Hermann Hesse : Narziss und Goldmund
Inhaltsangabe
Kritik
Kloster Mariabronn
Am Eingang des mittelalterlichen Klosters Mariabronn steht das Geschenk eines Rompilgers vor langer Zeit: eine Edelkastanie. Im Kloster wird „gelebt, gelehrt, studiert, verwaltet, regiert“.
[…] für alles war Raum; es war Raum für Einsiedelei und Bußübung ebenso wie für Geselligkeit und Wohlleben; an der Person des jeweiligen Abtes und an der jeweils herrschenden Strömung der Zeit lag es, ob das eine oder das andere überwog und vorherrschte.
Zum Kloster gehört ein Internat, und unter den Schülern ist einer, der als Wunderknabe gilt: Narziss. Der erklärt dem Abt:
„Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, dass ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nach Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.“
Wegen seiner außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten darf Narziss die anderen Schüler schon bald als Lehrgehilfe unterrichten.
Narziss und Goldmund
Eines Tages bringt ein kaiserlicher Beamter seinen 15-jährigen Sohn ins Kloster. Goldmund soll auf Wunsch des Vaters sein weiteres Leben im Kloster Mariabronn verbringen, zunächst als Schüler, dann als Novize und schließlich als Mönch.
Als Goldmund von Mitschülern gehänselt wird, verprügelt er den stärksten Gegner. Pater Martin, der Schulvorsteher, ermahnt ihn deshalb, aber Goldmund hat sich mit seinem furchtlosen Verhalten auch Respekt verschafft.
In Goldmunds zweitem Jahr in Mariabronn fordert ihn ein anderer Schüler auf, nachts mit ihm und zwei anderen Jungen ins Dorf zu gehen. Goldmund empfindet es als Abenteuer, das Kloster verbotenerweise zu verlassen. Was dann geschieht, trifft ihn unvorbereitet: Sie werden in einem Haus von einer Magd und der Tochter eines Bauern empfangen. Goldmund hält sich zurück, aber zum Abschied küsst ihn die Jüngere und fordert ihn auf, zu ihr zurückzukommen.
Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuss eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden.
Verstört kehrt Goldmund mit den anderen ins Kloster zurück. Auf keinen Fall wird er noch einmal mit ins Dorf gehen. Er vertraut sich Narziss an, der nur wenige Jahre älter ist als er, ihm zuhört und dann meint:
„Du fühlst im Weib, im Geschlecht, den Inbegriff alles dessen, was du ‚Welt‘ und ‚Sünde‘ nennst.“
Die beiden jungen Männer werden enge Freunde, obwohl oder weil sie grundverschieden sind.
Wie Narziss ein Denker und Zergliederer, so schien Goldmund ein Träumer und eine kindliche Seele zu sein.
Narziss weist Goldmund auf ihre Gegensätzlichkeit hin:
„In der Tat: dir sind die Unterschiede nicht sehr wichtig, mir aber scheinen sie das einzig Wichtige zu sein. Ich bin meinem Wesen nach Gelehrter, meine Bestimmung ist die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist, um dein Wort zu zitieren, gar nichts anderes als eben das ‚Versessensein auf das Finden von Unterschieden‘. Man könnte ihr Wesen gar nicht besser bezeichnen. Für uns Wissenschaftsmenschen ist nichts wichtig als das Feststellen von Verschiedenheiten, Wissenschaft heißt Unterscheiden.“
„Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker.“
„Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.“
Narziss verhilft seinem inzwischen 18 Jahre alten Freund zu der Erkenntnis, dass er etwas verdrängt hat und davon umgetrieben wird.
„Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst.“
Goldmund wuchs als Einzelkind bei seinem Vater auf. An seine Mutter kann er sich nicht erinnern; sie verließ die Familie, als er noch klein war.
