Amos Oz : Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Manuskript: 2001 Originalausgabe: Ssipur al ahava we-choschech Keter Verlag, Jerusalem 2002 Eine Geschichte von Liebe und Finsternis Übersetzung: Ruth Achlama Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2004 Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-45788-8, 829 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Arie und Fania Klausner gehörten zu den Juden aus Osteuropa, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina kamen. Ihr 1939 geborener Sohn Amos wuchs in Jerusalem auf. Nach dem Suizid seiner 38-jährigen Mutter und der Wiederverheiratung seines Vaters lebte Amos Oz, wie er sich nun nannte, von 1954 bis 1985 im Kibbuz Hulda. Obwohl er zunächst gerade kein Büchernarr wie sein Vater werden wollte, studierte er Literatur und Philosophie und machte sich als Schriftsteller einen Namen.
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Kritik

"Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" ist ein autobiografischer Roman von Amos Oz, in dem Fakten und Fiktion vermischt sind. In orientalischer Üppigkeit erzählt Amos Oz die Geschichte seiner Vorfahren und von seiner eigenen Kindheit zur Zeit der Entstehung des Staates Israel.
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Joseph Klausner wurde 1874 in Olkeniki (Litauen) geboren. Als er zehn Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Odessa. 1897 ging er zum Philosophiestudium für fünf Jahre nach Heidelberg. Danach vermählte er sich in Odessa mit Fanni Wiernick („Zippora“), und 1917 wurde er Dozent an der dortigen Universität. 1919 schiffte sich das kinderlose Paar mit Josephs verwitweter Mutter Rasche-Kaile in Odessa auf der „Ruslan“ nach Palästina ein. In Jerusalem machte Joseph Klausner sich als Professor für Hebräische Literatur an der 1925 gegründeten Universität einen Namen. Jesus von Nazareth sei nicht nur als Jude geboren worden, sondern auch als Jude gestorben, behauptete er, und habe überhaupt keine neue Religion begründen wollen.

Joseph Klausners Bruder Alexander verliebte sich im Alter von siebzehn Jahren in seine acht oder neun Jahre ältere Cousine Schlomit Levin. Das war skandalös. Und weil die Familie eine Eheschließung des jungen Paares nicht zulassen wollte, reisten Alexander und Schlomit von ihrer Heimatstadt Odessa nach New York, um dort zu heiraten. Während der Überfahrt verguckte sich der Bräutigam in eine andere, zehn Jahre ältere Frau, aber die Braut gab ihn nicht frei und ließ sich nach der Ankunft in New York von einem Rabbi trauen. Ein, zwei Jahre später reiste das Ehepaar nach Odessa zurück. Nach der Oktoberrevolution flohen Alexander und Schlomit Klausner mit ihren beiden Söhnen David und Jehuda Arie vor dem Bürgerkrieg nach Wilna.

Während David Klausner als Literaturdozent in Wilna zurückblieb, wanderten seine Eltern mit seinem jüngeren Bruder Arie nach Palästina aus, wo Schlomit gleich nach der Ankunft entsetzt feststellte: „Die Levante ist voller Mikroben.“ (Seite 60) Sie ließen sich in Jerusalem nieder, und Alexander Klausner begann als Handelsvertreter für eine Textilfirma zu arbeiten.

Arie Klausner – Amos Oz‚ Vater – immatrikulierte sich nach der Ankunft in Jerusalem an der Hebräischen Universität. 1936 wurde er Bibliothekar an der Nationalbibliothek in Jerusalem.

Als Efraim Mussman – Amos Oz‘ Urgroßvater mütterlicherseits – dreizehn Jahre alt war, wurde er von seinen Eltern mit einem Mädchen namens Chaja-Duba verheiratet. Naftali, der 1889 geborene Sohn des Paares, kam im Alter von zwölf Jahren als eine Art Leibeigener auf das Gut Wilchow bei Rowno, das der unverheirateten Prinzessin Rawsowa gehörte. Durch Fleiß, Geschick und Klugheit brachte er es zum Mühlenbesitzer und expandierte mit seinem Mehlhandel bis Kiew, Moskau und Sankt Petersburg. Seit seinem 21. Lebensjahr war er mit der zwei Jahre jüngeren Itta Gedaljewna Schuster verheiratet. Aus dieser Ehe, die „verbissene fünfundsechzig Jahre“ hielt, gingen drei Töchter hervor: Chaja (*1911), Fania (*1913) und Sonia (*1916).

