Regina Scheer : Machandel

Machandel
Machandel Originalausgabe: Albrecht Knaus Verlag, München 2014 ISBN 978-3-8135-0640-2, 477 Seiten Penguin Verlag, München 2017 ISBN 978-3-328-10024-9, 477 Seiten ISBN 978-3-641-14315-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein kunstvoll geknüpftes Gewebe von mit großer Empathie farbig dargestellten Einzelschicksalen veranschaulicht Entwicklungslinien der Zeitgeschichte von den 30er- bis zu den 90er-Jahren, vom NS- bis zum DDR-Regime, vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung. Die einzelnen Handlungsfäden verknüpfen sich in dem (fiktiven) Dorf Machandel bei Güstrow.
mehr erfahren

Kritik

Regina Scheer hat mit ihrem großen Roman "Machandel" eine fünfstimmige poetische Komposition geschaffen. Abwechselnd treten fünf Figuren auf, die mitreißend und eindrucksvoll nicht nur von ihren eigenen, sondern auch von anderen Schicksalen erzählen. Trotz der Komplexität lässt sich "Machandel" leicht lesen. Das ist Literatur auf hohem Niveau.
mehr erfahren

Natalja, Lena und Grigori

Als die verwitwete Baronin, die das Gut Machandel bei Güstrow bewirtschaftet und im „Schloss“ genannten Gutshaus wohnt, 1941 eine zusätzliche Hilfe für den Haushalt sucht, fährt sie mit ihrem Verwalter nach Schwerin, um unter den angebotenen Zwangsarbeiterinnen eine auszusuchen. Ihre Wahl fällt auf die 16-jährige, von Smolensk nach Deutschland verschleppte weißrussische Waise Natalja.

Drei Jahre später verliebt sich Natalja in den sieben Jahre älteren ukrainischen Kriegsgefangenen Grigori Lasarow aus Charkow, der seit März 1944 im STALAG Fünfeichen bei Neubrandenburg untergebracht ist und zur Landarbeit nach Machandel gebracht wird. Offiziere der Roten Armee, die ihre Gefangennahme nicht durch Suizid verhinderten, werden bei Kriegsende von ihren eigenen Leuten nicht befreit, sondern erschossen oder in sowjetische Arbeitslager gesperrt. Als Grigori im Juli 1945 zwar aus dem deutschen Lager entkommt, aber gleich darauf von seinen ehemaligen Kameraden aufgegriffen wird, ist Natalja schwanger.

Im Januar 1946 bringt sie Lena zur Welt. Statt sich zur Repatriierung bei der Besatzungsmacht zu melden, bleibt Natalja mit ihrer Tochter in Machandel und wohnt weiterhin im Gutshaus, aus dem die Baronin vor dem Anrücken der Roten Armee nach Süddeutschland geflohen ist.

Lena lernt zwar sowohl deutsch als auch russisch, spricht jedoch kaum ein Wort und wird deshalb in Machandel als „die Stumme“ bezeichnet. Nachdem sie Bibliothekarin geworden ist, fährt sie mit einem Bücherbus übers Land.

Natalja stirbt 1994 in Machandel. Daraufhin zieht Lena nach Berlin, wo inzwischen auch ihr Vater mit seiner Familie lebt. Grigori kam in den Fünfzigerjahren frei. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR siedelt er sich in Nataljas Todesjahr mit seiner aus Moldawien stammenden jüdischen Ehefrau Lara, dem 1956 geborenen Sohn Mark, der Schwiegertochter Polina und dem 12-jährigen Enkel Maxim in Berlin an.

Lena kümmert sich um ihn. Sie, der Historiker Herbert Ahrens, mit dem sie schließlich zusammenlebt, und die Angehörigen des Vaters bilden eine Art Großfamilie, die sich auch häufig in Machandel aufhält.

