Die Frau die singt. Incendies

Die Frau die singt. Incendies

Die Frau die singt. Incendies

Die Frau die singt. Incendies – Originaltitel: Incendies – Regie: Denis Villeneuve – Drehbuch: Denis Villeneuve, Valérie Beaugrand-Champagne nach dem Bühnenstück "Incendies" von Wajdi Mouawad – Kamera: André Turpin – Schnitt: Monique Dartonne – Musik: Grégoire Hetzel – Darsteller: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz u.a. – 2010; 135 Minuten

Inhaltsangabe

Nawal Marwan stammt aus dem Nahen Osten, lebt aber seit 18 Jahren mit ihren Zwillingen Jeanne und Simon in Kanada. Als sie stirbt, hinterlässt sie ein Testament, in dem Jeanne und Simon aufgefordert werden, ihren Vater und ihren Bruder zu suchen. Bisher dachten sie, der Vater sei tot, und von einem Bruder ahnten sie nichts. Jeanne reist in den Nahen Osten. Dort heißt es, Nawal habe Schande über ihre Familie gebracht. Jeanne erfährt, dass Nawal 15 Jahre lang eingesperrt war und von einem Folterer im Gefängnis geschwängert wurde ...
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Kritik

In "Die Frau die singt. Incendies", der Verfilmung eines Theaterstücks von Wajdi Mouawad, zeigt Denis Villeneuve die Destruktivität von Hass, Gewalt und Krieg. Obwohl viel zu erzählen ist, nimmt er sich Zeit, die tragische Geschichte auf zwei Zeitebenen zu entwickeln.
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Die Christin Nawal Marwan (Lubna Azabal) stammt aus einem nahöstlichen Land. Als junge Frau kam sie vor 18 Jahren mit ihren Zwillingen Jeanne und Simon (Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette) nach Kanada, wo sie als Sekretärin des Notars Jean Lebel (Rémy Girard) Arbeit fand.

Als Jeanne mit ihrer Mutter im öffentlichen Schwimmbad ist, fällt Nawal in Agonie und wird ins Krankenhaus gebracht. Sie stirbt.

Bei der Testamentseröffnung erklärt Jean Lebel, der längst zu einem väterlichen Freund seiner Sekretärin und ihrer Kinder geworden ist, der letzte Wille der Verstorbenen sei es, nackt, mit dem Gesicht nach unten und ohne Sarg begraben zu werden. Der Notar hat für die Tochter und den Sohn der Toten je einen Brief. Jeanne soll den Vater suchen und ihm das eine Schreiben übergeben, Simon erhält den Auftrag, nach dem Bruder zu fahnden und ihm das andere Kuvert auszuhändigen. Erst danach darf dem Testament zufolge ein Grabstein gesetzt werden.

Jeanne und Simon nahmen bisher an, ihr Vater sei im Krieg erschossen worden, und von einem Bruder ahnten sie nichts. Simon hält das alles für absurd, aber Jeanne beabsichtigt, den letzten Wunsch der Mutter zu erfüllen. Sie ist Mathematikerin und arbeitet als Assistentin an der Universität. Ihr Chef, Professor Niv Cohen (Dominique Briand), ermutigt sie, in den Nahen Osten zu reisen.

Dort findet Jeanne heraus, dass Nawal 15 Jahre Haft im Kfar Ryat verbüßte, einem berüchtigten Gefängnis für politische Häftlinge im Süden des Landes. In dem Dorf, in dem die Mutter geboren wurde, trifft Jeanne auf eine Gruppe von christlichen Frauen, die ihr unverblümt erklären, dass Nawal Marwan Schande über ihre Familie und das Dorf gebracht habe und sie als Tochter deshalb nicht willkommen sei.

Das Kfar Ryat ist inzwischen eine Ruine. Jeanne lässt sich herumführen und fragt dann den früheren Gefängniswärter Fahim Harrsa (Nabil Sawalha), der inzwischen sein Geld als Hausmeister einer Schule verdient, nach ihrer Mutter. Fahim Harrsa bewachte sie 13 Jahre lang in Zelle 72. Sie hatte den Anführer der christlichen Milizen erschossen und war deshalb eingesperrt worden. Man versuchte sie zu brechen, aber das gelang nicht einmal dem Folterspezialisten Abou Tarek (Abdelghafour Elaaziz), der sie mehrmals vergewaltigte. Wie ein Raubtier im Käfig ging sie in ihrer Zelle auf und ab. Weil sie dabei sang, nannte man sie „die Frau die singt“. Nachdem sie schwanger geworden war, musste sie noch bis zur Entbindung in Kfar Ryat bleiben. Dann wurde sie entlassen. Zum Abschied nennt Fahim seiner Besucherin den Namen einer Hebamme, die damals im Gefängnis tätig war.

