Gottfried Benn
Gottfried Benn wurde am 2. Mai 1886 als zweites von acht Kindern des Pastors Gustav Benn (1857 ? 1939) und dessen aus der französischen Schweiz stammenden Ehefrau Caroline (1858 ? 1912) in Mansfeld (Brandenburg) geboren. Er wuchs in Dörfern östlich der Oder auf. Auf Wunsch des Vaters immatrikulierte er sich 1903 zunächst für ein Theologiestudium in Marburg, wechselte aber zwei Jahre später zur Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärisch-ärztliche Bildungswesen in Berlin, promovierte 1912 als Mediziner und wurde Assistent im Krankenhaus Charlottenburg-Westend.
Im selben Jahr befreundete Gottfried Benn sich mit Else Lasker-Schüler (1869 ? 1945) und veröffentlichte unter dem Titel „Morgue“ seinen ersten Gedichtband, in dem er die Spießbürger mit Ekel erregenden Szenen über Leichensezierung provozierte.
Nach einer viermonatigen Seereise als Schiffsarzt heiratete Gottfried Benn am 30. Juli 1914 die acht Jahre ältere Schauspielerin Eva Brandt (eigentlich: Edith Brosin, geborene Osterloh; sie starb am 19. November 1922). Während des Ersten Weltkriegs war Gottfried Benn als Militärarzt in Brüssel tätig. Im November 1917 ließ er sich als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin nieder.
Zehn Jahre später wurde Gottfried Benn in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen. Nachdem er die Nationalsozialisten anfangs bejubelt hatte („Der neue Staat und die Intellektuellen“, Rundfunkvortrag, 24. April 1933), distanzierte er sich 1934 von ihnen und wurde am 18. März 1938 aus der Reichsschriftkammer verstoßen, also mit einem Schreibverbot belegt.
Am 22. Januar 1938 vermählte sich Gottfried Benn mit der Sekretärin Herta von Wedemeyer. (Sie nahm sich am 2. Juli 1945 mit einer Morphium-Injektion das Leben.)
Von 1935 bis Kriegsende betätigte Gottfried Benn sich als Militärarzt in Hannover, Berlin und Landsberg an der Warthe.
[Der Benn-Biograf Fritz J.] Raddatz schreibt: „Benn war zu reaktionär, um Nazi zu sein“, und er beschreibt spöttisch auch die mondäne Tristesse, die Wortgirlanden, die Unbalance zwischen öffentlicher Anpassung und privater Kratzbürstigkeit dieses Schimpfgenies Benn und zitiert aus einem Brief an Oelze: „Hassenswertes, dummes, kindererzeugendes, Wohnung suchendes, omnibusbesteigendes, aufbauendes, weibersichzuwedelndes, plauderndes, gebildetes, ehrbar strebendes, redliches, meinungsäußerndes, mädchenengagierendes, ferienverbringendes, ostseefrohes, Sachzusammenhänge erörterndes Geschmeiß von Bremen bis Villach u. Domodossola bis Kurische Nehrung“. Nein, ein Menschenfreund war er nicht. Und die Nazis, das war für ihn erst recht die Gosse, der Pöbel. Keine Elite.
(Elke Heidenreich, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. November 2004)
Nach dem Zweiten Weltkrieg, am 18. Dezember 1945, wurde die siebenundzwanzig Jahre jüngere Zahnärztin Ilse Kaul seine Ehefrau.
Als Erster erhielt Gottfried Benn am 21. Oktober 1951 den neu geschaffenen Georg-Büchner-Preis.
Im Alter von siebenundsechzig Jahren schloss Gottfried Benn am 1. Juli 1953 seine Arztpraxis in Berlin. Drei Jahre später, am 7. Juli 1956, starb er.
Gottfried Benn gilt als einer der bedeutendsten expressionistischen Dichter. In seiner Prosa experimentierte er mit unterschiedlichen Ansätzen.
Das Gefühl der Sinnlosigkeit hat Benn beherrscht; der Grundton seiner Gedichte ist eine männliche Verzweiflung, Hohn auf die Zivilisation, auf das Menschliche und Trauer darum. Der Standort Benns ist unmenschlich, der eines kalten Gottes, der mit großen gefühllosen Augen die menschliche Tragikomödie anschaut. Tod und Schlaf sind bei Benn die großen einzigen Erlöser. (Max Rychner, Beiheft zu einem Band mit Gedichten von Gottfried Benn, Bibliothek des 20. Jahrhunderts, hg. von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki)
Die Faszination, die Benn für immer neue Lesergenerationen ausstrahlt, erklärt sich zum einen aus der sprachlichen Kraft, die in der Lyrik als Montage von existenziellen und mythischen Inhalten, in Wortschöpfungen und nuancierten Versformen zum Ausdruck kommt und die sich in der Prosa verschiedentlich als frappierende Bildhaftigkeit, als kühne Abstraktion und als leidenschaftliche Polemik artikuliert. Zum anderen erklärt sie sich aus der Widersprüchlichkeit in Leben und Werk, der eigentümlichen Mischung aus Klarsicht und Verblendung, Irrationalismus und intellektueller Neugier, Modernität und Nostalgie. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band 1, Dortmund 1989, S. 341)
Gottfried Benn: Bibliografie (Auswahl)
- Morgue (1912)
- Söhne (1913)
- Fleisch (1917)
- Gehirne (1919)
- Diesterweg (1918)
- Schutt (1924)
- Spaltung (1925)
- Das Unaufhörliche (Oratorium, Musik: Paul Hindemith, 1931)
- Nach dem Nihilismus (1932)
- Der neue Staat und die Intellektuellen (1933)
- Kunst und Macht (1934)
- Statische Gedichte (1948)
- Roman des Phänotyps (1949)
- Die Ptolemäer (1949)
- Ausdruckswelt (1949)
- Trunkene Flut (1949)
- Drei alte Männer (1949)
- Doppelleben (Autobiografie, 1950)
- Die Stimme hinter dem Vorhang (1952)
- Destillation (1953)
- Aprèslude (1955)
Literatur über Gottfried Benn
- Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar (Aufbau Verlag, Berlin 2006)
- Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit
(Rowohlt Verlag, Reinbek 2006) - Walter Lennig: Gottfried Benn (Rowohlt Bildmonographie)
- Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn (Rowohlt Verlag, Reinbek 2006)
© Dieter Wunderlich 2006