Marlene

Marlene wird 1926 in Machandel als erstes von acht Kindern des Gutsarbeiters Paul Peters und dessen Ehefrau geboren. Die Mutter stirbt 1940 bei der Geburt der Tochter Gisela. Weil Paul Peters im Krieg ist, muss Marlene sich um ihre sieben Geschwister kümmern: Heinz, Marianne, Helga, Christine, Klaus, Günter und Gisela. Sie wohnen in einer Kate in Machandel, die früher ein Schafstall war. Manchmal bringt ihnen Natalja etwa zu essen aus dem Gutshaus, und die beiden fast gleichaltrigen Mädchen freunden sich an.

Natalja entgeht nicht, dass Wilhelm Stüwe nachts an ein Fenster der Kate klopft, bis Marlene ihn einlässt. Der mit seiner Ehefrau Auguste in Machandel wohnende frühere Stallbursche des Guts gehört seit einiger Zeit zu den Aufsehern im STALAG Fünfeichen. Marlene vertraut ihrer Freundin an, dass sie sich vor Wilhelm Stüwe fürchtet und sich notgedrungen mit ihm einlässt, weil er damit gedroht hat, sie in eine Besserungsanstalt und ihre Geschwister ins Waisenhaus zu bringen. Die 17-Jährige ist besorgt, dass sie schwanger werden könnte.

Weil Wilhelm Stüwe das auch für möglich hält, sorgt er 1943 mit einem Brief an die Erbgesundheitsbehörde dafür, dass Marlene als angebliche Geisteskranke abgeholt und in die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim bei Rostock eingeliefert wird. Bei der Sterilisation kommt es zu Komplikationen, und Marlene leidet fortan unter Schmerzen. Im Herbst 1944 stirbt sie in der Schweriner Nervenheilanstalt auf dem Sachsenberg. Möglicherweise wurde sie mit einer Überdosis Schlafmittel ermordet.

Die Stationsschwester Elisabeth Köhler, die für Marlene zuständig war, gibt im August 1946 vor Gericht zu, etwa 30 Kinder auf Anordnung des Psychiaters Dr. Alfred Leu vergiftet zu haben. Sie wird zum Tod verurteilt und später zu einer Zuchthausstrafe begnadigt. Ihr Vorgesetzter kommt erst 1951 vor Gericht – und wird freigesprochen.

Emma

Nachdem Emma, die 33-jährige Witwe des Hamburger Schiffsarztes Walter Bekenkamp, im Sommer 1943 die Bombenangriffe auf die Hansestadt überlebt hat, zieht sie nach Machandel. Dort kümmert sie sich um Marlenes verwaiste Geschwister in der Kate und lässt sich als Betreuerin eintragen.

Bis zur Flucht der Baronin arbeitet sie zugleich als Haushälterin im Schloss – und freundet sich mit Natalja an.

Emma bleibt in Machandel, auch als Paul Peters 1947 aus britischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt. Sie wird schwanger, heiratet Paul Peters und bringt 1948 einen Sohn zur Welt.

Waltraut, Arthur

Die Witwe Walentina („Walja“, „Waltraut“) flieht Anfang 1945 mit ihrer 17-jährigen Tochter Johanna aus der Umgebung von Königsberg und strandet nach dem Krieg auf dem inzwischen mit 200 Flüchtlingen überfüllten ehemaligen Gut Machandel.

Dorthin verschlägt es im Spätherbst auch den 39-jährigen Geigenbogenbauer Arthur aus Königsberg, der zuletzt noch einige Monate im polnischen Lager Lambinowice eingesperrt war. In Machandel wird er der Lebensgefährte der vier oder fünf Jahre älteren Waltraut.

Er richtet schließlich in Machandel eine Geigenbogen-Werkstatt ein, zu der bald Kunden aus aller Welt kommen.

Nach Waltrauts Tod im Jahr 1960 zieht Arthur ins Vogtland. Dort stirbt er Anfang der Neunzigerjahre.

Johanna, Hans

Der Berliner Werkzeugmacher Hans Langner zieht Anfang 1927 – noch vor seinem 18. Geburtstag – zu der vier Jahre älteren Hertie-Verkäuferin Else, seiner großen Liebe.

