Toni Morrison : Heimkehr

Heimkehr
Originalausgabe: Home Alfred A. Knopf, New York 2012 Heimkehr Übersetzung: Thomas Piltz Rowohlt Verlag, Reinbek 2014 ISBN: 978-3-498-04525-8, 156 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2015 ISBN: 978-3-499-25985-2, 156 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Alter von 19 Jahren meldet Frank Money sich zum Militär, um der Trostlosigkeit des Heimatortes Lotus/Georgia zu entkommen. Kurz darauf brennt seine vier Jahre jüngere Schwester Cee nach Atlanta durch, aber der Kerl, der sie dazu überredet hat, lässt sie sitzen und verschwindet mit dem Auto ihrer Großmutter. Traumatisiert kehrt Frank aus dem Koreakrieg zurück. Als er erfährt, dass Cee todkrank ist, macht er sich auf den Weg nach Georgia – und findet wieder zu sich selbst ...
mehr erfahren

Kritik

Toni Morrison entwickelt die mit Grausamkeiten gespickte Geschichte in "Heimkehr" nicht chronologisch, sondern im Wechsel zwischen einer auktorialen Erzählerstimme und den Erinnerungen bzw. Albträumen des Protagonisten.
mehr erfahren

Als Frank vier Jahre alt ist, flieht seine schwangere Mutter Ida Money aus Bandera County/Texas nach Lotus/Georgia und bringt dort in Reverend Baileys Kirchenkeller die Tochter Ycidra („Cee“) zur Welt. Während Ida tagsüber als Erntehelferin und Baumwollpflückerin arbeitet und spätabends im Sägewerk putzt, schuften ihr Ehemann Luther und dessen Bruder als Landarbeiter. Weil die Eltern deshalb keine Zeit haben, sich um die Kinder zu kümmern, wachsen diese bei den Großeltern Salem und Lenore Money auf. Lenores erster Ehemann betrieb eine Tankstelle in Heartsville/Alabama. Nachdem ihn jemand erschossen hatte, zog die Witwe nach Lotus und heiratete den Witwer Salem Money. Für ihn war das eine gute Partie, denn Lenore übernahm in Lotus ein Haus, das eigentlich einem Cousin ihres Mannes gehörte; sie hat ein Auto geerbt und bezieht eine Witwenrente von der Lebensversicherung ihres Mannes.

Weil Mama und Pap von morgens vor Sonnenaufgang bis in die Dunkelheit arbeiteten, erfuhren sie nie, dass Miss Lenore Wasser statt Milch über den geschroteten Weizen goss, den Cee und ihr Bruder zum Frühstück bekamen. Und auch nicht, dass die beiden, wenn sie Striemen und Narben an den Beinen hatten, zum Lügen angehalten wurden und sagen mussten, sie hätten sich die Wunden beim Spielen am Fluss geholt, wo dorniges Brombeer- und Heidelbeergestrüpp wuchs.

Als Frank und Cee sich einmal in einer Pferdekoppel herumtreiben, die zu einer Farm gehört und deren Betreten verboten ist, beobachten sie, wie ein paar Männer einen toten Schwarzen in einer Grube verscharren, ohne die Kinder zu bemerken.

Franks gleichnamiger Onkel meldet sich als Koch zur Kriegsmarine und kommt bei einem Schiffsuntergang ums Leben.

Die Armee ist auch für den jüngeren Frank die einzige Möglichkeit, aus dem Kaff Lotus fortzukommen. Er und seine beiden Freunde Mike und Stuff melden sich 1949 freiwillig zum Militärdienst und werden später in den Korea-Krieg geschickt. Dort muss Frank mit ansehen, wie Mike und Stuff bald nacheinander fallen.

Er selbst überlebt den Krieg. Nach Lotus will er nie wieder einen Fuß setzen. In Seattle findet er eine Freundin, Lillian („Lily“) Florence Jones, und zieht zu ihr. Er trauert um seine Freunde, leidet darunter, dass er ihren Tod nicht verhindern konnte und erkennt keine Farben mehr, sondern sieht alles nur noch in Grautönen. Nachmittags verdient er etwas Geld in einer Autowaschanlage, aber Ehrgeiz entwickelt er keinen. Das belastet Lily:

Immer wieder kam sie nach Hause und sah, dass er völlig untätig war, nur auf dem Sofa hockte und den Teppich anstarrte, und das zerrte an ihren Nerven.

Wenn sie ihn nach der Zukunft fragte, nach seinen Plänen, so antwortete er: „am Leben bleiben“.