Da Juden nicht an polnischen Universitäten zugelassen waren, immatrikulierte sich Amos Oz‘ Mutter Fania 1931 an der Universität Prag für ein Studium der Geschichte und Philosophie, doch als die Inflation über Nacht das Vermögen ihres Vaters auffraß und die Mühle verlustreich verkauft werden musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Studium abzubrechen. Itta und Naftali Mussman wanderten 1933 von Rowno nach Palästina aus. Chaja kam noch im selben Jahr aus Prag nach und heiratete in Palästina den ebenfalls aus Polen stammenden Arbeiter Zvi Schapiro, der es im Lauf der Zeit zum Verwaltungsdirektor des staatlichen Donolo-Zahalon-Krankenhauses in Jaffa brachte. Fania reiste 1934 nach Palästina. Sonia blieb bis Ende 1938 in Rowno, folgte dann ihrer Familie und heiratete später Abraham („Buma“) Gendelberg.

Fania Mussman schloss ihr Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem ab und gab danach Privatstunden in Geschichte und Literatur.

Am 4. Mai 1939 kam sie – inzwischen Ehefrau von Arie Klausner – mit ihrem einzigen Kind nieder: Amos Klausner (Amos Oz). Obwohl Arie sechzehn oder siebzehn Sprachen lesen und elf sprechen konnte und Fania vier oder fünf sprach und sieben oder acht lesen konnte, lehrten sie ihren Sohn Amos nur Hebräisch.

Eigentlich war ich ein sehr umgängliches Kind: gehorsam, fleißig und vollkommen im Einklang mit der bestehenden Gesellschaftsordnung (Mutter und ich unterstehen Vater, Vater ist Staub unter Onkel Josephs Füßen, und Onkel Joseph selbst akzeptiert – trotz seiner entgegengesetzten Auffassungen – wie alle die Autorität Ben Gurions und der zionistischen Institutionen). Außerdem gierte ich unermüdlich nach dem Lob der Erwachsenen, dem meiner Eltern ebenso wie dem der Gäste, Tanten, Nachbarn und Bekannten. (Seite 412)

Da ich keine Geschwister hatte und meine Eltern sich seit meiner frühesten Kindheit darum rissen, die Rolle der Fangemeinde zu spielen, blieb mir nichts anderes übrig, als die Bühne zu betreten, sie in voller Länge und Breite auszufüllen und das gesamte Publikum in Bann zu ziehen. Und so war ich denn, seit meinem dritten oder vierten Lebensjahr, wenn nicht schon früher, eine Ein-Kind-Show. (Seite 419f)

Ich war ein Wörterkind. Ein unablässiger, unermüdlicher Redner […] Aber ich hatte keine Zuhörer. Für die Kinder meines Alters klang alles, was ich sagte, wie Suaheli oder Tschuktschenisch, und die Erwachsenen hielten ja, genau wie ich, von morgens bis abends Vorträge, obwohl ihnen keiner zuhörte. (Seite 468)

Die Familie wohnte in einer 30 qm großen Souterrainwohnung in Kerem Avraham, einem Stadtviertel von Jerusalem.

Auch wenn kein Stromausfall war, lebten wir immer bei mattem Licht, weil es wichtig war, zu sparen. Meine Eltern wechselten eine Vierzig-Watt-Birne gegen eine Fünfundzwanzig-Watt-Birne aus, nicht nur wegen der Kosten, sondern aus Prinzip, weil helles Licht verschwenderisch und Verschwendung unmoralisch ist. (Seite 36)

Drei-, viermal im Jahr schickte Fania Klausner ihren in Tel Aviv wohnenden Eltern einen Brief und schlug einen bestimmten Tag und eine bestimmte Uhrzeit vor, zu der sich die Mussmans dann in einer Apotheke in Tel Aviv versammelten und warteten, bis das Telefon läutete und die Klausners aus einer Apotheke in Jerusalem anriefen. Über einen eigenen Telefonanschluss verfügte keine der beiden Familien.

Jeden zweiten oder dritten Schabbat pilgerten Arie und Fania Klausner mit ihrem Sohn in den Vorort Talpiot, um Onkel Joseph und Tante Zippora zu besuchen. In der Privatbibliothek von Prof. Dr. Klausner standen 25 000 Bücher. Davon war die Atmosphäre des Hauses geprägt. Mitunter kam auch Ben-Zion Netanjahu am Schabbat zu Besuch. Amos trat einmal einen seiner beiden kleinen Söhne, der unter dem Tisch herumkroch. Bis heute weiß er nicht, ob er „den bei der Entebbe-Aktion gefallenen heldenhaften Bruder oder den wendigen Bruder und späteren Ministerpräsidenten“ (Seite 97) erwischte.

