl von 1987, bei der versehentlich die des Vorjahrs wiederholt wurde, friedliche Revolution in Ostdeutschland von 1989 unter dem Motto „Wir sind das Volk!“, Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) u. a.

Ob sich Stan Nadolny mit „Das Glück des Zauberers“ an Jugendliche oder Erwachsene wendet, bleibt unklar. Das Nachwort lässt vermuten, dass der Autor vor einer Entzauberung der Welt warnen möchte, die Freiheit und Demokratie scheitern lassen könnte.

„Das Glück des Zauberers“ nimmt erst allmählich Fahrt auf. Die Ratschläge des Zauberers an seine Enkelin könnten lebensklug sein, aber auch, wenn nette Einfälle des Autors die Lektüre zum Vergnügen machen, bleibt die Darstellung trivial, oberflächlich und plakativ. Es fehlt dem Roman an Esprit.

Den Roman „Das Glück des Zauberers“ von Sten Nadolny gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Otto Mellies.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Sten Nadolny / Piper Verlag

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