Jeanne nimmt an, dass es sich bei dem durch die Vergewaltigung gezeugten Kind um den Halbbruder handelt, den Simon suchen sollte. Aufgewühlt ruft sie ihren Bruder in Kanada an und drängt ihn, zu ihr in den Nahen Osten zu kommen. Jean Lebel begleitet Simon. Unterstützt werden sie bei ihren Nachforschungen von einem einheimischen Kollegen des Notars: Maître Maddad (Allen Altman).


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Die Hebamme (Baya Belal) lebt inzwischen als Pflegefall im amerikanischen Hospital. Jeanne und Simon besuchen sie – und erfahren, dass nicht ihr Halbbruder im Gefängnis geboren wurde, sondern dass sie beide Kinder des Vergewaltigers sind.

Maddad ermittelt, dass Nawal Marwan schon vor dem Verlassen ihres Dorfes als junges Mädchen schwanger geworden war. Ihre Brüder Bassem und Nicolas (Ahmad Massad, Bader Alami) hatten ihren Freund daraufhin vor ihren Augen erschossen und dann auf sie gezielt, waren jedoch von der Großmutter (Majida Hussein) von dem „Ehrenmord“ abgehalten worden. Sie half ihrer Enkelin bei der Niederkunft, markierte das Neugeborene mit drei Stichen an der rechten Ferse, brachte es ins Waisenhaus und schickte dann Nawal zu deren Onkel Charbel (Nabil Koni), der als Zeitungsverleger in der Stadt lebte. Dort ging Nawal zur Schule.

Als Christen von muslimischen Fanatikern attackiert wurden, floh Charbel mit seiner Familie in die Berge, während Nawal trotz des Risikos in den Süden fuhr, woher sie stammte, um nach ihrem Sohn zu suchen. Aber das Waisenhaus war im Krieg zerstört worden, und von den Kindern fehlte jede Spur.

Nawal nahm ihre Halskette mit dem Kreuz ab und setzte ein Kopftuch auf, bevor sie einen Bus anhielt, um die Suche nach Nihad fortzusetzen. Einige Zeit später stoppten christliche Milizen das Fahrzeug. Der muslimische Fahrer (Basel Karim Hazem) stieg aus, um mit den Männern zu reden, wurde aber kurzerhand erschossen. Dann eröffneten die Christen das Feuer auf den Bus und töteten alle Fahrgäste bis auf Nawal, eine junge Mutter und deren Tochter (Jackie Sawiris, Noura Waleed). Als die Mörder den Bus nach dem Massaker mit Benzin übergossen, kletterten die Frauen mit dem Kind ins Freie, und Nawal gab sich als Christin zu erkennen. Um das kleine Mädchen zu retten, behauptete sie, es sei ihre Tochter und ging damit los. Aber das Kind rannte zu seiner Mutter zurück und wurde ebenso wie diese erschossen, bevor der Bus in Flammen aufging.

Nawal schlug sich in die durch den Bürgerkrieg zerstörte Stadt Deressa durch und schloss sich dort einer islamistischen Guerillagruppe an, um Rache für das Massaker nehmen zu können. Es gelang ihr, als Nachhilfelehrerin Zugang zum streng gesicherten Anwesen des Chefs der christlichen Milizen (Ali Elayan) zu bekommen. Während dieser mit anderen Männern im Garten konferierte, erschoss sie ihn. Danach ließ sie sich widerstandslos festnehmen.

Stück für Stück erfahren Jeanne und Simon die Wahrheit über ihre Mutter und ihre eigene Herkunft.

Simon befolgt Maddads Rat, fährt nach Daressa, und als er dort von einem Bewohner zum Tee eingeladen wird, stellt er sich als Sohn der „Frau die singt“ vor. Wie von Maddad erwartet, genügt dies, um einen entscheidenden Kontakt herzustellen: Nach seiner Rückkehr aus Daressa holen zwei Männer (Karim Babin, Adel Ladikani) Simon im Hotel ab und bringen ihn mit verbundenen Augen in das Haus des Stammesführers Walad Chamseddine (Mohamed Majd).