So war die Welt in jenen Tagen geordnet: Onkel Joseph saß am Kopf des Tisches und sprühte vor Weisheit und polemischem Witz, und Tante Zippora stand mit ihrer weißen Schürze hinter ihm, bewirtete die Gäste und wartete, dass sie gebraucht wurde. (Seite 96)

Nach dem Besuch bei Onkel Joseph und Tante Zippora schauten die Klausners hin und wieder kurz bei dem in der Nähe wohnenden Schriftsteller Samuel Josef Agnon vorbei, der später (1966) den Nobelpreis erhielt.

1943 oder 1944 erfuhr Fania Klausner, dass die Deutschen am 7./8. November 1941 in Rowno mehr als 23 000 Juden und am 13. Juli 1942 weitere 5000 umgebracht hatten, darunter auch ihre Verwandten [Holocaust].

Das Leben in Palästina war nicht einfach:

Es war bei uns ein ehernes Gesetz, nichts Importiertes zu kaufen, keinerlei ausländische Erzeugnisse, soweit es entsprechende heimische Produkte gab. Aber wenn man zu Herrn Austers Lebensmittelladen Amos-, Ecke Ovadja-Straße ging, musste man immer noch wählen zwischen Käse aus dem Kibbuz, vertrieben von Tnuva, und arabischem Käse […] aus dem Nachbardorf Lifta […] Kompliziert. Der arabische Käse war ein klein wenig billiger. Aber wenn du arabischen Käse kauftest, würdest du dann nicht am Zionismus Verrat üben? […] Andererseits, wenn wir die Erzeugnisse unserer arabischen Nachbarn boykottieren, dann tragen wir doch dazu bei, den Hass ziwschen den beiden Völkern zu vertiefen und zu verewigen […] Der bescheiden lebende arabische Fellache, ein einfacher, redlicher Ackerbauer, dessen Seele noch nicht vom Gifthauch der Großstadt verunreinigt wurde […] Wollen wir tatsächlich so hartherzig sein und diesen Mann bestrafen? Wofür? […] Nein. Diesmal werden wir entschieden arabischen Käse kaufen, der übrigens wirklich ein wenig besser schmeckt als der Käse von Tnuva und auch etwas weniger kostet. Aber dennoch, von dritter Seite betrachtet, was ist, wenn es bei ihnen vielleicht nicht so sauber zugeht? Wer weiß, wie die Molkereien bei denen dort sind? Was ist, wenn sich, zu spät, herausstellt, dass ihr Käse von Bazillen wimmelt? […]
Welch armseliger Zionismus, welche Schwächlichkeit, welche Kleinlichkeit, arabischen Käse nur deshalb zu kaufen, weil er etwas weniger kostet, und nicht den Käse der Pioniere, die sich schinden und mühen, um das Brot aus der Erde hervorzubringen.
Eine Schande! Eine Schmach und eine Schande! So oder so, Schmach und Schande!
Das ganze Leben wimmelte von solcher Schmach und Schande. (Seite 31ff)

Mit sechs bzw. sieben Jahren besuchte Amos die „Heimat des Kindes“, eine von Isabella Nachliëli in ihrer Wohnung organisierte Nachbarschaftsschule. Die dreißigjährige Lehrerin Zelda Schneerson („Mora-Zelda“) war sein erster Schwarm. Im Herbst 1947 kam er dann auf die Tachkemoni-Schule.

Arie Klausner ereiferte sich zwar in Diskussionen über philosophische, politische oder literarische Themen, aber er hatte nie gelernt, private Gefühle auszudrücken.

Ein zweifaches Verbots- und Bremssystem: Die Benimmregeln des europäischen Bürgertums verdoppelten die Hemmungen des religiösen jüdischen Schtetls. Eigentlich war fast alles „verboten“ oder „unüblich“ oder „unschön“. (Seite 21)

1947 erschien Arie Klausners erstes Buch: „Die Novelle in der hebräischen Literatur. Von ihren Anfängen bis zum Ende der Haskala-Zeit“.