Eine Tänzerin war sie gewesen, ein schönes wildes Weib von vornehmer, aber unguter und heidnischer Herkunft; Goldmunds Vater hatte sie, so erzählte er, aus Armut und Schande aufgelesen; er hatte sie, da er nicht wusste, ob sie nicht Heidin sei, taufen und in der Religion unterweisen lassen; er hatte sie geheiratet und zu einer angesehenen Frau gemacht. Sie aber, nach einigen Jahren der Zahmheit und des geordneten Lebens, hatte sich ihrer alten Künste und Übungen wieder erinnert, hatte Ärgernis erregt und Männer verführt, war Tage und Wochen von zu Hause weggeblieben, war in den Ruf einer Hexe gekommen und schließlich, nachdem ihr Mann sie mehrmals wieder eingeholt und zu sich genommen hatte, für immer verschwunden.
Der Vater erwartet von Goldmund, dass er sein Leben Gott weiht, um die Sünden der Mutter zu sühnen. Narziss kommentiert:
„Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, dass dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte.“
Wanderer
Pater Anselm, der die Klosterapotheke betreut, schickt Goldmund zum Kräutersammeln in den Wald hinaus. Dort begegnet er Lise, die zu den nicht sesshaften Gesellschaftsgruppen gehört. Sie verführt ihn und merkt, dass es seine erste sexuelle Erfahrung mit einer Frau ist. In der Nacht möchte sie sich erneut mit ihm treffen.
Goldmund, der nach dem Vorbild seiner Mutter etwas von der Welt sehen möchte, verabschiedet sich von Narziss, der inzwischen sein Noviziat beendet und das Gelübde abgelegt hat.
„Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, dass jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, dass ich diese Frau für meine Mutter hielte […].“
Goldmund verlässt das Kloster und will mit Lise zusammen bleiben. Aber sie erklärt ihm, dass es nicht möglich sei.
„Goldmund, du kannst nicht mit mir kommen. Ich muss jetzt zu meinem Mann; er wird mich schlagen, weil ich die Nacht ausgeblieben bin. Ich sage, ich hätte mich verlaufen. Aber natürlich glaubt er es nicht.“
Allein macht sich Goldmund auf die Wanderschaft, und selten bleibt er mehr als eine Nacht an einem Ort. Überall trifft er auf Frauen, die ihn begehren und beglücken. So erlernt er viele Liebeskünste.
„Warum bleibt keine bei mir? Warum, wenn sie schon mich lieben und einer Liebesnacht wegen die Ehe brechen – warum kehren sie alle sofort zu ihren Männern zurück, von denen sie meistens Prügel zu fürchten haben?“ Keine hatte ihn ernstlich gebeten dazubleiben, keine einzige hatte ihn je gebeten, sie mitzunehmen.
Nach zwei Jahren erreicht Goldmund den Hof eines wohlhabenden Ritters mit zwei schönen Töchtern. Lydia ist 18 Jahre alt, ihre Schwester Julie zwei Jahre jünger. Der verwitwete Ritter bietet dem ehemaligen Klosterschüler Kost und Logis an. Dafür soll er ihm helfen, einen schriftlichen Bericht über seine Pilgerreise des Ritters korrigiert ins Reine zu schreiben.
Goldmund bleibt also auf dem Hof – und umwirbt Lydia. Die kommt schließlich nachts in seine Kammer und legt sich zu ihm, ohne mehr als Küsse und Berührungen zuzulassen. Eines Nachts steht auch Julie in der Tür.
„Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmt mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.“
Am frühen Morgen gesteht Lydia ihrem Vater, was geschehen ist, und der jagt Goldmund vom Hof.
Bei seiner weiteren Wanderung tut Goldmund sich mit dem durchtriebenen Vaganten Viktor zusammen. Der versucht, den Schlafenden auszurauben, erschrickt, als Goldmund aufwacht und würgt ihn – bis dieser sein Jagdmesser zu fassen kriegt und ihn ersticht.
Künstler
In einer Klosterkirche fällt Goldmund eine Marienstatue aus Holz auf, die ihn stark beeindruckt, denn bei der Mutter Gottes ist Leid zu Glück geworden. Wie bei einer Gebärenden, die Goldmund auf seiner Wanderschaft sah, ist der Gesichtsausdruck beim größten Schmerz dem der höchsten Wollust ganz ähnlich. Von Pater Bonifazius erfährt er, dass Meister Niklaus die Figur gestaltet hat, ein Bildschnitzer in der eine Tagesreise entfernten Bischofsstadt.
