Tennessee Williams : Die Glasmenagerie

Die Glasmenagerie
The Glass Menagerie Uraufführung: Civic Theater, Chicago 1944 Die Glasmenagerie Übersetzung: Berthold Viertel Fischer Bücherei, Frankfurt/M 1954 Neuübersetzung: Jörg van Dyck Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 1987 ISBN: 3-596-27109-6, 111 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Amanda Wingfield lebt mit ihrer 23-jährigen Tochter Laura und ihrem zwei Jahre jüngeren Sohn Tom in St. Louis. Tom, der eigentlich Dichter werden wollte, muss die Familie als Lagerhausarbeiter ernähren, weil der Vater fortging. Im Kino versucht er die deprimierende Realität zu vergessen. Seine Mutter klammert sich an ihre Illusionen und glaubt, ihre lebensuntüchtige Tochter gut verheiraten zu können. Laura wiederum spielt am liebsten mit ihrer Glasmenagerie ...
mehr erfahren

Kritik

Tom Wingfield, eine der Figuren in Tennessee Williams' trostlosem Stück "Die Glasmenagerie", wendet sich mehrmals ans Publikum und erzählt die Geschichte aus der Erinnerung; die eigentliche Handlung wird dadurch zur Rückblende.
mehr erfahren

Amanda Wingfield wohnt mit ihrer dreiundzwanzigjährigen Tochter Laura und ihrem Sohn Tom, der zwei Jahre jünger als seine Schwester ist, in einem Mietshaus in St. Louis. Ihr Mann verließ die Familie vor siebzehn Jahren. Sein letztes Lebenszeichen war eine Ansichtkarte aus Mexiko. Tom, der eigentlich Dichter werden wollte, verdient den Lebensunterhalt für die Familie als Lagerarbeiter in einer Schuhfabrik. Abends geht er ins Kino, obwohl das seiner Mutter gar nicht gefällt, zumal sie argwöhnt, dass er sich anschließend in Kneipen herumtreibt. Laura hinkt, denn seit einer Kinderkrankheit hat sie ein verkürztes und geschientes Bein. Sie lässt sich treiben und beschäftigt sich am liebsten mit ihrer Sammlung kleiner Glastiere, die von Amanda als Glasmenagerie bezeichnet wird.

Immer wieder schwärmt Amanda von der Zeit, als sie siebzehn Verehrer hatte, alles Söhne von Pflanzern, die es später zu etwas brachten. Champ Laughlin wurde beispielsweise Vizepräsident der Delta Bank, und J. Duncan Fitzhugh machte an der Wall Street ein Vermögen. Zwar ertrank einer der Verehrer, und ein anderer kam bei einem Streit ums Leben, aber sie hinterließen beide ihren Witwen sehr viel Geld. Amanda kann es nicht fassen, dass sie damals statt einen dieser vielversprechenden Männer einen Telefonisten heiratete.

Um ihrer Tochter bessere Startchancen zu verschaffen, meldete Amanda sie vor einiger Zeit am Rubicam-Wirtschafts-College an. Doch jetzt erfährt sie, dass Laura nur kurz dort war. Die Lehrerin berichtet ihr, dass sich das überaus scheue Mädchen bei der ersten Schnellschreibübung übergeben habe. Amanda stellt ihre Tochter zur Rede. Laura gibt zu, sich nach dem peinlichen Vorfall nicht mehr zum Unterricht gewagt zu haben und stattdessen spazieren gegangen zu sein. Amanda ist entsetzt:

Und was fangen wir jetzt mit dem Rest unseres Lebens an, meine Liebe? Setzen wir uns hier zur Ruhe und schauen dem Treiben draußen zu? Beschäftigen wir uns mit der Glasmenagerie? Legen wir bis zum Umfallen diese zerkratzten Platten auf, die uns dein Vater als schmerzliche Erinnerung zurückgelassen hat? (Seite 26)

Nachdem Amanda die Hoffnung aufgegeben hat, dass Laura einen Beruf erlernen könnte, will sie ihre Tochter gut verheiraten. Sie fragt Laura, ob sie noch niemals verliebt gewesen sei, und diese gibt zu, vor sechs Jahren an der Highschool heimlich für einen Jungen namens Jim geschwärmt zu haben, aber der sei mit ihrer Mitschülerin Emily Meisenbach gegangen und später habe sie die Verlobungsanzeige der beiden in der Zeitung gesehen.

Amanda, für die es zur fixen Idee wird, einen Bräutigam für Laura zu finden, fordert Tom auf, einmal einen netten jungen Mann aus dem Lagerhaus mitzubringen. Er müsse allerdings darauf achten, dass es kein Trinker sei, schärft sie ihm ein. Also lädt Tom seinen dreiundzwanzigjährigen Kollegen James („Jim“) Delaney O’Connor zum Essen ein. Sie kennen sich schon seit der Highschool. Damals war Jim ein viel bewunderter Star, er war einer der Besten im Sport, wurde als Schulsprecher gewählt und sang bei der alljährlichen Operettenaufführung regelmäßig die Hauptpartie. Amanda ist begeistert. Sie erwartet einen ehrgeizigen jungen Mann, denn ihr Sohn verriet ihr, das Jim Abendkurse in Rhetorik und Radiotechnik besucht. Tom weist sie allerdings darauf hin, dass Jim nichts von seiner Schwester weiß.