1935 werden die beiden von der Gestapo festgenommen. Hans verschwieg Else zwar, dass er zu den Kommunisten im Untergrund gehörte und einen Sonderauftrag ausführte („meine Vorgesetzten in den 30er-Jahren saßen in Moskau, die Kuriere gingen über Prag und Paris“), aber sie ahnte es wohl und verteilte aus eigenem Antrieb verbotene Flugblätter. Im Prinz-Albrecht-Palais prügelt man aus ihr heraus, was sie weiß, bis sie sich in ihrer Zelle erhängt.

Hans wird wegen Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe verurteilt und nach deren Verbüßung zunächst im KZ Neuengamme, dann im KZ Sachsenhausen eingesperrt.

Als sich die Rote Armee nähert, treibt die SS die KZ-Häftlinge am 19. April 1945 auf einen später so genannten Todesmarsch. Dabei entkommt Hans Langner mit den beiden Tschechen Karel Hunzek und Otto Svobod. Er erkrankt schwer, aber Karel und Otto lassen ihn nicht im Stich. Die Zwangsarbeiterinnen Anna und Dunja helfen ihnen, bis Natalja sie am 28. April auf einem mit Mehlsäcken beladenen Fuhrwerk zum Gutshof Machandel bringt. Während sie Hans im Eiskeller versteckt, bis die Baronin fort ist, wollen sich Karel und Otto nach Berlin durchschlagen.

Die 17-jährige Johanna pflegt den Schwerkranken im Bett der nach Süddeutschland geflohenen Gutsbesitzerin gesund.

Nach dem Krieg engagiert sich Hans erneut politisch. Seinen Rat suchen nicht zuletzt Bernhard Quandt, der neue Landrat aus Güstrow, und der sowjetische Kommandant Semjon Baranowitsch. Hans wird Leiter des Ernährungsamtes in Güstrow und hilft im Herbst 1945 bei der Durchführung der Bodenreform.

Wer schon Land besaß, durfte zehn Hektar behalten, doch so viel hatte hier kaum jemand. Auch die Felder und Wiesen der Familie der Baronin wurden verlost und auf siebzig Neubauernstellen verteilt, die meisten Neubauern waren Flüchtlinge.

Hans und Johanna werden ein Paar und heiraten. Johanna ist erst 18 Jahre alt, als sie in Machandel den Sohn Jan zur Welt bringt.

Ich habe ihr erzählt, dass wir ein neues Deutschland aufbauen werden, ohne Nazis, ohne Konzentrationslager, ohne Gutsherren und für immer ohne deutsche Soldaten. Dass sie studieren könnte in diesem neuen Deutschland, habe ich ihr versprochen. Was wir Kommunisten wollen, habe ich ihr erklärt, und es hat ihr eingeleuchtet.

1947 folgt sie Hans nach Berlin und lässt Jan bei seiner Großmutter Waltraut und deren Lebensgefährten Arthur in Machandel zurück. Der Junge wächst zusammen mit Lena, der gleichaltrigen Tochter der ehemaligen Zwangsarbeiterin Natalja, im Schloss auf.

Während Johanna in Berlin das Abitur macht, studiert und an der an der Parteihochschule promoviert, steigt Hans in der Nomenklatura auf. 1950 wird er Minister für Arbeit.

1953 verliert Hans das Ministeramt, weil sich herausstellt, dass er Karel Hunzek kannte, einen der tschechischen Kommunisten, die in einem Schauprozess (Slánský-Prozess, Prag 1952) wegen angeblicher Verschwörung zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden. Aber Hans übersteht die Parteisäuberungen in der Tuberkuloseheilstätte Sülzhayn.

Hans und Johanna lassen ihren inzwischen sieben Jahre alten Sohn von Arthur nach Berlin bringen.

Der Geigenbogenbauer hat ihn gebracht, dieser verschrobene Kerl. Ich habe gewollt, dass der Junge bei uns in Berlin lebt, eine richtige Familie wollte ich endlich. Und Johanna wollte nicht, dass Jan zur Dorfschule geht und bei dieser unpolitischen Großmutter und ihrem Arthur lebt. Da hockte sie nun erst einmal allein mit dem Kind in der Villa am Heinrich-Mann-Platz.