Einmal war Amos mit seinem Onkel Staszek („Staw“) Rudnicki und seiner Tante Malka bei dem reichen Kaufmann Ustas Nadschib Mamduch al-Silwani eingeladen, der sich dafür bedanken wollte, dass Staw Rudnicki seinen ältesten Sohn Edward al-Silwani vom Verdacht des Betrugs befreit hatte. Im Garten traf der achteinhalbjährige Amos auf ein drei oder vier Jahre älteres arabisches Mädchen und dessen kleinen Bruder: Aischa und Awwad. Amos wollte Aischa zeigen, dass er mutig genug war, um auf einen Baum zu klettern. Im Geäst eines Maulbeerbaumes fand er eine Eisenkette, und als er sie kreisen ließ, löste sich ein schweres Gewicht vom äußeren Ende. Damit traf er Awwad am Fuß und verletzte ihn ernsthaft. Amos‘ Vater versuchte später, sich bei Ustas Nadschib Mamduch al-Silwani telefonisch zu entschuldigen, aber der arabische Kaufmann ging nicht ans Telefon.

Weil die britische Regierung beabsichtigte, den Vereinten Nationen das Mandat für Palästina zurückzugeben, wurde eine Sonderkommission (UNSCOP) eingesetzt, die der UN-Vollversammlung am 1. September 1947 eine Aufteilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat empfahl. Als am 29. November beschlossen wurde, einen israelischen Staat in Palästina zu gründen, jubelten die Juden, aber die Araber wehrten sich mit blutigen Übergriffen dagegen. Während der Unruhen wurde die Souterrainwohnung der Klausners in Jerusalem zur Zufluchtstätte für die Großeltern Alexander und Schlomit, Onkel Joseph und seine Schwägerin Chaja Elizedek (Zappora war 1946 gestorben), sowie Nachbarn aus den oberen Stockwerken. Die Schulen schlossen Mitte Dezember, und die Kinder wurden aufgefordert, Säcke für Sandsackbarrieren und leere Flaschen für Molotow-Cocktails zu sammeln. Weil Arie Klausner am 13. April 1948 erkrankt war, fuhr er am nächsten Morgen nicht wie geplant zur Nationalbibliothek. Der Konvoi mit 77 Ärzten, Krankenschwestern, Professoren und Studenten, dem er sich angeschlossen hätte, wurde überfallen. Obwohl die Briten in der Nähe einen Militärposten hatten, griffen sie nicht ein, als Araber den Konvoi beschossen, die Busse in Brand steckten und die Insassen bei lebendigem Leib verbrannten. Am nächsten Tag gab es in einigen Geschäften gegen einen Coupon der Petroleumkarte pro Familie ein Viertel Huhn. Dafür musste man allerdings sechs Stunden lang anstehen.

Am 15. Mai 1948 um Null Uhr entstand der Staat Israel, der noch in derselben Nacht von Ägypten, Transjordanien, dem Libanon und Syrien ohne Kriegserklärung angegriffen wurde.

Eine Nachbarin – „Tante Greta“ – fiel beim Wäscheaufhängen einem Heckenschützen zum Opfer. Das Gleiche passierte dem zwölfjährigen Sohn Jonathan von Zerta und Jacob David Abramsky. Herr Mjudownik kam von einem Besorgungsgang nicht mehr zurück. Seine Frau suchte ihn überall, auch im Leichenschauhaus, aber sie fand keine Spur von ihm. Arie Klausner schaute dann noch einmal ins Leichenschauhaus – und erkannte die Socken, die er Herrn Mjudownik geliehen hatte. Das Gesicht war weggerissen.

Bis in den Winter dauerte der Krieg.

Danach ging Amos wieder zur Schule. In der 6. oder 7. Klasse trat die martialische Schulschwester vor die 38 Schüler und hielt Sexualkundeunterricht.

