Die Jagd

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Die Jagd

Die Jagd – Originaltitel: Jagten – Regie: Thomas Vinterberg – Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm – Kamera: Charlotte Bruus Christensen – Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud – Musik: Nikolaj Egelund – Darsteller: u.a. Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm, Susse Wold, Anne Louise Hassing, Lars Ranthe, Alexandra Rapaport – 2012; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Die kleine Klara, die den Erzieher Lucas im Kindergarten anhimmelt, sich aber von ihm zurückgewiesen fühlt, behauptet in ihrer Frustration, sie habe seinen erigierten Penis gesehen. Mit der unbedachten Lüge setzt sie eine Eigen- und Gruppendynamik in Gang, die schließlich in einer Hexenjagd auf Lucas eskaliert. Sobald die Erwachsenen in ihrer Vorverurteilung des Verdächtigen verstrickt sind, hören sie nicht mehr auf Klara, die ihre Lüge längst bedauert und immer wieder beteuert, dass Lucas nichts Unrechtes getan habe ...
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Kritik

In dem beklemmenden Drama "Die Jagd" stellt Thomas Vinterberg die gruppendynamischen Vorgänge differenziert und überzeugend dar. Drehbuch, Inszenierung und schauspielerische Leistungen sind hervorragend.
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Der 42 Jahre alte dänische Lehrer Lucas (Mads Mikkelsen) ist seit kurzem von seiner Ehefrau Kirsten (Katrine Brygmann) geschieden und leidet darunter, dass er seinen 14-jährigen Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) nur alle zwei Wochen sehen darf. Seine Lehrtätigkeit musste er aufgeben, weil die Schule wegen Schülermangels geschlossen wurde. Nun arbeitet er als Erzieher im Kindergarten seines Heimatortes. Die Väter der meisten Kinder kennt er gut, weil er wie sie dem Jagdverein angehört.

Eines Morgens, als ein Streit seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen) und dessen Frau Agnes (Anne Louise Hassing) bis auf die Straße zu hören ist, und keiner der beiden daran denkt, die vierjährige Tochter Klara (Annika Wedderkopp) in den Kindergarten zu bringen, übernimmt Lucas diese Aufgabe.

Klara himmelt ihn an. Sie bastelt ein Herz und steckt es ihm in eine Tasche seiner in der Garderobe des Kindergartens hängenden Jacke. Als er sich mit den Jungen balgt und dann kurz auf dem Rücken liegen bleibt, beugt Klara sich über ihn und küsst ihn auf den Mund. Daraufhin nimmt Lucas sie zur Seite und erklärt ihr, dass Kinder nur ihre Eltern und andere enge Verwandte auf den Mund küssen dürfen. Außerdem gibt er ihr das Geschenk zurück und rät ihr, es einem der Jungen zu geben. Klara leugnet, dass sie ihm das Herz zugesteckt habe, aber Lucas weiß es besser.

Etwas später fällt der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) auf, dass Klara allein und bedrückt auf einem Stuhl im Dunkeln sitzt. Sie erkundigt sich nach dem Grund der schlechten Laune, und Klara sagt, sie hasse Lucas. Das überrascht Grethe, denn es ist ihr nicht entgangen, wie gern das Kind bisher mit dem Erzieher zusammen war. Klara behauptet, Lucas habe ihr ein aus Papier gebasteltes Herz geschenkt, aber das wolle sie nicht. Außerdem habe er einen Pimmel. Grethe entgegnet ruhig, Lucas habe wie alle Männer einen Penis. Das sei also nichts Ungewöhnliches. Aber Klara, die erst kürzlich ein Pornofoto auf dem Tablet ihres älteren Bruders Torsten (Sebastian Bull Sarning) sah, fügt hinzu, Lucas Pimmel habe aufgeragt.

Grethe führt das Kind hinaus und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert und verunsichert sie ist.

