Alex Capus : Das Leben ist gut
Inhaltsangabe
Kritik
Trennung
Max und Tina sind seit 25 Jahren verheiratet und leben mit ihren drei noch zur Schule gehenden Söhnen – der Jüngste ist 13 – an Max‘ Geburtsort, einer Kleinstadt in der Schweiz. Er ist 57, sie zehn Jahre jünger.
Ich bin hier aufgewachsen, kenne jeden im Städtchen und fühle mich in dessen engen Gassen wohl wie ein Eber im Schweinekoben. Sie hingegen lebt erst halb so lang hier. Als junges Mädchen ist sie der Liebe wegen im Ort hängengeblieben. Wegen mir.
Weil Tina das Angebot einer einjährigen Gastprofessur für internationales Strafrecht an der Sorbonne nicht ausschlagen mag und nur übers Wochenende aus Paris zurückkommen wird, steht Max eine Zeit bevor, in der er meistens mit den Söhnen allein ist. Klaglos richtet er sich darauf ein, denn Tinas Entscheidung hält er für verständlich.
Ich bin ein umgekehrter Odysseus. Ich bleibe zu Hause, während meine Penelope in die Welt hinauszieht.
Altglas
Er ist Schriftsteller, hat aber schon länger nichts veröffentlicht. Statt zu schreiben, fährt er jeden Morgen mit dem Rad zur „Sevilla Bar“, die er vor drei Jahren gekauft hat. Als Erstes bringt er das Altglas weg. Auf dem Weg zur Sammelstelle kommt er mit seinem Handkarren an einer Baustelle vorbei: Bagger reißen ein Kaufhaus aus den Sechzigerjahren ab. Das benachbarte Einkaufszentrum mit Parkhaus, von dem es in den Achtzigerjahren in den Ruin getrieben wurde, ist auch bereits geschlossen, denn die Kunden bevorzugen inzwischen die in den Hallen einer nach Polen verlagerten Gießerei eingerichtete Shopping Mall mit Open-Air-Parkplatz.
Max gibt sich Mühe, die Flaschen richtig einzusortieren. Sein mit ihm befreundeter Stammgast Vincenzo hält das für falsch, denn er ist überzeugt, dass die Schächte für braunes, grünes und farbloses Glas allesamt in einen großen Container münden. Vincenzo glaubt, es handele sich um eine Schikane, mit der die Regierung die Bürger zu Wohlverhalten konditionieren wolle.
Wenn ich Vincenzo dann zu bedenken gebe, dass erstens nach meinem Wissensstand das Glas-Recycling nicht staatlich, sondern privatwirtschaftlich organisiert ist, und dass zweitens jedermann jeden Donnerstag beobachten kann, wie ein Kranlastwagen vier kleine Container aus dem Boden hebt – jawohl, vier kleine und nicht einen großen –, so winkt er ab und nennt mich ein Schaf. Eine leichtgläubige Sklavennatur. Einen obrigkeitshörigen Untertan. Ein gut dressiertes Zirkusvieh.
Die Geschichte der Sevilla Bar
Die Sevilla Bar befindet sich in einem niedrigen Gebäude inmitten einer ansonsten lückenlosen Reihe gläserner Hochhäuser.
Sie ist eines der ältesten Bauwerke im Bahnhofsviertel, ein Zeugnis längst vergangener Zeiten, da die Menschen ihre Plattenspieler noch von Hand aufzogen und jung an Blinddarm starben.
Das Bauwerk sollte eigentlich ein Wolkenkratzer werden. Am 3. März 1925 reichte der Malermeister Jules Weber ein entsprechendes Baugesuch ein. Im Gemüsegarten seines Elternhauses sollte das Gebäude hochgezogen werden. Aber als sich herausstellte, dass er nicht genügend Geld aufbringen konnte, brach die Baufirma die Arbeiten ab. Am 23. Juni 1925 beantragte Jules Weber, seine Bauruine mit einem behelfsmäßigen Ziegeldach vor der Witterung schützen zu dürfen. Die Weltwirtschaftskrise beendete das ursprüngliche Hochhaus-Projekt endgültig, und Jules Weber musste die Immobilie mit dem bescheidenen Elternhaus und der Bauruine der Gemeinde überlassen, die ihm allerdings ein lebenslanges Wohn- und Nutzungsrecht einräumte. Davon machte er bis 1968 Gebrauch. Dann fiel er von einer Leiter und wurde von einem schmiedeeisernen Vorgartenzaun aufgespießt.
In dem frei gewordenen Wohnhaus brachte man spanische Wanderarbeiter unter.