Goldmund sucht den verwitweten Meister auf, aber Niklaus erklärt ihm, dass er bereits zwei Gehilfen habe, keine zusätzlichen benötige und auch keine Lehrlinge aufnehme. Immerhin ist er bereit, ihn ohne Vertrag und Verpflichtung zu unterweisen. Darauf lässt sich Goldmund gern ein und quartiert sich bei einem Vergolder ein.
Statt Gelehrsamkeit, Mönchsleben und Tugend waren mächtige Urtriebe seines Wesens seine Herren geworden: Geschlecht, Frauenliebe, Drang nach Unabhängigkeit, Wanderschaft. Nun aber hatte er jene Marienfigur des Meisters gesehen, hatte einen Künstler in sich entdeckt.
Goldmund schnitzt eine Johannes-Figur nach dem Vorbild seines Freundes Narziss.
An der Narzissfigur arbeitete Goldmund mit tiefer Liebe, in dieser Arbeit fand er sich selbst, seine Künstlerschaft und seine Seele wieder, sooft er aus dem Geleise gekommen war, und das geschah nicht selten: Liebschaften, Tanzfeste, Zechereien mit Kameraden, Würfelspiel und häufig auch Raufhändel rissen ihn heftig mit, daß er für einen oder mehrere Tage die Werkstatt mied oder verstört und verdrossen bei der Arbeit stand.
Die väterliche Seite des Lebens, der Geist, der Wille, war nicht seine Heimat.
Ohne Gedanken, gefühlhaft ahnte er in vielerlei Gleichnissen: die Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. […] alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hatten dies gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. […]
In der Kunst und im Künstlerischen lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur. Aber die Kunst war kein reines Geschenk, sie kostete sehr viel, sie verlangte Opfer.
Meister Niklaus ist begeistert.
„Ich werde deine Figur denen von der Zunft zeigen und werde verlangen, dass sie dir dafür den Meisterbrief geben, du hast ihn verdient.“ Goldmund legte auf die Zunft wenig Wert, aber er wusste, wie viel Anerkennung die Worte des Meisters bedeuteten, und freute sich.
Goldmund möchte nicht wie Meister Niklaus eine Werkstatt führen und Geld mit Auftragsarbeiten verdienen. Weil er überzeugt ist, dass er so schnell kein zweites Kunstwerk schaffen kann, beabsichtigt er, seine Wanderschaft fortzusetzen. Vielleicht wird er in einigen Jahren dazu in der Lage sein, noch etwas Bedeutungsvolles hervorzubringen.
Meister Niklaus ahnt davon zunächst nichts. Er überredet die Zunft, Goldmund das Meisterzeugnis auszustellen, bietet ihm eine Partnerschaft an und stellt ihm die Eheschließung mit seiner Tochter Lisbeth in Aussicht. Aber Goldmund schlägt das verlockende Angebot aus und verlässt die Bischofsstadt.
Die Pest
Ein Schreinersohn vom Bodensee namens Robert, der schon nach Rom pilgerte, schließt sich ihm an.
Vor einem Dorf stellen sich ihnen mit Knütteln und Dreschflegeln bewaffnete Bauern in den Weg. Die beiden Wanderer müssen umkehren. Bald darauf finden sie auf einem Bauernhof fünf Leichen und verstehen, warum man sie nicht ins Dorf ließ: Die Pest ist ausgebrochen!
Ohne auf Roberts Protest zu hören, der sich vor einer Ansteckung fürchtet, nimmt Goldmund ein verwaistes Mädchen namens Lene mit. Zu dritt richten sie sich in einer verlassenen Hütte ein.
Bevor der Sommer vorbei ist, hört Goldmund seine Gefährtin in der Heide um Hilfe schreien. Ein Fremder hat ihr das Kleid zerrissen, die Brüste zerkratzt, sie gebissen und versucht, sie zu vergewaltigen. Goldmund stürzt sich auf den Mann, schlägt ihn zusammen und schleudert ihn gegen einen Felsen.