Hans wird 1957 Vorstandsmitglied im Verband der Konsumgenossenschaften, gehört später dem Antifa-Komitee an und wird Mitglied der Volkskammer.

1960 bringt Johanna die Tochter Clara zur Welt.

Hans, der schon immer viel geschwiegen hat, hängt nach dem Zusammenbruch der DDR fast nur noch seinen Erinnerungen nach. Als seine Frau 1994 stirbt, denkt er:

Johanna war auch hell am Anfang. Und am Schluss war sie ein Wrack, verloren, verwirrt. Eine Alkoholikerin. Ich hätte sie nicht zu mir holen sollen. Doch sie wollte raus aus diesem Dorf Machandel, in dem sie nicht zu Hause war.

Jan

Jan Langner wird im Januar 1946 auf dem ehemaligen Gutshof Machandel geboren und wächst dort bei seiner Großmutter Waltraut und ihrem Lebensgefährten Arthur mit der gleichaltrigen Lena wie mit einer Schwester auf. Erst 1953 lassen ihn die in Berlin lebenden Eltern nachkommen.

Als er elf Jahre alt ist, schicken ihn Hans und Johanna Langner auf die Kadettenschule der NVA in Naumburg. Die Schule war 1900 als preußische Kadettenanstalt entstanden und auch von den Nationalsozialisten als Kaderschmiede (NAPOLA) genutzt worden. Jan freundet sich mit seinem Mitschüler Herbert Ahrens an. Nach der Auflösung der Eliteanstalt im Sommer 1960 beginnt er ein Studium an der Humboldt-Universität.

1968 fotografiert er Straßenszenen in Prag, dokumentiert zunächst die als „Prager Frühling“ bezeichnete Liberalisierung, dann den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Auf der Rückfahrt Anfang September wird er wegen staatsfeindlicher Umtriebe zwischen Dresden und Berlin im Zug festgenommen. Die Eltern erfahren es erst zwei Wochen später. Jan kommt zwar nach ein paar Monaten wieder frei, darf jedoch nicht weiter studieren und muss zur Bewährung in einem Glühlampenwerk arbeiten.

Bevor er die DDR im Sommer 1985 verlässt, fährt er ein letztes Mal nach Machandel. Seine 14 Jahre jüngere Schwester Clara begleitet ihn. Er zeigt ihr zum Abschied das Paradies seiner Kindheit. Für Clara ist es der erste Besuch in Machandel.

Jans Spur verliert sich schließlich in Brasilien, wo er sich für die Befreiungstheologie und die 1990 von Arthur gegründete Vereinigung von Bogenmachern und Geigenbauern (International Pernambuco Conservation Initiative) engagierte. Die Fotografien, die Herbert in den Neunzigerjahren in Brasilien von ihm entdeckt, sind mit „Machandel“ gezeichnet. Herbert findet auch heraus, dass Jan ihm Briefe schickte, die allerdings von der Stasi abgefangen wurden.

Herbert

Herbert Ahrens kommt 1944 in Breslau zur Welt. Sein Vater fällt im Monat seiner Geburt, und seine Mutter flüchtet mit dem Kind nach Ilmenau. Nach dem Besuch der Kadettenschule der NVA in Naumburg – wo er sich mit Jan Langner anfreundet – studiert Herbert Geschichtswissenschaft.

Weil er und seine Frau Maria als Oppositionelle gelten, verliert Herbert 1978 seine Anstellung an der Akademie der Wissenschaften. Er wird Hausmeister in einem kirchlichen Kinderheim. In den Achtzigerjahren gehört er zu den Gründern der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Anders als Jan möchte Herbert in der DDR bleiben und die sich anbahnenden Umwälzungen mitgestalten. Aber 1988 werden Herbert und Maria festgenommen und dazu gedrängt, die DDR nach drei Wochen Haft zu verlassen. Dass sie ihre elf bzw. drei Jahre alten Söhne Paul und Benjamin mitnehmen können, verdanken sie Jans Schwester Clara, denn die holte sie aus dem Heim, in das die Kinder nach der Verhaftung ihrer Eltern gebracht worden waren.