Bis zu fünfundzwanzig Männer teilten sich die sechs kleinen Zimmer und ließen sich von der Bürgergemeinde verbrecherisch hohe Mieten abknöpfen.
Die Bauruine wurde den spanischen Arbeitern als Vereinslokal überlassen. Um 2000 gingen die spanischen Gastarbeiter nach und nach in Rente und kehrten in die Heimat zurück. Das bereits vergilbte Schild „zu verkaufen“ fiel Max bei einem Morgenspaziergang auf. Er war 50 Jahre alt, hatte im Jahr zuvor mit einem dicken Roman viel Geld verdient – und kaufte die Sevilla Bar.
Toro
Viele seiner Gäste kennt Max von klein auf. Sie sind alle über 50 und sind alle in der Kleinstadt geblieben oder nach einem Studiensemester im Ausland wieder zurückgekommen.
Einer von ihnen ist Miguel Fernando Morales Dellavilla Miguelanez. Der brachte ihm zur Wiedereröffnung der Sevilla Bar einen Stierkopf als Dauerleihgabe.
Der Toro heißt „Cubanito No. 30“, so steht es auf dem Messingschild unter seinem Hals. Darunter ist sein Wettkampfgewicht von fünfhundertachtundzwanzig Kilogramm vermerkt, das er am 3. Juli 1994 auf die Waage brachte, als er in der Arena Monumental von Barcelona zum ersten und einzigen Kampf seines Lebens antrat. Sein Todfeind hieß El Litri.
Nun will Miguel den Toro verkaufen, denn er benötigt dringend Geld. Er erwarb ein Haus, weil es seine beiden Töchter einmal besser haben sollen und seine Frau es schon einmal besser hatte. Carola Miguelanez, geborene Mauerhofer, wuchs als Tochter eines Schweizer Rechtsanwalts und einer Yogalehrerin auf und hat einen Studienabschluss in St. Gallen. Der Schwiegervater steuerte zum Hauskauf einen kleinen Kredit bei, aber für die erforderliche Renovierung fehlt das Geld. Max erklärt sich bereit, den Toro zu übernehmen, aber Miguel winkt ab:
„Leider muss ich den Toro möglichst teuer verkaufen. Zu einem Wucherpreis.“
Am nächsten Morgen transportiert Max den Toro mit dem Handkarren zu Miguels Adresse – und wird von Carola beschimpft.
„Es konnte dir gar nicht schnell genug gehen, nicht wahr? […] Du hast es gar nicht erwarten können, ist es nicht so? Gleich sofort musstest du das Ding herbringen, möglichst rasch, damit du wunderbar großartig dastehst und Miguel so richtig schlecht. Habe ich recht? Fühlst du dich jetzt gut? Ganz der Pfundskerl und initiative Macher, der sich in der Welt zu helfen weiß und sich von niemandem auf die Mütze scheißen lässt, nicht wahr? Gefällt dir das, andere Leute zu demütigen? Macht dich das glücklich, du mieser, selbstgerechter, kleiner Scheißkerl?“
Ersatz besorgt Max im Internet. Der von ihm ausgesuchte Stier hieß Malagueno und starb am 10. August 2012 in Vic-Fezensac am Fuß der Pyrenäen. Erst nachdem Max den Betrag überwiesen hat, liest er, dass das südfranzösische Unternehmen zwar in alle europäischen Gegenden liefert, aber nicht in die Schweiz, und am Telefon heißt es:
„Wir liefern seit Jahren nicht mehr in die Schweiz, tut mir leid. Der Schweizer Zoll, Sie müssen verstehen. Der ist schlimmer als Nordkorea.“
Man einigt sich darauf, den Toro mit zwei anderen zur Rheinpfalz Transport GmbH in Mannheim zu bringen, und von dort kann Miguel ihn dann abholen.
Tom Stark
Max‘ ehemaliger Chemielehrer Toni Kuster gehört zu den Stammgästen der Sevilla Bar. Er stellt ihm seinen Freund Tom Stark vor, der aus Florida zu Besuch gekommen ist.