Lucas, der davon nichts ahnt, erfährt durch einen Telefonanruf seiner Ex-Frau, dass sein Sohn bei ihm wohnen möchte und Kirsten sich nicht länger dagegen sträubt. Er freut sich, obwohl er noch ein paar Wochen warten muss, denn vernünftigerweise soll Marcus erst in den Weihnachtsferien die Schule wechseln.

Nadja (Alexandra Rapaport), eine Ausländerin, die im Kindergarten das Geschirr spült, lädt Lucas auf eine Tasse Kaffee in die Küche ein und deutet an, dass sie gern mit ihm zusammen wäre. Lucas lässt sich darauf ein, und nach ein paar Tagen zieht Nadja zu ihm.

Erst nach tagelangem Zögern sucht Grethe das Gespräch mit Lucas, aber sie beschränkt sich auf Andeutungen:

„Ein Kind hat mir etwas erzählt, Lucas. Das muss ich hier einfach ansprechen. Ich weiß, dass dieses Kind eine lebhafte Fantasie hat, aber ich wollte das trotzdem mit dir besprechen.“
„Natürlich. Um wen geht es denn?“
„Das sag ich dir nicht. Er oder sie sagt, dass da was zwischen euch war, das normalerweise nur Erwachsene machen.“
„Was denn, was soll denn vorgefallen sein?“
„Das Kind, er oder sie, sagt, naja, es hätte dein Geschlechtsteil gesehen.“

Lucas weiß nicht, was das zu bedeuten hat, erfährt aber auch nicht mehr.

Grethe bittet den erfahrenen Pädagogen Ole (Bjarne Henriksen), mit Klara zu reden. Klara behauptet zunächst, sie habe gar nichts erzählt und sagt dann auch „nein“ auf die Frage, ob sie Lucas‘ Pimmel gesehen habe. Ole nimmt an, dass das Kind den sexuellen Übergriff zu verdrängen versucht und sich deshalb nicht mehr daran erinnern will. Auf offene Fragen erhält er keine Antwort, aber auf Suggestivfragen wie zum Beispiel „Hat Lucas dir seinen Pimmel gezeigt?“ reagiert Klara durch Kopfnicken. Nach der Befragung rät Ole der Kindergartenleiterin, zur Polizei zu gehen. Seiner Meinung nach gibt es keinen Zweifel: Klara wurde Opfer eines Pädophilen. Davon ist nun auch Grethe überzeugt.

Sie suspendiert Lucas vom Dienst und lässt Klaras Mutter kommen, um sie über den Kindesmissbrauch zu unterrichten. Am selben Abend findet ein Elternabend statt, und Grethe nutzt die Gelegenheit, auch den anderen Eltern mitzuteilen, was ihrer Ansicht nach vorgefallen ist. Sie fordert alle auf, ihre eigenen Kinder nach ähnlichen Erlebnissen zu befragen und teilt eine Broschüre mit Ratschlägen für Eltern möglicherweise missbrauchter Kinder aus.

In der Nacht ruft Marcus seinen Vater an. Schluchzend berichtet der Junge, dass er nicht zu Lucas ziehen dürfe und seine Mutter ihm jeden Kontakt mit dem Vater verboten habe. Nach dem Grund gefragt, antwortet Marcus, die Kindergarten­leiterin habe Kirsten angerufen und ihr etwas sehr Schlimmes über Lucas erzählt.

Am nächsten Morgen stürmt Lucas aufgebracht in Grethes Büro. Sie sitzt mit bestürzten Eltern zusammen, die inzwischen annehmen, dass Lucas auch ihre Kinder missbraucht habe. Grethe flüchtet ins Freie und lässt Lucas nicht in ihre Nähe. In der Aufregung rutscht ihr der Name „Klara“ heraus. Johan (Daniel Engstrup), einer der Väter, fordert Lucas auf, zu verschwinden und droht ihn zu schlagen.