Mit gebrochenem Genick warf er den Körper weg, sein Zorn war noch nicht gesättigt, er hätte ihn noch weiter misshandeln mögen.
Am nächsten Tag erkrankt Lene an der Pest. Der Vergewaltiger hat sie infiziert. Nachdem sie gestorben ist, verbrennt Goldmund die Hütte, in der die Leiche liegt. Er erträgt Robert nicht länger und wandert allein weiter.
Überall liegen Pesttote. Manche, die nicht mehr damit rechnen, am Leben zu bleiben, feiern und zechen „in aufgepeitschter, erschreckter Lebenslust“. Es ist ein Totentanz. Andere suchen Sündenböcke. In einer Ortschaft sieht Goldmund die Judengasse brennen. Wer zu flüchten versucht, wird von der johlenden Menge mit Waffengewalt zurück ins Feuer gestoßen.
Später trifft Goldmund auf die schöne junge Jüdin Rebekka die um ihren Vater weint, der ebenso wie vierzehn andere Juden auf Befehl der Obrigkeit verbrannt wurde. Es gelingt ihm nicht, sie zu überreden, ihn zu begleiten. Ihr Zorn auf die Christen ist zu groß.
Drei Tage lang trägt er einen halb verhungerten Bauernbuben auf dem Rücken, bis sich eine verwitwete Köhlerfrau erbarmt, die etwas Lebendiges bei sich haben möchte.
Agnes
Nach vielen Jahren kehrt Goldmund in die Bischofsstadt zurück, die von der Pest nicht verschont geblieben ist. Er hört von Volksaufständen, Notgesetzen und einem kaiserlichen Statthalter. Der Bischof, der die Stadt gleich nach dem Ausbruch der Seuche verließ, residiert noch immer in einem seiner Schlösser auf dem Land.
Meister Niklaus ist gestorben, die Werkstatt geschlossen.
Aus der schönen stolzen Lisbeth war eine scheue, gebückte Jungfer geworden, mit einem gelben, kränklichen Gesicht, in einem schwarzen schmucklosen Kleid, mit unsicherem Blick und ängstlicher Haltung.
Später erfährt Goldmund, dass Lisbeth an der Pest erkrankte und von ihrem Vater gepflegt wurde. Er starb aus Gram; sie überlebte.
Eine junge Frau spricht Goldmund an. Es ist Marie, die Tochter des Vergolders, bei dem er während seines ersten Aufenthalt in der Stadt wohnte. Sie war damals noch ein Kind, himmelt ihn jedoch immer noch an.
Eine schöne herrische Reiterin fällt ihm auf: Agnes, die Geliebte des Statthalters. Ihr entgehen seine Blicke nicht, und nachdem er sie an mehreren Tagen abgepasst hat, wartet sie auf dem einsamen Weg zu einer Wallfahrtskirche auf ihn. Sie gibt ihm eine Goldkette und fordert ihn auf, am Abend damit in den Bischofspalast zu kommen. Er soll vorgeben, die Kette gefunden zu haben. Vertrauen könne er nur ihrer Zofe Berta und dem Reitknecht Max. Vor allen anderen müsse er sich in Acht nehmen.
Während Graf Heinrich, der Statthalter, mit einer Abordnung von Geistlichen verhandelt, vergnügt Agnes sich mit Goldmund in ihrem Schlafgemach.
Am zweiten Abend wird Goldmund vom Grafen ertappt, für einen Dieb gehalten, festgenommen und bis zur für den nächsten Morgen geplanten Hinrichtung im Keller eingesperrt.
Ein Geistlicher sucht Goldmund im Morgengrauen auf. Goldmund fallen die Ordenstracht des Klosters Mariabronn und das Abzeichen der Abtswürde auf. Dann erkennt er Narziss, der seit seiner Einkleidung den Namen Johannes trägt. Er gehört zu der Abordnung, die mit dem Statthalter verhandelte, um einen Streit zwischen dem Kaiser und dem Orden zu schlichten. So hörte er von dem angeblichen Dieb und erreichte dessen Begnadigung. Allerdings darf Goldmund nicht in der Stadt bleiben.