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Korea bekommt der inzwischen 24-Jährige in einer psychiatrischen Klinik in Seattle einen Brief, in dem es heißt, seine Schwester Cee sei todkrank. Frank weiß nicht, wie und warum er in die Psychiatrie kam. Er erinnert sich nur daran, dass er mit Handschellen gefesselt in einem Streifenwagen saß. Vermutlich war er irgendwie ausgerastet. Obwohl er von den verabreichten Psychopharmaka benommen ist, gelingt ihm die Flucht über die Feuerleiter. Schuhe besitzt er keine. Es ist Winter, und seine nackten Füße drohen an den Metallsprossen festzufrieren.

Hilfe erbittet er von Reverend John Locke und dessen Ehefrau Jean im Pfarramt der nahen Zionskirche. Er muss zu seiner Schwester nach Georgia. Der Geistliche gibt ihm Schuhe und kauft ihm eine Busfahrkarte nach Portland/Oregon. Dort soll ihm Reverend Jessie Maynard von der Baptistengemeinde weiterhelfen. Von ihm bekommt Frank eine Zugfahrkarte nach Georgia. Dort hofft Frank, seine Schwester noch lebend anzutreffen.

Cee war 15 Jahre alt, als sie mit einem Mann, der sich Prince nannte, im Auto ihrer Großmutter nach Atlanta durchbrannte. Aber ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht: nach wenigen Wochen ließ Prince sie sitzen und nahm das Auto mit. Ida Money starb dann an einer Lungenentzündung, und der Witwer Luther Money erlag einen Monat später einem Schlaganfall. Schließlich hörte Cee von einem Dr. Beauregard Scott im Stadtteil Buckhead, der eine Art Arzthelferin suchte, und sie wurde von ihm und seiner Frau eingestellt. Von der Haushälterin Sarah Williams erfuhr Cee, dass die beiden Kinder des Ehepaars in einem Heim lebten, seit sie an Enzephalitis erkrankt waren. Sarah war es dann auch, die Cees Bruder schrieb.

Sie wusste, dass er [Dr. Scott] Substanzen spritzte und den Patienten Arzneien zu trinken gab, die er selbst zusammengemischt hatte, und dass er gelegentlich auch Abtreibungen bei Damen der Gesellschaft vornahm. Nichts davon beschäftigte oder beunruhigte sie. Entgangen war ihr aber, dass ihn sein Interesse am weiblichen Fortpflanzungsapparat veranlasst hatte, Gerätschaften zu entwerfen, die ihm einen tieferen Einblick verschaffen sollten. Er hatte neue Varianten des Spekulums entwickelt. Als ihr jedoch Cees ständige Erschöpfung auffiel, ihr Gewichtsverlust und die immer längere Dauer ihrer monatlichen Blutungen, bekam sie es mit der Angst zu tun und schrieb schließlich dem einzigen Angehörigen, von dem Cee eine Adresse hatte.

In Atlanta wird Frank auf der Suche nach einem Hotelzimmer überfallen und ausgeraubt. Am nächsten Tag fährt er mit einem Bus nach Buckhead und findet die im Brief angegebene Adresse. Sarah öffnet ihm. Als Dr. Scott den fremden Afroamerikaner erblickt, befürchtet er einen Raubüberfall und er will auf Frank schießen, aber sein Revolver ist nicht geladen, und es klickt nur. Dass er die Polizei anruft, verhindern Frank und Sarah gemeinsam. Der Arzt kann den Eindringlich nicht daran hindern, die bewusstlose Cee aus dem Bett zu heben und aus dem Haus zu tragen. Mit einem Bus bringt Frank sie nach Lotus. Die anderen Fahrgäste halten Cee vermutlich für sturzbetrunken.

Frank vertraut seine Schwester einer Frau namens Ethel Fordham an. Sie und ihre ebenfalls afroamerikanischen Nachbarinnen kümmern sich um die Schwerkranke, lassen aber Frank nicht zu ihr, denn sie sind überzeugt, dass die Nähe eines Mannes Cees Genesung verhindern würde. Als sie nicht mehr bettlägerig ist, muss sie sich jeden Tag mit gespreizten Beinen auf die Veranda legen und ihr Geschlecht von der Sonne ausbrennen lassen. Nach zwei Monaten darf Frank sie endlich besuchen.

Cee erholt sich, wird aber keine Kinder bekommen können.

Als Frank das erfährt, erinnert er sich an ein koreanisches Kind, das sich jeden Tag anpirschte, um essbare Abfälle der Soldaten zu holen. Wenn er bisher daran dachte, glaubte er einen ihn bei der Wache ablösenden Kameraden zu sehen, der auf das Mädchen aufmerksam wurde. Es stand auf, sagte ein paar den Amerikanern unverständliche Worte und griff dem Soldaten in den Schritt. Daraufhin erschoss dieser die kleine Koreanerin.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich, dass der Wachtposten mehr empfand als nur Ekel. Ich glaube, er spürte die Versuchung, und die war es, die er töten musste.

