Gudrun Lerchbaum : Wo Rauch ist

Wo Rauch ist
Wo Rauch ist Originalausgabe: Argument Verlag, Hamburg 2018 ISBN 978-3-86754-233-3, 285 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der türkisch-stämmige Journalist Can Toprak wird in Wien zu Grabe getragen. Seine Schwester Merve behauptet, er sei an einem allergischen Schock gestorben, aber seine geschiedene Frau Olga Schattenberg ist überzeugt, dass er ermordet wurde. Nach einer Weile teilt auch die Polizei diesen Verdacht – und zählt Olga zu den Verdächtigen. Weil sie an MS erkrankt ist und im Rollstuhl sitzt, kann sie es zwar nicht selbst getan haben, aber vor kurzem hat sie eine Frau bei sich aufgenommen, die zwölf Jahre wegen Totschlags im Gefängnis saß …
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Kritik

Bei "Wo Rauch ist" handelt es sich um einen originellen, unterhaltsamen Kriminalroman von Gudrun Lerchbaum, die an ihrem Abscheu vor Fanatismus und Intoleranz keinen Zweifel lässt. Schwarzer Humor, Ironie und Sarkasmus durchziehen den aus drei sehr verschiedenen Perspektiven entwickelten Roman. Zu den eindrucksvollsten und ergreifendsten Szenen gehören die aus der Sicht einer an MS erkrankten 48-jährigen Frau dargestellten.
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Beerdigung

Olga Schattenberg ist in ihrer Buchhandlung in Wien auf die Hilfe einer Kollegin angewiesen, denn die 48-Jährige leidet seit 26 Jahren an Multipler Sklerose und sitzt seit zwei Jahren im Rollstuhl. Gegen die Spastik helfen am besten Joints.

Je schwerer es mir fällt, selbst zu tun, was ich will, desto mehr Bedeutung gewinnt es für mich. Je hilfloser man körperlich wird, desto mehr tendieren andere dazu, einen als Objekt zu denken, und aus ist’s mit dem Respekt, los geht’s mit der wohlmeinenden Bevormundung.

Obwohl sie sich vor zwei Jahren von ihrem Ehemann Can Toprak – einem türkischstämmigen Journalisten – wegen dessen Untreue scheiden ließ, erweist sie ihm nach seinem Tod die letzte Ehre.

Olga, Adrian und Kiki

Nach der Beerdigung hält sie vergeblich Ausschau nach dem Mann, den sie dafür bezahlt hat, dass er sie schiebt. Der Trauerredner springt ein. Dr. Adrian Roth studierte Kunstgeschichte, aber seit etwa 17 Jahren versucht er, den Hinterbliebenen von Verstorbenen durch persönliche Gespräche und Grabreden beizustehen, statt als Assistent an der Universität Wien zu arbeiten.

Durch Adrian Roth lernt Olga Schattenberg auch Christiane („Kiki“) Bach kennen. Kiki und Adrian waren bis vor 13 Jahren knapp zwei Jahre lang ein Paar. Inzwischen verbüßte Kiki eine zwölfjährige Haftstrafe, weil sie auf offener Straße einen Bankbeamten niedergestochen hatte, der nicht bereit gewesen war, Adrian einen Kredit zu gewähren. Olga stellt die Vorbestrafte unbekümmert als „Assistentin“ ein, und als Kiki von ihrem Vermieter hinausgeworfen wird, darf sie bei Olga wohnen.

Can Topraks Schwester Merve behauptete sowohl ihrer früheren Schwägerin als auch dem Trauerredner gegenüber, ihr Bruder sei an einem allergischen Schock gestorben. Olga, die weiß, dass Can nie allergisch war, glaubt das nicht. Sie nimmt an, dass der Journalist ermordet wurde. Vielleicht waren seine Recherchen über eine Kooperation des türkischen Geheimdienstes Millî İstihbarat Teşkilâtı (MIT) mit der Neuen Rechten in Österreich und in anderen westeuropäischen Staaten zu brisant geworden.

Polizei und Geheimdienst

Bald nach Cans Beerdigung stehen die Chefinspektorin Neumeyer vom Bundeskriminalamt und Major Czermak vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung bei Olga vor der Tür. Sie fragen nach dem Laptop des Toten, der weder in dessen Privatwohnung noch in der Redaktion zu finden war. Da kann Olga den Beamten nicht weiterhelfen.

Im Verlauf der Befragung erfährt sie, dass Can tatsächlich ermordet wurde. Die Putzfrau fand den Toten. Mit einer Krawatte stranguliert, hingt er an einer Reckstange in seiner Wohnung, und man hatte ihm auch noch die Hose heruntergezogen.