„Abt Daniel ist schon vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin, einst unser Schulvorsteher, er starb im vergangenen Jahr.“
Rückkehr ins Kloster
Narziss nimmt Goldmund mit ins Kloster Maulbronn, wo der Abt dem Künstler eine Werkstatt einrichten lässt. Die beiden führen lange Gespräche.
„Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß darin, dass durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird.“
Als Goldmund von Urbildern spricht, entgegnet Narziss, damit meine er etwas, was die Philosophen „Idee“ nennen. Das sind Bilder, die nur im schöpferischen Geist existieren, aber durch Künstler in der Material sichtbar gemacht werden können. Bei Goldmund, so Narziss, sei der schöpferische Geist nicht der eines Denkers, sondern der eines Künstlers. Während die Welt für Goldmund aus Bildern bestehe, so Narziss weiter, beschäftige er sich mit Begriffen.
„Das Denken hat mit Vorstellungen nicht das mindeste zu tun. Es vollzieht sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Formeln. Genau dort, wo die Bilder aufhören, fängt die Philosophie an.“
Goldmund schnitzt zwei Jahre lang an einer Figurengruppe für eine Treppe im Kloster und konzentriert sich dabei vor allem auf eine Statue des verstorbenen Abts Daniel.
Danach arbeitet Goldmund noch an einer Marienfigur für die zum Kloster gehörende Kapelle in Neuzell. Dabei stellt er sich Lydia vor.
Erneuter Abschied
Aber dann verabschiedet er sich zum zweiten Mal von Narziss, denn er muss neue Erfahrungen sammelt, bevor er ein weiteres Kunstwerk versuchen kann, zumal ihm etwas Großes vorschwebt:
Es ist die Gestalt der großen Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, dass die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammen wohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung.
Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen; man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer mußte man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere.
Narziss vergleicht im Stillen sein eigenes Leben mit dem des Freundes.
Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds?
War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung?
Das Ende
Als Goldmund ins Kloster Maulbronn zurückkommt, erschrickt Narziss, denn der Freund sieht alt, müde und krank aus.
Goldmund gesteht, dass er nach seinem Fortgang Agnes gesucht habe.
„Ich fand also die Agnes, sie war nicht weniger schön geworden, ich fand sie und fand Gelegenheit, mich ihr zu zeigen und mit ihr zu sprechen. Und denke, Narziss: sie wollte nichts mehr von mir wissen! Ich war ihr zu alt, ich war ihr nicht mehr hübsch und vergnügt genug, sie versprach sich nichts mehr von mir.“
Nach dem deprimierenden Wiedersehen mit Agnes sei er mit dem Pferd in einen Bach gestürzt und habe eine Nacht lang mit gebrochenen Rippen im kalten Wasser gelegen. Weil er den Spott der Mitbrüder fürchtete, kehrte er nicht um, sondern setzte seine Reise fort.
Ob er Frieden mit Gott gefunden habe, fragt Narziss.
„Frieden mit Gott? Nein, den habe ich nicht gefunden. Ich will keinen Frieden mit ihm. Er hat die Welt schlecht gemacht […].“
Goldmund weiß, dass er in Kürze sterben wird, ohne die Figur der Urmutter geschaffen zu haben.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Vor kurzem noch wäre es mir ganz unerträglich gewesen zu denken, dass ich sterben könnte, ohne ihre Figur gemacht zu haben; mein Leben wäre mir unnütz erschienen. Und nun sieh, wie wunderlich es mir mit ihr gegangen ist: statt dass meine Hände sie formen und gestalten, ist sie es, die mich formt und gestaltet.“
„Eva-Mutter. Noch sehe ich es, und wenn ich Kraft in den Händen hätte, könnte ich es gestalten. Aber sie will das nicht, sie will nicht, dass ich ihr Geheimnis sichtbar mache. Lieber will sie, dass ich sterbe. Ich sterbe gern, sie macht es mir leicht.“
Hermann Hesse bezeichnete „Narziß und Goldmund“ als Erzählung. Man könnte auch von einem Entwicklungsroman sprechen.