Erst jetzt gesteht Frank sich ein, dass die Erinnerung falsch war. Nicht ein Kamerad, sondern er selbst schoss dem hungrigen Mädchen den Kopf weg, und zwar nach mehreren Tagen, an denen er sich von dem Kind hatte oral befriedigen lassen.

Sobald Cee dazu in der Lage ist, näht sie aus Stofffetzen einen Quilt. Eigentlich ist er für den Verkauf an Touristen gedacht, aber Frank hat inzwischen erfahren, wie der Afroamerikaner gestorben war, den die Weißen auf der Pferdekoppel verscharrten, als er und Cee noch Kinder waren. Der Mann und sein Sohn Jerome stammten aus Alabama. Man hatte die beiden gefesselt auf das Farmgelände bei Lotus verschleppt. Dort mussten Vater und Sohn mit Messern gegeneinander kämpfen, und die Weißen wetteten wie bei einem Hunde- oder Hahnenkampf auf den Sieger. Das machten sie auch mit anderen Schwarzen. Sie zwangen die Männer zu Zweikämpfen, bis jeweils einer von ihnen tot am Boden lag. In diesem Fall war es der Vater, der seinen Sohn Jerome angefleht hatte, ihn zu töten, damit der Junge eine Überlebenschance bekam. Frank findet die Stelle, an der Jeromes Vater verscharrt wurde. Er gräbt die Knochen aus und legt sie in den von Cee genähten Quilt. Frank hat seine Farbenblindheit überwunden und kann die Farben sehen: lila, karmesin, gelb und marineblau. Mit seiner Schwester zusammen bestattet er die in den Quilt gehüllten sterblichen Überreste des Toten unter einem Lorbeerbaum.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Heimkehr“ handelt von einem 24-jährigen Veteran des Koreakriegs, einen traumatisierten Afroamerikaner, der erst wieder zu sich selbst findet, als er in die Heimat in Georgia reist, um seine vier Jahre jüngere Schwester zu retten.

Tief in ihr schlummerte das Bild, das ich insgeheim von mir selbst hatte – ein starkes, gutes Ich […]

Der Roman von Toni Morrison ist mit Grausamkeiten gespickt. Einige werden von rassistischen Weißen begangen, andere auch von Schwarzen, und bei der einen oder anderen Gewalttat in „Heimkehr“ spielt die Hautfarbe keine Rolle. Eine Frau schikaniert ihre Enkel, ein US-Soldat missbraucht ein koreanisches Kind, und ein Arzt nutzt seine Autorität für perverse Manipulationen an den Geschlechtsorganen einer jungen Frau.

Toni Morrison entwickelt die Geschichte im Wechsel zwischen einer auktorialen Erzählerstimme und der des Protagonisten. Wenn Frank Money in der Ich-Form zu Wort kommt, ändert die Nobelpreisträgerin die Sprache entsprechend. Der Perspektivenwechsel korrespondiert mit der inneren Zerrissenheit der Hauptfigur. Der Rahmen bzw. die Gegenwart in „Heimkehr“ spielt um 1954 herum. In diesem Teil geht es um den Kriegsheimkehrer Frank Money, der nach Georgia reist, um seiner todkranken Schwester beizustehen. Ebenso wichtig ist die Vergangenheit, die Vorgeschichte, die Toni Morrison episodenweise in Form ein Erinnerungen und Rückblenden eingebaut hat.

Frank Money überwindet sein Trauma etwas unvermittelt. Wirklich nachvollziehbar ist das nicht. Auch die Heilung seiner Schwester Cee inmitten von Afro­amerikanerinnen, die keinen Mann in Cees Nähe lassen, weist beinahe märchen­hafte Züge auf. Und dann folgt ein ebenso unwirkliches, hoffnungsvolles Ende.

Toni Morrison hat den Roman „Heimkehr“ ihrem 2010 gestorbenen Sohn Slade gewidmet.

Den Roman „Heimkehr“ von Toni Morrison gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Doris Wolters und André Benndorff (Regie: Corinna Zimber und Julian Wollny, ISBN 978-3-89964-774-7).

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Toni Morrison: Sehr blaue Augen
Toni Morrison: Teerbaby
Toni Morrison: Jazz
Toni Morrison: Liebe
Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind
Toni Morrison: Rezitativ

Imre Kertész - Liquidation
"Liquidation" ist ein kluger, kunstvoller Roman von Imre Kertész über die Verstörung durch den eigentlich unbegreiflichen Holocaust.
Liquidation

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.