Nachdem Lucas nun den Namen des Kindes erfahren hat, geht er zu Theo. Der weiß nicht, was er glauben soll, aber dass seine Tochter lügt, kann er sich nicht vorstellen. Lucas möchte wissen, was ihm vorgeworfen wird und verlangt eine Gegenüberstellung mit dem Kind. Da bemerkt Agnes ihn und wirft ihn aus dem Haus.

Klara, die das mitbekommen hat, sagt zu ihrer Mutter: „Seid ihr vielleicht sauer auf Lucas? Er hat nichts getan. Ich hab‘ bloß was ganz Dummes erzählt. Und alle sprechen jetzt im Kindergarten darüber. Die sagen alles Mögliche.“ Agnes erklärt ihr daraufhin: „Dein Kopf will sich nicht an die schrecklichen Dinge erinnern, aber es ist geschehen, und es ist gut, dass du uns das erzählt hast.“

Die Erzieherinnen, die wissen, dass Nadja bei Lucas wohnt, erklären ihr, dass eine Reihe von Eltern bei ihren Kindern Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs durch Lucas entdeckten. Nadja wird dadurch verunsichert und ist nicht länger von Lucas‘ Unschuld überzeugt. Als er herausfindet, dass sie ihm pädophile Übergriffe zutraut, ist er entsetzt – und setzt sie vor die Tür.

Überraschend und trotz des Verbots taucht Marcus bei seinem Vater auf. Er hält ihn für unschuldig. Lucas gesteht ihm, wie verzweifelt er ist. Im Kindergarten wurde er entlassen, und die Polizei ermittelt gegen ihn, ohne dass er Genaueres über die Anschuldigungen erfährt.

Marcus geht in den Supermarkt, um für sich und seinen Vater einzukaufen, aber der Inhaber (Nicolai Dahl Hamilton) erklärt ihm, er wolle weder ihn noch seinen Vater hier noch einmal sehen, er müsse schließlich an seine anderen Kunden denken. Als Marcus zum Haus seines Vaters zurückkehrt, wird dieser gerade von der Polizei abgeführt.

Zuflucht findet Marcus bei seinem Patenonkel Bruun (Lars Ranthe), der ebenfalls zu Lucas hält.


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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Nach einer Nacht im Gefängnis wird Lucas dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Der stellt fest, dass Klara sich an den angeblichen Vorfall nicht mehr erinnern kann und die anderen Kinder alle übereinstimmend beschreiben, wie Lucas sich an ihnen im Keller seines Hauses vergangen habe. Dabei ist sein Haus gar nicht unterkellert. Lucas kommt frei, und das Verfahren gegen ihn wird eingestellt.

Offenbar sind nicht alle Bewohner mit der gerichtlichen Entscheidung einverstanden. Jemand wirft einen Stein durch ein Küchenfenster des vermeintlichen Kinderschänders und legt den Kadaver seines Hundes vor die Türschwelle. Im strömenden Regen begräbt Lucas das Tier. Dass Lucas im Supermarkt Hausverbot hat, weiß er noch nicht. Deshalb wundert er sich, als der Metzger (Øyvind Hagen-Traberg) ihn nicht bedient und ihn zusammenschlägt, als er sich weigert, das Geschäft zu verlassen.

Obwohl Lucas im Gesicht verletzt ist und hinkt, geht er demonstrativ zur Weihnachtsmesse. Die ganze Gemeinde ist in der Kirche versammelt. Theo wird unruhig, als Lucas sich umdreht und ihn anblickt. Als der Kinderchor singt, verliert Lucas die Beherrschung, geht zu Theo, schlägt nach ihm und betont, dass er nichts getan habe. Agnes kreischt: „Du scheiß Psychopath!“ Einige Männer zerren Lucas aus der Kirche.