Weil Olga früher bei Demonstrationen Pflastersteine warf und mit der RAF sympathisierte, zählen die Ermittler sie zu den Mordverdächtigen. Immerhin wurde sie 1989 wegen Besitzstörung und 1992 wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die Staatsgewalt gerichtlich verurteilt. Aufgrund der Multiplen Sklerose wäre sie zwar nicht selbst in der Lage, jemanden umzubringen, aber sie könnte Christiane Bach dazu angestiftet haben.

Mehmet

Sobald die Beamten fort sind, schickt Olga Kiki zu Mehmet Kaya. Der 37-Jährige hatte zwar Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaften in Wien studiert, zog es dann jedoch aus finanziellen Gründen vor, einen türkischen Frisör-Herrensalon aufzumachen. Vor zwei Jahren lernte er Can kennen und wurde dessen bester Freund. Wie vermutet, befindet sich Cans Laptop in seinem Safe. Er übergibt ihn Kiki.

In einem Café schaut sie sich einige der Dateien an und stößt dabei auf Selfies von Can und Mehmet mit erigierten Penissen. Die beiden waren ein Paar!

Bevor Kiki zur Toilette geht, bittet sie eine ältere Dame am Nebentisch, auf ihre Sachen aufzupassen, doch als sie zurückkommt, fehlt der Laptop. Ein Junge, der sich schon eine Weile vor dem Fenster herumgetrieben habe, berichtet der Kellner, sei hereingestürmt und habe den Laptop geraubt.

Emrullah Demirkan

Ein Fremder verschafft sich Zugang zu Olgas Wohnung. Er heiße Emrullah Demirkan, erklärt er, sei Journalist und habe mit seinem Kollegen Can Toprak an einem Scoop gearbeitet. Um den Artikel fertigzustellen, benötige er Cans Laptop mit dem Recherche-Material. Er sei bereits bei Mehmet Kaya gewesen und habe mit ein bisschen Gewaltanwendung herausgefunden, wer den Laptop abholen ließ. Olga, Kiki und Adrian beteuern, dass der Laptop geraubt worden sei, aber Emrullah Demirkan glaubt ihnen nicht.

Er packt Olgas Kopf von hinten und droht, ihr das Genick zu brechen. Außerdem zückt er eine Schusswaffe. Plötzlich lässt Olga den Rollstuhl nach hinten rucken. Emrullah Demirkan stürzt zu Boden. Kiki ergreift ein Kuchenmesser und rammt es ihm in den rechten Arm. Ohne nachzudenken, schneidet sie ihm die Kehle durch.

Weil sie sich deshalb nicht mehr auf Notwehr berufen kann, ziehen sie und Adrian dem Toten eine alte Lederjacke aus dem Kleiderschrank an, setzen ihn in den Rollstuhl, umwickeln seinen Hals mit einem Schal und fahren ihn zum Donaukanal, wo sie ihn auf eine Parkbank setzen.

Verwicklungen

Wegen eines massiven Schubs ihrer Krankheit muss Olga ins Krankenhaus. Die Ärztin rät zu einer immunmodulatorischen Therapie, aber die Patientin will davon nichts wissen, sondern nur Kortison.

Während Olga im Krankenhaus liegt, tritt Martina Köhler zurück, die Generaldirektorin für die öffentliche Sicherheit, denn das Auffinden der Leiche des aus Kayseri stammenden Geschäftsmannes Emrullah Demirkan mit doppelter Staatsbürgerschaft führt zu diplomatischen Verwicklungen mit der türkischen Regierung und offenbart Ermittlungspannen. Weil an der Lederjacke des Toten DNA-Spuren von Can Toprak nachgewiesen werden und Mehmet Kaya seit einem Feuer in seinem Frisörsalon spurlos verschwunden ist, glaubt die Polizei, die beiden Mordfälle aufgeklärt zu haben: Mehmet Kaya fand wohl heraus, dass ihn sein Lebensgefährte Can Toprak mit Emrullah Demirkan betrog und ermordete deshalb beide.

Als Olga wieder nach Hause kommt, findet sie dort Kiki und Adrian mit Mehmet vor. Obwohl sich inzwischen die „Tafelrunde Identitärer Patrioten“ sowohl zu dem Brandanschlag auf seinen Frisörsalon als auch zur „Hinrichtung“ des türkischen Agenten Emrullah Demirkan bekannt hat, versteckt sich der polizeilich Gesuchte bei der Ex-Frau seines besten Freundes. Er gesteht, er habe Cans Leiche entdeckt und dessen Laptop mitgenommen, um die kompromittierenden Fotos zu löschen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Cans Mutter Münire und ihr sechzehnjähriger Enkel Semih – der Sohn ihrer Tochter Merve – suchen Olga in der Buchhandlung auf. Semih bringt den Laptop seines Onkels mit und gesteht nicht nur, Kiki verfolgt und sie dann im Café beraubt zu haben, sondern auch an Cans Ermordung beteiligt gewesen zu sein.