Tom: Mutter, du darfst dir von Laura nicht zuviel erwarten.
Amanda: Was meinst du damit?
Tom: Laura bedeutet dir und mir so viel, sie ist eben unsere Laura, und wir lieben sie. Wir merken gar nicht mehr, dass sie verkrüppelt ist.
Amanda: Sag nicht verkrüppelt! Du weißt, dass ich das Wort nicht hören will!
Tom: Du musst den Tatsachen ins Auge sehen, Mutter. Sie ist es, und – das ist noch nicht alles –
Amanda: Was meinst du mit „das ist noch nicht alles“?
Tom: Laura ist ganz anders als die übrigen Mädchen.
Amanda: Ich glaube, dieser Unterschied ist ganz zu ihrem Vorteil.
Tom: Nicht ganz – in den Augen anderer – Fremder – ist sie schrecklich schüchtern. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, und das lässt sie für Leute von außerhalb ein wenig eigenartig erscheinen.
Amanda: Sag nicht „eigenartig“.
Tom: Du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Sie ist es. (Seite 60)

Amanda tut alles, um die Wohnung für Jims Besuch schön herzurichten. Im letzten Augenblick wickelt sie noch zwei Puderquasten in Taschentücher und stopft sie Laura in den Büstenhalter. Als Laura den Namen des Besuchers erfährt, erbleicht sie, denn es handelt sich um den vor sechs Jahren von ihr angehimmelten Mitschüler. Amanda tut gegenüber Jim so, als habe Laura das Essen zubereitet. Sie selbst habe wegen der vielen Bediensteten ihrer Eltern nie kochen gelernt, lügt sie, und weil zu erwarten gewesen sei, dass sie den Sohn eines reichen Pflanzers heiraten würde, habe niemand es für nötig gehalten, ihr das Kochen beizubringen.

Aber der Mann denkt! – und die Frau lenkt ein! – um diesen alten Spruch mal ein bisschen abzuwandeln – ich habe keinen Pflanzer geheiratet! – Ich habe einen Angestellten der Telefongesellschaft geheiratet! […] – Jetzt ist er auf Reisen, und ich weiß nicht einmal, wo! (Seite 78)

Laura sieht vor Aufregung so mitgenommen aus, dass Amanda zustimmt, als sie sich auf die Couch legt, statt sich mit an den Tisch zu setzen.

Plötzlich geht das Licht aus, denn statt die Stromrechnung zu bezahlen, verwendete Tom das Geld dafür, um Mitglied in der Gewerkschaft der Seeleute zu werden. „Ich habe es satt, ins Kino zu gehen“, sagte er zu Jim, „ich will selbst was erleben!“ (Seite 74)

Nach dem Essen fordert Amanda ihren Sohn auf, ihr beim Abwasch in der Küche zu helfen, damit Laura mit dem Besucher allein bleibt. Jim fängt zu plaudern an, und es gelingt ihm, Laura etwas von ihrer Schüchternheit zu nehmen. Sie erkundigt sich nach Emily Meisenbach, und als er sich verächtlich über die „Schlampe“ äußert, keimt Hoffnung bei ihr auf, zumal er vorgibt, sich an Laura zu erinnern. Sie zeigt ihm ihre Glasmenagerie und legt ihm ihr Lieblingstier in die Hand, ein kleines Einhorn, warnt ihn jedoch vor der Zerbrechlichkeit des Figürchens.

Laura: Haben Sie das eine Horn an seiner Stirn nicht bemerkt?
Jim: Oh, ein Einhorn, was?
Laura. Mmh – hm!
Jim: Sind – Einhörner in der modernen Welt denn nicht ausgestorben?
Laura: Ich weiß!
Jim: Armer, kleiner Kerl, muss sich sehr einsam fühlen.
Laura: Na, wenn auch, er beschwert sich nicht darüber. Er steht im Regal mit Pferden zusammen, die kein Horn haben, aber sie scheinen sich bestens zu vertragen. (Seite 97)

Jim stellt die Glasfigur auf den Tisch und fordert Laura auf, mit ihm zu tanzen. Zögernd lässt sie sich von ihm führen. Dabei stoßen sie gegen den Tisch. Das gläserne Tier fällt herunter, und das Horn bricht ab. Unvermittelt küsst Jim Laura. Aber dann klärt er sie darüber auf, dass er mit einem Mädchen namens Betty verlobt sei und sie in Kürze heiraten werde. Bestürzt schenkt Laura ihm die zerbrochene Glasfigur.

Amanda bewahrt die Form, aber nachdem Jim gegangen ist, wirft sie Tom vor, sie lächerlich gemacht zu haben. Sie macht sich keine Illusionen mehr.