Zu Hause haben Theo und Agnes Gäste. Theo setzt sich zu Klara aufs Bett. Sie habe von Lucas und seinem Hund geträumt, sagt sie im Halbschlaf und fährt fort, sie habe das alles nicht gewollt. „Ich hab‘ doch bloß was Dummes erzählt. Er hat doch gar nichts gemacht. Echt nicht.“ Daraufhin packt Theo ein paar Sachen vom Büffet ein und nimmt auch eine Flasche Wein mit. Ungeachtet des Protestes seiner Frau geht er zu seinem Freund hinüber und weckt ihn auf.

Ein Jahr später feiert der Jagdverein, dass Marcus den Jagdschein gemacht hat. Auch Lucas, der mit Nadja an dem Umtrunk teilnimmt, wird herzlich begrüßt. Bruun überreicht Marcus ein Jagdgewehr. Es ist ein Geschenk seines Vaters und schon seit Generationen im Familienbesitz.

Am nächsten Morgen darf Marcus erstmals an einer Jagd teilnehmen. Lucas pirscht abseits von den anderen durch den Wald. Plötzlich schießt jemand auf ihn. Die Kugel verfehlt seinen Kopf nur knapp. Lucas sieht den Schützen als Silhouette vor der aufgehenden Sonne, kann aber nicht erkennen, wer es ist. Im nächsten Augenblick verschwindet der Mann.

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Mit dem Drama „Die Jagd“ hat Thomas Vinterberg ein Gegenstück zu seinem Film „Das Fest“ geschaffen. Während in „Das Fest“ ein Mann, der seine Kinder sexuell missbrauchte, erst nach Jahrzehnten entlarvt wird, hält in „Die Jagd“ eine Kleinstadtgemeinde einen Erzieher zu Unrecht für einen pädophilen Sexualstraftäter.

Die kleine Klara, die Lucas anhimmelt, sich aber von ihm zurückgewiesen fühlt, setzt in ihrer Frustration durch eine unbedachte Lüge eine Eigen- und Gruppendynamik in Gang, die schließlich in einer Hexenjagd auf Lucas eskaliert. Sobald die Erwachsenen in ihrer Vorverurteilung des Verdächtigen verstrickt sind, hören sie nicht mehr auf Klara, die ihre Lüge längst bedauert und immer wieder beteuert, dass Lucas nichts Unrechtes getan habe. Im Gegenteil: Sie evozieren nun bei ihren eigenen Kindern entsprechende Anschuldigungen gegen Lucas. Die durchaus begründete Angst vor sexuellen Übergriffen gegen ihre Kinder schlägt in einen hysterischen Massenwahn um. Dem fällt nicht nur Lucas zum Opfer, sondern auch Klara, die sich das irritierende Verhalten der Eltern und anderer Erwachsener nicht erklären kann.

Die in diesem Mikrokosmos ablaufenden Mechanismen stellt Thomas Vinterberg in „Die Jagd“ differenziert, nachvollziehbar und überzeugend dar. Dabei kommt es ihm nicht auf Schuldzuweisungen an, sondern auf die gruppendynamische bzw. sozialpsychologische Entwicklung. Gerade weil die Abläufe realistisch wirken, kann man sich dem Sog dieses beklemmenden Dramas kaum entziehen, und nach dem letzten Bild – mit dem die tragischen Vorgänge keineswegs enden – bleibt man erschüttert zurück.

In dem linear-chronologischen Handlungsverlauf sind Höhen und Tiefen, Tempowechsel und Steigerungen dramaturgisch geschickt verteilt. Thomas Vinterberg inszeniert das Geschehen ohne Effekthascherei und formale Spielereien in sepiastichigen Bildern. Glaubwürdig wirkt die Darstellung nicht zuletzt aufgrund der herausragenden schauspielerischen Leistungen vor allem von Mads Mikkelsen, Annika Wedderkopp und Thomas Bo Larsen.

Dänemark wählte „Die Jagd“ im September 2013 für die Bewerbung um den „Auslands-Oscar“ des Jahres 2014 aus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Kindesmissbrauch

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.