Seine Mutter gehört der vor einem halben Jahr gegründeten islamistischen Gruppe Kartalar an, die mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes MIT, der Gemeinschaft Millî Görüş und der Avrupa Türk-İslam Birliği über das islamkonforme Verhalten der in Österreich lebenden Türken wacht. Ihr Bruder Can musste sterben, weil Homosexualität nach Auffassung von Kartalar eine Schande ist. Merve hielt es für ihre Pflicht, die Familienehre wieder herzustellen. Es handelte sich also um einen „Ehrenmord“. Und sie brachte ihren Sohn dazu, ihr zu helfen, Can mit k.-o.-Tropfen zu betäuben und zu strangulieren. Später schickte sie ihn los, den Laptop mit den ehrlosen Fotos zu beschaffen.

In Olgas Wohnung taucht der deutsche Journalist Karsten Krantz auf, der mit Can Toprak gemeinsam über die Verbindungen des türkischen Geheimdienstes mit der rechten Szene in Europa recherchierte. Sie fanden heraus, dass der Versuch scheiterte, Neonazis zur Terrorisierung und Verunsicherung der im Ausland lebenden Türken einzusetzen.

Olga fordert Merve auf, zu ihr zu kommen. Merve will ihren Sohn Semih zurückhaben und droht ihrer früheren Schwägerin mit einer Anzeige. Olga konfrontiert sie jedoch mit ihrem Wissen über Cans Ermordung und rät ihr, sich der Polizei zu stellen und Semihs Beteiligung zu vertuschen. Dessen Großeltern Cem und Münire würden aussagen, er sei zur Tatzeit bei ihnen gewesen. Und sie würden sich während Merves Haftzeit um ihn kümmern.

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Gudrun Lerchbaum hat mit „Wo Rauch ist“ einen originellen Kriminalroman vor dem Hintergrund radikaler Bewegungen in Österreich geschrieben. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass ihr die Neue Rechte ebenso zuwider ist wie beispielsweise islamistische Bestrebungen zur Verhaltenskontrolle von Muslimen im Ausland. (Aus ihrem Roman „Lügenland“ wissen wir bereits, dass sie sich gegen Intoleranz jeder Art wehrt.)

Dass nicht alles realistisch wirkt, was in „Wo Rauch ist“ geschieht, darf man nicht auf die Goldwaage legen. Schwarzer Humor, Ironie und Sarkasmus durchziehen den Roman. Vorbild war wohl eher Agatha Christie als Raymond Chandler. Die ebenso spannende wie unterhaltsame Geschichte entwickelt sich chronologisch, stringent und fast zu schnell. Gudrun Lerchbaum wechselt zwischen drei Perspektiven. Olga, Kiki und Adrian werden in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Verletzlichkeit, aber auch ihren Stärken lebendig. Kiki spricht sich in ihren inneren Monologen immer wieder schnoddrig in der zweiten Person Singular an. Ausgefallen ist vor allem die Figur Olga, denn die 48-Jährige ist durch Multiple Sklerose in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Offenbar hat sich Gudrun Lerchbaum eingehend mit der Krankheit beschäftigt, denn die Szenen, die aus Olgas Perspektive und mit Hinblick auf die körperlichen Beeinträchtigungen geschildet werden, gehören zu den eindrucksvollsten und ergreifendsten des Buches.

Im Nachwort schreibt Gudrun Lerchbaum:

Die erste Inspiration zu diesem Roman verdanke ich meiner ehemaligen Freundin Gabriela. Ihre Auseinandersetzung mit der MS, der Kampf mit den Einschränkungen, die sie mit sich bringt, und ihr kreativer Einsatz für Inklusion haben mich inspiriert, einen Roman um eine Protagonistin zu ersinnen, die wie sie auf den Rollstuhl angewiesen ist. Eine Heldin sollte das sein, die ihre körperlichen Defizite nicht durch irgendwelche besonderen Kräfte kompensieren kann, wie es sonst in der Literatur oft der Fall ist. Eine, die sich trotzdem weigert, sich und ihr Leben durch Krankheit und Behinderung definieren zu lassen, und durch ihre Handlungen selbstverständlich die Teilhabe an der Gesellschaft einfordert.

Und die Verlegerin Else Laudan meint:

Wenn man sich für politische Kriminalliteratur interessiert, spielt der Blickwinkel des Erzählens eine gewaltige Rolle. Mich als Verlegerin reizen vor allem Personen mit Brüchen und Widersprüchen, mit sozialen Nachteilen und Blessuren, denn ihre Geschichten berühren die wunden Punkte in der Gesellschaft: Versehrte, Pechvögel, Grenzgänger/innen und schräge Gestalten sind in der Normalität schlecht aufgehoben, weil sie nicht recht in die gängige Maschinerie passen. Ihr Blick auf die Welt macht Kriminalliteratur (deren konservative Schiene so affirmativ wirkt) explorativ, öffnet Fenster zu Wirklichkeiten, die in der Heile-Welt-Werbung nicht vorkommen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Argument Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.