Die couragierte Schwester, die uns alles, wirklich alles – von Hormonen bis zu Hygieneregeln – unverzagt dargelegt hatte, hatte vergessen zu erwähnen, und sei es auch nur mit der leisesten Andeutung, dass all diese verwickelten und gefährlichen Abläufe manchmal auch mit irgendeinem Vergnügen verbunden sind. Davon sagte sie uns kein Wort. Vielleicht wollte sie unsere Unschuld schützen. Oder vielleicht wusste sie es selbst nicht. (Seite 613)

Im Winter 1949/50 begann Fania Klausner unter Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Depressionen zu leiden. Sie nahm Medikamente, aber die Beschwerden wurden davon nicht gelindert. Arie stand früher auf, um Saft zu pressen, Wäsche zu sortieren, aufzuräumen und Briefe zu schreiben, bevor er zur Nationalbibliothek fuhr. Nach der Arbeit kaufte er ein und erledigte Besorgungen. Er lieh sich Geld von seinen Eltern, damit er Fania in ein Erholungsheim in Arsa schicken konnte. „Deine Mutter straft sich selbst“, erklärte er Amos eines Tages. „Nur um mich zu bestrafen.“ (Seite 634) Mitunter kam Arie mitten in der Nacht nach Hause und duschte, bevor er zu Bett ging. Zufällig sah Amos ihn eines Tages mit einer fremden Frau in einem Café sitzen. In der Nacht auf den 6. Januar 1952 nahm sich die achtunddreißigjährige Fania Klausner mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Ihre Verwandten kamen weder zur Trauerwoche noch zur Beerdigung von Tel Aviv nach Jerusalem, denn sie gaben Arie die Schuld und wollten deshalb nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Drei Monate nach dem Suizid seiner Mutter fand Amos‘ Bar Mizwa statt, aber zum Feiern war niemandem zumute.

Sein Vater heiratete ein Jahr später zum zweiten Mal. Amos wechselte von der Tachkemoni-Schule aufs Gymnasium, aber mit seinen Schulleistungen ging es steil bergab. Nachdem Arie eingesehen hatte, dass er mit Strafen nichts gegen den Wunsch seines Sohnes ausrichtete, in einen Kibbuz zu ziehen, ließ er Amos die Sommerferien 1954 als Gast im Kibbuz Sde Nechemja verbringen. Amos Klausner änderte seinen Namen in Amos Oz (das hebräische Wort Oz bedeutet Stärke) und statt von Sde Nechemja nach Hause zurückzukehren, ging er als Internatsschüler in den Kibbuz Hulda.

Als ich das Haus meines Vaters verließ, wollte ich nicht mehr wie er „Klausner“ heißen. Ich wollte kein Büchernarr mehr sein, ich wollte auch kein rechter Intellektueller sein. Ich wollte noch nicht einmal jüdisch sein. Ich wollte ein sonnengebräunter, sozialistischer Soldat-Revolutionärer-Traktorfahrer sein. Ich dachte, so könnte ich die Mädchen am besten beeindrucken Aber sehr schnell bemerkte ich, dass man seine Vergangenheit nicht hinter sich lassen kann. Man muss kein Sklave dieser Vergangenheit werden, aber man muss in der Lage sein, sich selbst und auch als Gemeinschaft genau in die Augen zu schauen. (Amos Oz in einem Interview)

Arie Klausner zog mit seiner zweiten Ehefrau nach London. Dort kamen Amos‘ Halbgeschwister Marganita und David zur Welt. Er machte den Führerschein und promovierte. Fünf Jahre blieb er in London, dann kehrte er mit seiner Familie nach Jerusalem zurück und weil er keine Dozentenstelle bekam, nahm er seine Arbeit in der Nationalbibliothek wieder auf. Er erlag am 11. Oktober 1970 im Alter von sechzig Jahren einem Herzanfall.

Im Alter von sechzehn Jahren wurde Amos von einer dreißigjährigen Lehrerin und Kindergärtnerin im Kibbuz in die Liebe eingeführt. Ein paar Monate später verließ sie den Kibbuz. Später, als Amos Oz sich bereits als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte, glaubte er bei einer Lesung in den USA, die Lehrerin im Publikum wiederzuerkennen. Er ging auf sie zu und küsste sie, aber es war ihre Tochter. Die Frau, die ihm gezeigt hatte, wie man Liebe macht, saß vor ihr im Rollstuhl und erkannte niemanden mehr.

Im Januar 1961 schrieb Amos Oz eine Replik zu einer Abhandlung von David Ben Gurion – und wurde daraufhin vom Ministerpräsidenten persönlich empfangen. Allerdings kam er in der Dreiviertelstunde kaum zu Wort, denn Ben Gurion hielt einen Monolog über Spinoza.

Nach dem Wehrdienst (1961) studierte Amos Oz im Auftrag des Kibbuz an der hebräischen Universität in Jerusalem Literatur und Philosophie. Dann kehrte er nach Hulda zurück, wo er inzwischen mit einer Frau namens Nily verheiratet war und blieb mit ihr bis 1985 dort.