Ein Jahr später verlässt Maria ihren Mann und zieht zu ihrem neuen Lebensgefährten Carlos nach Spanien. Herbert lebt von 1988 an zunächst in Cambridge, dann in Lissabon. 1994 kehrt er nach Berlin zurück und wird Historiker an einem Forschungsinstitut.

Als Lena 1994 nach dem Tod ihrer Mutter Natalja von Machandel nach Berlin zieht, wird sie Herberts neue Lebensgefährtin.

Clara, Michael

Clara wird am 19. August 1960 in Pankow als Tochter von Hans und Johanna Langner geboren.

Sie heiratet den etwa fünf Jahre älteren, in einem Ostberliner Heizkraftwerk arbeitenden Ingenieur Michael. Die Töchter Julia und Caroline werden 1979 bzw. 1985 geboren.

In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahren beschäftigt sich Clara im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Humboldt-Universität mit niederdeutschen Sagen. Dabei stößt sie auf das Märchen vom „Machandelbaum“, von denen es unterschiedliche Versionen gibt. Bei den Brüdern Grimm geht es um ein Mädchen namens Marleenken, dessen Mutter den Stiefsohn hasst und ihn schließlich ermordet. Weinend birgt Marleenken die Knochen ihres Halbbruders und legt sie unter einen Machandelbaum. Daraufhin kehrt der Bruder als Vogel wieder und zwitschert in einem Lied die Wahrheit über seinen Tod, bis er wieder menschliche Gestalt annehmen kann.

In einem kurdischen Märchen ist der Vogel ein Uhu, anderswo ein Kuckuck. Der Baum ist manchmal eine Birke, bei den Osttscheremissen eine hohle Eiche. Aber immer geht es darum, dass ein liebender Mensch die Knochen einsammelt, die Erinnerung bewahrt und so der Vogel auferstehen und mit einem Lied von dem Mord berichten kann. Erst danach kann der Ermordete wieder in seiner lebendigen Gestalt erscheinen.

Im Sommer 1985 begleiten Clara und ihre Familie ihren 1946 in Machandel geborenen Bruder Jan bei seinem letzten kurzen Besuch seines Geburtsortes. In Machandel beschließen Clara und Michael, eine Kate bzw. einen verfallenen Schafstall als Sommerhaus zu mieten. (Es ist die Kate, in der Marlene Peters mit ihren Geschwistern aufwuchs.) Mit Hilfe von Freunden aus einem Friedenskreis renovieren Clara und Michael das eineinhalb Jahrhunderte alte Gebäude, dessen Ziegel aus einem noch älteren stammen.

Anfang August zieht Clara erstmals mit den Kindern für einen Monat nach Machandel. Sie liebt es, sich vom real existierenden Sozialismus in Ostberlin nach Machandel zurückzuziehen und dort an ihrer Dissertation zu arbeiten. Der Ort, den sie mit einem freiem Leben jenseits staatlicher Bevormundung und Kontrolle assoziiert, ermöglicht ihr eine innere Reise in die Vergangenheit, nicht nur ihrer Familie, sondern auch der DDR.

Der Bürgermeister Uwe Schaumack rät Clara und Michael schließlich, die Kate zu kaufen, bevor das aufgrund von neuen Bestimmungen nicht mehr möglich sein wird und man ihnen den Mietvertrag für das Sommerhaus kündigen müsste. Der Stasi missfällt es nämlich, dass immer mehr Großstädter wochenlang ohne Telefonanschluss auf dem Land leben und dort schwer zu überwachen sind. Für 4000 Mark werden Clara und Michael Eigentümer der Kate in Machandel.