Simon hofft, dass ihm Chamseddine etwas über das Schicksal seines Halbbruders Nihad sagen kann. Der alte Mann berichtet, das christliche Waisenhaus sei damals zwar von Islamisten zerstört worden, aber die Kinder habe man verschont. Sie wurden zu Kämpfern ausgebildet. Nihad (Hussein Sami, Yousef Soufan) war unter ihnen. Zunächst wollte er nach seiner Mutter suchen, aber als er sie nicht fand, meldete er sich als Selbstmordattentäter, damit seine Mutter wenigstens sein Bild in der Zeitung sehen würde. Stattdessen setzten ihn die Terroristen als Scharfschützen ein. Nihad erschoss sieben christliche Soldaten. Dann wurde er gefasst und umerzogen. Unter dem neuen Namen Abou Tarek entwickelte er sich zu einem fanatischen Folterspezialisten im Gefängnis Kfar Ryat. In dieser Funktion vergewaltigte und schwängerte er die Gefangene Nr. 72, „die Frau die singt“, ohne zu ahnen, dass es sich um seine eigene Mutter handelte.

Nachdem Nawal die Zwillinge im Gefängnis geboren hatte und freigelassen worden war, ermöglichte ihr Walad Chamseddine die Ausreise mit den Kindern nach Nordamerika.

Jeanne und Simon, die nun wissen, dass ihr Vater zugleich ihr Halbbruder ist, kehren mit Jean Lebel nach Kanada zurück, denn sie haben herausgefunden, dass Nihad dort unter erneut geändertem Namen als Putzkraft arbeitet. Als Nawal mit ihrer Tochter im Schwimmbad war, erkannte sie ihn an den drei kleinen Narben an der rechten Ferse. Deshalb war sie so geschockt. Bevor sie im Krankenhaus starb, teile sie Jean Lebel ihre letzten Wünsche mit.

Die Zwillinge passen Nihad auf der Straße ab und übergeben ihm die beiden Briefe. Einer ist an den Vater gerichtet, den Folterer und Vergewaltiger, der andere an den Sohn.

Nachdem Jeanne und Simon den letzten Willen ihrer Mutter erfüllt haben, erhalten sie von Jean Lebel ebenfalls einen Brief, in dem Nawal ihnen versichert, dass der Teufelskreis der Wut nun durchbrochen sei.

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Der erschütternde Film „Die Frau die singt. Incendies“ von Denis Villeneuve basiert auf dem 2003 veröffentlichten Theaterstück „Incendies“ des 1968 im Libanon geborenen kanadischen Schriftstellers, Regisseurs und Schauspielers Wajdi Mouawad („Verbrennungen“, Übersetzung: Uli Menke, deutschsprachige Erstaufführung am 13. Oktober 2006 am Deutschen Theater Göttingen und am Staatstheater Nürnberg; Buchausgabe: Verlag der Autoren, Frankfurt/M 2007, 123 Seiten, ISBN 978-3-88661-299-4).

Die Handlung des Familiendramas spielt in Kanada und in einem Land des Nahen Ostens, dessen Name zwar nicht genannt wird, bei dem Wajdi Mouawad aber wohl an den Libanon gedacht hat. Am Beispiel blutiger Bürgerkriege zwischen Christen und Muslimen veranschaulicht „Die Frau die singt. Incendies“ die Destruktivität von Hass, Gewalt und Krieg.

Denis Villeneuve entwickelt die tragische Geschichte auf zwei Zeitebenen, die geschickt verschachtelt sind. Die einzelnen Abschnitte sind in Kapitel unterteilt: Die Zwillinge, Nawal, Daresh, Deressa, Kfar Ryat, Die Frau die singt, Sarwan Janaan, Nihad, Chamseddine, Verbrennungen. Obwohl viel zu erzählen ist, nimmt Denis Villeneuve sich Zeit. Das führt nicht zu Längen, sondern hilft, die emotionale Wucht des Gezeigten zu verkraften.

In „Die Frau die singt. Incendies“ hören wir Ausschnitte aus folgenden Musikstücken: „Nami Nami“ von Marcel Khalife, „You and whose army“ und „Like Spinning Plates“ von der Gruppe Radiohead. Die eigentliche Musikuntermalung wurde von Grégoire Hetzel komponiert. Für „Incendies“ vertonte er Textstellen aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche (Kapitel 67: Von alten und neuen Tafeln). Wir hören die Sopranistin Ciara Hendrick und das London Symphony Orchestra unter Leitung von Ben Foster.

„Die Frau die singt. Incendies“ wurde in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für einen „Oscar“ nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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