Als ich in dem verlassenen Hinterzimmer des Kulturhauses in Hulda erwischt wurde, wie ich Gedichte kritzelte, war bereits allen klar, dass aus mir nichts Vernünftiges werden würde. (Seite 801)

Mit dreiundneunzig, drei Jahre nach dem Tod meines Vaters, fand Großvater [Alexander], die Zeit sei gekommen und ich sei alt genug für ein Gespräch unter Männern […] und sagte: „Es wird Zeit, dass wir ein wenig über die Frau reden.“
Und sofort präzisierte er: „Nu, über die Frau im Allgemeinen.“
(Ich war damals sechsunddreißig Jahre alt, seit fünfzehn Jahren verheiratet und Vater zweier heranwachsender Töchter.) (Seite 200)

Inzwischen wohnt Amos Oz zurückgezogen und bescheiden in der Wüstenstadt Arad.

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In seinem Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ beschwert Amos Oz sich über „schlechte Leserinnen und Leser“, die den Schriftsteller fragen, was erfunden und was autobiografisch ist.

Die „Quintessenz“ wollen sie. Das, „was der Dichter sagen wollte“. Ich soll ihnen „in meinen Worten“ meine subversive Botschaft preisgeben, „die Moral von der Geschichte“, die politische Einstellung, „die Weltanschauung“. An Stelle eines Romans wollen sie etwas Konkretes, etwas handfestes mit Bodenhaftung […]
Den Klatsch wollen sie. Durchs Schlüsselloch spähen. Sie möchten erfahren, was wirklich in deinem Leben passiert ist, nicht das, was du hinterher in deinen Büchern darüber geschrieben hast. Man soll ihnen endlich unverblümt und unumwunden verraten, wer es wirklich mit wem getrieben hat, und wie und wie oft […]
Der schlechte Leser kommt und fordert mich auf, die Geschichte, die ich geschrieben habe, für ihn zu schälen […] (Seite 54)

Tatsächlich handelt es sich bei „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ um einen sehr persönlichen autobiografischen Roman, in dem Fakten und Fiktion vermischt sind, ein Opus Magnum der Erinnerung, geboren vielleicht aus dem Bedürfnis, den Selbstmord der Mutter zu verstehen. Er hatte sie nicht retten können, aber als Schriftsteller war er in der Lage, ihr ein literarisches Denkmal zu setzen. Ausdrücklich erwähnt Amos Oz, dass er sich auf die Autobiografie seines berühmten Onkels Joseph Klausner – „Mein Weg zu Auferstehung und Erlösung“ – stützte. Viele anekdotische Szenen habe er jedoch erfunden, betont er in Interviews.

In orientalischer Üppigkeit und mit hin und wieder überbordender Liebe zum Detail erzählt Amos Oz „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“. Weit holt er aus: Die Familiensaga beginnt um 1900 in Litauen und Odessa; er rekonstruiert die Geschichte seiner Vorfahren von den Urgroßeltern an, dazu auch die Biografien weiterer Verwandter, schreibt über ihre Hoffnungen und Wünsche, Ängste und Neurosen. „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ ist jedoch keine reine Familiengeschichte, sondern ein entscheidender Teil davon spielt vor dem Hintergrund der Entstehung des Staates Israel. Das damalige Milieu in Palästina wird von Amos Oz beschworen, und wir hören auch von dem Konflikt der jüdischen Einwanderer, von denen einige geistig nie angekommen sind, und ihren in Palästina bzw. Israel geborenen Kindern. In der „Geschichte von Liebe und Finsternis“ kreuzen sich Roman und Autobiografie, Familiensaga und Gesellschaftsgeschichte. Manche Kapitel sind nüchtern und mit Daten, Namen und Fakten überhäuft, andere bestehen aus Anekdoten und wieder andere zeichnen sich durch eine dichte Atmosphäre aus. Subtil und differenziert, mitunter auch ironisch schildert Amos Oz seine Beobachtungen über Charaktere und Lebensweisen. Der Ich-Erzähler – zumeist der Autor – lässt sich von seinen Erinnerungen treiben und springt dabei schon mal hundert Jahre vor und zurück. Hin und wieder wird bereits Erwähntes noch einmal aufgegriffen, wiederholt, unter einem anderen Aspekt betrachtet oder ausführlicher geschildert.

Natalie Portman verfilmte den Roman von Amos Oz: „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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