Am 8. Oktober 1989 gehört Michael zu den Demonstranten, die von Volkspolizisten vor der Gethsemanekirche auf Lastwagen gezerrt wurden. Als Mitbegründer der Bewegung Demokratischer Aufbruch ist er kaum noch zu Hause.

Abends ließen wir die Kinder oft allein, gingen in unsere Versammlungen und Beratungen, fast nie zusammen. Für eine kurze Zeit, ein paar Wochen, die mir im Nachhinein wie Jahre vorkommen, war alles in Bewegung, schien alles möglich. […]
So wie es war, konnte es nicht bleiben, darin waren sich alle einig, aber die Vorstellungen von dem, was werden sollte, waren sehr verschieden.

In diesem Herbst 89 hatten wir kaum Zeit, nach Machandel zu fahren, die Ereignisse überschlugen sich, waren wir die, die sie vorantrieben, oder waren wir Getriebene?

Am 9. November 1989 abends fällt Clara in Ostberlin auf, dass massenhaft Menschen nach Westen unterwegs sind. Es kursieren Gerüchte, die Grenze sei offen, aber Clara kann das nicht glauben. Zu Hause schaltet sie das Fernsehgerät ein – und sieht, wie DDR-Bürger in Wedding Sektflaschen hochhalten und überwältigt „Wahnsinn“ rufen. Ihre Freundin Ruth meint leise:

Das ist es, das ist, was sie sich gegen uns ausgedacht haben, Schabowski, Krenz. Sie haben das Ventil geöffnet, damit der Druck sie nicht fortreißt. Jetzt werden die Leute den Westen wollen und keine andere DDR.

Im Frühjahr 1990 promoviert Clara an der Humboldt-Universität.

Fast zur gleichen Zeit – im April 1990 – beschließen die drei großen westdeutschen Energiekonzerne, die ostdeutschen Energiebetriebe unter sich aufzuteilen. Dazu gehört auch das Heizkraftwerk, in dem Michael beschäftigt ist. Am 22. August, dem Tag, an dem die Eigentumsverhältnisse neu geregelt werden, kommt er betrunken nach Hause. Wie befürchtet, wird seine Abteilung aufgelöst.

Durch die Vermittlung eines Bekannten erhält er einen befristeten Vertrag bei einem Energieunternehmen in der Schweiz. Weil Clara ihre Eltern nicht allein lassen möchte, bleibt sie mit den Kindern in Berlin.

Der westdeutsche Professor, der die Leitung des Universitätsinstituts übernimmt, in dem Clara angestellt ist, möchte einen Assistenten aus Heidelberg mitbringen und macht deshalb Clara das Leben schwer, bis sie von sich ihre Stelle aufgibt.

1994 stirbt Claras Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten. Es bleibt offen, ob sie sich bewusst das Leben nahm oder im Alkoholrausch nicht mehr wusste, was sie tat.

Kurz vor der Wiedervereinigung inspizierten zwar bereits zwei Herren im Auftrag der Erbengemeinschaft der Baronin das ehemalige Gut Machandel, aber das fällt unter die Bestimmungen der Bodenreform, und die Treuhand verkauft es einem Investor.

Während das Schloss zum Hotel umgebaut, ein Golfplatz angelegt und die Zufahrt asphaltiert wird, ziehen junge Familien nach Machandel.

Durch ihre Freundin Ruth lernt Clara den Archäologen Andreas kennen, der zu der Arbeitsgruppe gehört, die 27 000 Gesteinsbrocken ordnet, die seit Jahrzehnten im Keller des Pergamonmuseums lagern. Er wirbt sie als Protokollantin an. Carla assoziiert die Arbeit des Teams mit dem Märchen vom Machandelbaum, in dem Marleenken die Knochen des Bruders zusammenträgt.

Michael findet in der Schweiz eine neue Lebensgefährtin und wird noch einmal Vater. Er und Clara lassen sich scheiden.

Bei einer Wanderung von Machandel nach Klabow entdeckt Clara in der Kirche dort einen restaurierten Engel.