Der Aufwand, die Vorbereitungen, die ganzen Auslagen! Die neue Stehlampe, der Teppich, das Kleid für Laura! Und wofür das Ganze? Um den Bräutigam eines anderen Mädchens zu unterhalten! Geh du nur ins Kino, geh! Denk nur nicht an uns. Eine Mutter, die sitzengelassen worden ist und eine unverheiratete Schwester, die verkrüppelt ist und keinen Job hat! Lass dich bloß durch nichts bei deinen selbstsüchtigen Vergnügungen stören! Geh nur, geh, geh – ins Kino! (Seite 109)

Daraufhin verlässt Tom die beiden Frauen und fährt zur See.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Bei Amanda Wingfield handelt es sich um „eine kleine Frau von großer, aber etwas fahriger Vitalität, die sich krampfhaft an eine Zeit und einen Ort klammert, die nicht mehr existieren“ (Seite 9). Sie „lebt mit aller Kraft in ihren Illusionen“ (Seite 9). In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder bevormundet sie Laura und Tom. Laura hat sich ganz vom Leben abgekapselt, sie ist „zu einem Stück ihrer Glassammlung geworden […], zu erlesen und zerbrechlich, um vom Regal heruntergenommen zu werden“ (Seite 9f). Deshalb ist sie nicht in der Lage, eine Arbeitstätigkeit auszuüben. Der Versuch ihrer Mutter, stattdessen einen Bräutigam für sie zu finden, endet kläglich. Tom, der eigentlich Dichter werden wollte, aber die Familie als Lagerarbeiter ernähren muss, ist überfordert. Schließlich reicht es ihm nicht mehr, Abenteuer im Kino zu erleben: Nach dem Vorbild seines Vaters verlässt er die Familie und fährt zur See. – Amanda, Laura und Tom sind drei Verlorene.

In seinem Stück „Die Glasmenagerie“ beschäftigt sich Tennessee Williams mit dem Thema Realitätsflucht. Das zentrale Symbol dieses in den Südstaaten spielenden Familiendramas ist das Einhorn in Lauras Glasmenagerie, ein scheues Fabelwesen, das selbst im Märchen als Außenseiter gilt. So wie dieses Glasfigürchen durch Unachtsamkeit beschädigt wird, zerbricht auch Laura.

Inzwischen wirkt die trostlose Geschichte etwas angestaubt, aber es gibt auch moderne Inszenierungen. Bemerkenswert an „Die Glasmenagerie“ ist, dass Tom Wingfield sich zu Beginn, am Ende und zwischendurch direkt ans Publikum wendet.

Ich liefere euch Wahrheiten in der freundlichen Verkleidung von Illusionen. (Seite 13)

So wird die eigentliche Handlung zu einem „Spiel der Erinnerungen“, wie es im Untertitel heißt: Tom erzählt die Geschichte aus der Erinnerung, und die Bühnenhandlung wird zur Rückblende.

Tennessee Williams (1911 – 1983) konzipierte „Die Glasmenagerie“ („The Glass Menagerie“) zunächst als Drehbuch. Als er keinen Interessenten dafür fand, schrieb er die Geschichte für die Bühne um. Die Uraufführung fand am 26. Dezember 1944 am Civic Theater in Chicago statt. In deutscher Sprache war „Die Glasmenagerie“ erstmals am 17. November 1946 am Basler Stadttheater zu sehen.

„Die Glasmenagerie“ wurde zu einem mehrmals verfilmten Welterfolg.

Die Glasmenagerie – Originaltitel: The Glass Menagerie – Regie: Irving Rapper – Drehbuch: Peter Berneis und Tennessee Williams, nach dem Bühnenstück „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams – Kamera: Robert Burks – Schnitt: David Weisbart – Musik: Max Steiner – Darsteller: Jane Wyman, Kirk Douglas, Gertrude Lawrence, Arthur Kennedy, Ralph Sanford, Ann Tyrrell, John Compton, Gertrude Graner u.a. – 1950; 105 Minuten

Die Glasmenagerie – Originaltitel: The Glass Menagerie – Regie: Anthony Harvey – Drehbuch: Ruth Solff, nach dem Bühnenstück „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams – Kamera: Billy Williams – Schnitt: John Bloom – Musik: John Barry – Darsteller: Katharine Hepburn, Sam Waterston, Joanna Miles, Michael Moriarty – 1973; 100 Minuten

Die Glasmenagerie – Originaltitel: The Glass Menagerie – Regie: Paul Newman – Drehbuch: Paul Newman, nach dem Bühnenstück „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams – Kamera: Michael Ballhaus – Schnitt: David Ray – Musik: Henry Mancini – Darsteller: Joanne Woodward, John Malkovich, Karen Allen, James Naughton – 1987; 130 Minuten

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Tennessee Williams: Die Katze auf dem heißen Blechdach

Barbara Wood - Rote Sonne, schwarzes Land
Aus einer atemberaubenden Fülle von Konflikten, Verwicklungen und unerwarteten Wendungen entwickelt Barbara Wood in ihrem komplexen Roman "Rote Sonne, schwarzes Land" eine farbige, dramatische und mitreißende Geschichte.
Rote Sonne, schwarzes Land