Thomas Madison Stark wurde am 23. Mai 1941 in Fort Myers geboren und wuchs in den Mangrovensümpfen Floridas auf. Nachdem er von 1960 bis 1969 in Vietnam gekämpft hatte, zog er nach San Francisco und schloss sich einer Hippie-Kommune an. Wegen eines Drogendelikts verbüßte er 1971 eine dreimonatige Haftstrafe. 1978 trennte er sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin, einer japanischen Diplomatentochter, kehrte nach Everglades City zurück und übernahm die Metallwarenhandlung der Eltern. 1983 war er in einen Drogenschmuggel-Skandal verwickelt, entging jedoch aus Mangel an Beweisen einer Anklage. Vier Jahre später ermittelte man erneut gegen ihn, weil die hohen Umsatzzahlen der Metallwarenhandlung nicht zu den bescheidenen Einkäufen passten. Am 11. Mai 1987 brannte der Laden nieder, und dabei ging auch die Buchhaltung in Flammen auf. Tom Stark heiratete Im Jahr darauf Evelyn Sanders, eine Grundschullehrerin in Everglades City, deren Familie ebenfalls seit über hundert Jahren dort ansässig war. Das Paar bekam zwei Töchter, die noch als Kinder an einer Erbkrankheit starben. Am 1. September 2011 wurde Toms 93-jährige Mutter Margaret im überschwemmten Garten von einem Alligator angefallen, und die Ärzte mussten ihr den linken Unterschenkel amputieren.
Max freundet sich mit Tom an und malt sich aus, wie es wäre, wenn er ihn in Florida besuchen würde.
Angebot
Das Telefon in der Sevilla Bar klingelt. Es ist Pippo Pedrina, ein früherer Mitschüler. Der kann es kaum fassen, dass Max kein Handy hat. Er will ihm ein Angebot für die „zwei Bruchbuden“ machen. Er habe sich mit ein paar Leuten zusammengetan, erklärt er, und mit ihnen zusammen Zug um Zug Immobilien in der Rosengasse erworben.
„Das ergibt einen ganz hübschen Baugrund, da lässt sich was machen. Nur dass deine zwei Häuschen mittendrin stehen, Max, ohne die geht nichts.“
Max hört Pippo zu, geht aber nicht auf das Angebot ein.
Winterjacke
In der Garderobe der Sevilla Bar hängt eine Winterjacke. Sie gehörte Stefan. Der war Mitte 40 und Techniker im Atomkraftwerk. Vor fünf Monaten und 28 Tagen verließ Stefan die Bar, ohne zu bezahlen und ohne seine Jacke mitzunehmen. Man fand ihn dann in seiner Wohnung. Er lag tot auf dem Sofa. Ein Blutgerinnsel im Gehirn.
Zeitraffer oder Standbild
In einem Telefongespräch mit Tina klagt Max darüber, dass seine Tage – abgesehen von der Trennung – immer gleich ablaufen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Weißt du, es ist doch im Großen und Ganzen immer dasselbe. In meinem Leben bleibt immer alles beim Alten.“
„Das könnte daran liegen, dass du es so willst.“
„Schon. Aber wenn ich dereinst auf dem Sterbebett liege und der Film meines Lebens im Zeitraffer abläuft, wird es ein Standbild sein.“
„Du bist deprimiert“, sagt Tina.“
Der Roman „Das Leben ist gut“ von Alex Capus dreht sich um einen Schriftsteller Mitte 50, der schon lange nichts mehr veröffentlicht hat, aber seit ein paar Jahren in einer Schweizer Kleinstadt eine Bar betreibt und es schätzt, wenn er dort Menschen um sich hat, die er von klein auf kennt, die also wie er selbst in der Gemeinde geblieben sind. Max hat kein Handy, und das Festnetztelefon auf der Theke ist so alt, dass noch kein Display verrät, wer anruft. Seine Bar kontrastiert mit der virtuellen Kommunikation in den sozialen Medien. Max ist seit 25 Jahren verheiratet, bodenständig und zufrieden mit seinem Dasein. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich ihm nicht.
Vieles in „Das Leben ist gut“ wie zum Beispiel eine Reise nach Florida malt sich der Ich-Erzähler Max nur aus: Fiktion in der Fiktion.
Nicht alles wirkt realistisch. So wird zum Beispiel kaum jemand ein seitenlanges Exzerpt von im Internet verfügbaren Informationen über eine Person (Tom Stark) mailen, sondern wohl eher die entsprechenden Links mitteilen.
Trotz des Titels „Das Leben ist gut“ kritisiert Alex Capus Fehlentwicklungen der Gesellschaft vor allem im Bereich Immobilienspekulationen, Bausünden und Gentrifizierung.
Alex Capus lässt seinen Protagonisten ruhig, im Plauderton und episodenhaft von seinem unspektakulären Alltag erzählen. Die Handlung – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen will – umfasst nur wenige Tage. „Das Leben ist gut“ kommt ohne Dramatik und Effekthascherei aus.
Unübersehbar sind die Übereinstimmungen zwischen dem Protagonisten Max und dem Autor, zumal Alex Capus in Olten im Kanton Solothurn eine Bar betreibt (Bar Galicia).
Den Roman „Das Leben ist gut“ von Alex Capus gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor (ISBN 978-3-8445-2399-7).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag
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