Der abblätternde Goldanstrich wurde entfernt, nun sieht der Engel wieder aus, wie er vor zweihundert Jahren ausgesehen haben mag, ein dickes, rotbäckiges Bauernkind, vergnügt auf den ersten Blick, aber dann sieht man die aufgerissenen Augen, den wie zum Schrei geöffneten kleinen Mund und fragt sich: Was hat der Engel gesehen? Was ist ihm geschehen?

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Machandel“, der fulminante Debütroman der Historikerin und Publizistin Regina Scheer, die 1968 bis 1973 Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin studierte, ist nicht nur ein Dorf-, Wende- und Familienroman, sondern zugleich ein eindrucksvoller Gang durch die Zeitgeschichte von den Dreißiger- bis zu den Neunzigerjahren, vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung. Auf die Diktaturen Hitlers und Stalins folgt die DDR, von der viele zunächst eine ebenso friedliche wie gerechte Gesellschaft erwarten. Aber die Staatsführung erweist sich als repressiv. Ende der Achtzigerjahre keimt in der Bevölkerung erneut Hoffnung, und es entsteht die Utopie von einer vom Volk aufgebauten sozialistischen Gesellschaft. Nichts davon erfüllt sich. Der kläglich gescheiterte Staat geht in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Im Vorsatz des Romans „Machandel“ heißt es: „Alles ist wahr, aber so war es nicht.“ Die Handlung ist fiktiv, aber die ergreifenden, mit großer Empathie farbig dargestellten Einzelschicksale veranschaulichen Entwicklungslinien der Zeitgeschichte.

Die Handlungsfäden verknüpfen sich in dem fiktiven Dorf Machandel bei Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern. Benannt ist es nach dem Machandelbaum. So nennt man im Niederdeutschen den Wacholder.

Sogar der Machandelstrauch, nach dem das Dorf benannt ist, hatte viele Namen. Sie nannten ihn Wacholder oder Knirkbusch, Kranewitter oder Quickholder. Auch Reckholder oder Wachandel habe ich gehört, Weckhalter oder Kronabit, der alte Pfarrer nannte ihn Jochandel.

Regina Scheer hat „Machandel“ in 25 Kapitel gegliedert, in denen abwechselnd fünf der Romanfiguren als Ich-Erzähler zu Wort kommen: viermal Natalja, je dreimal Hans und Herbert, zweimal Emma und 13-mal Clara. In diesem poetisch komponierten Stimmenkonzert ergänzen und widersprechen sich die Blickwinkel. Hin und wieder baut Regina Scheer Echo-Effekte durch Wiederholungen kleiner Szenen aus verschiedenen Perspektiven ein.

In Clara, der am häufigsten auftretenden Erzählerin in „Machandel“, lässt sich das Alter Ego der (zehn Jahre älteren) Autorin Regina Scheer vermuten. Wie Marlene im Märchen vom Machandelbaum die Knochen ihres ermordeten Halbbruders zusammenträgt und ihn dadurch wieder zum Leben erweckt, sammelt Clara einige mit dem Dorf Machandel verknüpfte Lebensgeschichten. Sie versucht, die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren und hofft, dass dadurch neues Leben möglich wird.

Trotz der Komplexität lässt sich der mitreißende, eindrucksvolle Roman „Machandel“ von Regina Scheer leicht lesen und verstehen. Und wer möchte, kann zur Orientierung das Personenverzeichnis am Ende des Buches nutzen. „Machandel“, das ist Literatur auf hohem Niveau, sowohl inhaltlich als auch formal. Gleich mit ihrem Debütroman erweist sich Regina Scheer als große Schriftstellerin.

Veranschaulichung der Beziehungen

Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Albrecht Knaus Verlag

Amos Oz - Plötzlich tief im Wald
"Plötzlich tief im Wald" ist ein Märchen für Kinder und Erwachsene. In poetischer Form plädiert Amos Oz dafür, Neid und Schadenfreude zu überwinden und Außenseiter in die Gemeinschaft zurückzuholen.
Plötzlich tief im Wald