In einer mittelalterlichen Szenerie bewegen sich zwei gegensätzliche Charaktere. Narziß sieht sich als Denker und Asket. Er verzichtet auf das, was er als mütterliches Lebensprinzip begreift. Goldmund dagegen strebt nach Sinnlichkeit, Freiheit und Bewegung. Rastlos, lebensgierig und promiskuitiv entwickelt er sich zum Künstler. Dabei geht er der Vision einer Urmutter nach, in der alle Gegensätze aufgehoben sind: Geburt und Tod, Leben und Vernichtung. Beide Lebenswege stellt Hermann Hesse als gleichwertig dar.
Im Mittelalter gab es noch keine Psychoanalyse, aber gleich zu Beginn verhilft Narziß seinem Freund Goldmund dazu, die verdrängte Erinnerung an seine freiheitsliebende Mutter aufzudecken. Der Einfluss des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung auf Hermann Hesse zeigt sich auch in der Polarität der Archetypen Animus und Anima, des Männlichen bzw. Väterlichen, dem sich Narziß verschreibt, und des Weiblichen bzw. Mütterlichen, dem Goldmund nachgeht.
Hermann Hesse veranschaulicht die Zerrissenheit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, die Polarität von Geist und Sinnlichkeit, Wissenschaft und Kunst. Der wahre Künstler lebt nicht von Auftragsarbeiten und Zierrat, sondern versucht, eine Idee in der Materie sichtbar zu machen.
In den Passagen über die Judenverfolgung ahnte Hermann Hesse voraus, was bald nach dem Erscheinen seines Buches „Narziß und Goldmund“ in Deutschland Realität wurde.
Die Handlung entwickelt sich ruhig, chronologisch und leicht nachvollziehbar.
Beim fiktiven Kloster Mariabronn dachte Hermann Hesse wohl an die ehemalige Zisterzienserabtei Maulbronn bei Pforzheim. 1891 wurde er Zögling des dort untergebrachten evangelisch-theologischen Internats. Aufgrund traumatischer Erlebnisse floh er im April 1892 und versuchte sich nach einem Nervenzusammenbruch das Leben zu nehmen. (Später verarbeitete er die Erfahrung in dem Roman „Unterm Rad“.)
Für die in „Narziß und Goldmund“ als „Bischofsstadt“ bezeichnete Metropole diente Würzburg als Vorbild.
Hermann Hesse arbeitete von April 1927 bis März 1929 an „Narziß und Goldmund“. Die Erzählung erschien zunächst von Oktober 1929 bis April 1930 als Vorabdruck in der „Neuen Rundschau“, übrigens mit dem Untertitel „Geschichte einer Freundschaft“. Die Buchausgabe brachte der S. Fischer Verlag 1930 in Berlin heraus.
„Narziss und Goldmund“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen.
Stefan Ruzowitzky verfilmte die Erzählung „Narziss und Goldmund“ mit Sabin Tambrea und Jannis Niewöhner in den Hauptrollen.
Originaltitel: Narziss und Goldmund – Regie: Stefan Ruzowitzky – Drehbuch: Stefan Ruzowitzky nach der Erzählung „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse – Kamera: Benedict Neuenfels – Schnitt: Britta Nahler – Musik: Henning Fuchs – Darsteller: Sabin Tambrea, Jannis Niewöhner, Emilia Schüle, Uwe Ochsenknecht, Henriette Confurius, Kida Khodr Ramadan, Matthias Habich, André M. Hennicke, Elisa Schlott, Sunnyi Melles, Jessica Schwarz, Georg Friedrich, Marius Theobald, Johannes Krisch, Oskar von Schönfels, Jeremy Miliker, Branko Samarovski, Roman Johannes Kornfeld, Roxane Duran, Michael Glantschnig, Lukáš Bech, Elisabeth Kanettis u.a. – 2020, 115 Minuten
Erläuterungen zu „Narziss und Goldmund“ gibt es von Maria-Felicitas Herforth (C. Bange Verlag, Hollfeld 2011).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Hermann Hesse
Hermann Hesse (Kurzbiografie)
Hermann Hesse: Unterm Rad
Hermann Hesse: Siddhartha
Hermann Hesse: Der Steppenwolf
Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt
Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel