Miriam Meckel : Brief an mein Leben

Brief an mein Leben
Brief an mein Leben.Erfahrungen mit einem Burnout Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 2010 ISBN: 978-3-498-04516-6, 224 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2011 ISBN: 978-3-499-62701-9, 224 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Miriam Meckel schildert, wie sie im Rahmen der Therapie nach einem Burn-out zwei sogenannte Inaktivitätstage absolviert, also 48 Stunden ohne Handy und Laptop, Bücher und Zeitungen, Musik, Radio und Fernsehen allein in ihrem Klinikzimmer verbringt. Das ist sozusagen die Rahmenhandlung des Buches. In dieser Situation des Innehaltens horcht sie in sich hinein, denkt über ihr Leben nach und reflektiert über den Klinikalltag.
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Kritik

"Brief an mein Leben" ist weder Abhandlung noch Ratgeber, sondern der Erfahrungsbericht einer klugen, nachdenklichen Frau, die nach einem Burn-out in einer Klinik therapiert wird.
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Nachdem die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel wieder einmal sechs Wochen lang fast ununterbrochen unterwegs war, brach sie in Berlin mit heftigen Bauchschmerzen zusammen. Der Arzt diagnostizierte einen schweren Erschöpfungszustand in Verbindung mit einer Infektion der Stoffwechselorgane. Viele würden sagen: Burn-out-Syndrom. Warnsignale wie eine seit Monaten anhaltende Konzentrationsschwäche und einen Hörsturz hatte Miriam Meckel missachtet. Inzwischen ist sie für vier Wochen in einer Klinik in der Nähe des Widdersteins, des höchsten Berges im Kleinwalsertal.

Zur Therapie gehören zwei Inaktivitätstage. Miriam Meckel spricht lieber vom medizinischen Stubenarrest. Achtundvierzig Stunden soll sie weder ihr Zimmer verlassen, noch mit jemandem sprechen. Handy und Laptop, Bücher und Zeitungen, Musik, Radio und Fernsehen sind in dieser Zeit tabu. Nur mit der Hand schreiben darf sie. Sie verfasst einen „Brief an mein Leben“ „als eine verlangsamte kommunikative Annäherung an eine gestörte Beziehung“.

Miriam Meckel denkt über ihr Leben nach.

Langeweile kennt sie nicht.

Er [der Zustand der Langeweile] kann gar nicht erst entstehen, weil ich immer im Spannungsfeld eines Überangebots von möglichen Aktivitäten, von Dingen, die mich interessieren und neugierig machen, und einem Unterangebot von zur Verfügung stehender Zeit lebe. Es ist immer zu wenig Zeit für die vielen Dinge, die ich tun und erkunden möchte.

Vor dem Klinikaufenthalt definierte sie sich selbst „als globale Neonomadin“ und begriff ihr Leben „als zu lösende logistische Herausforderung“.

Ich war fünfzehn Jahre um die Welt gereist, hatte gearbeitet, geredet, geschrieben, akquiriert, repräsentiert, bis der Arzt kam. Im Wortsinne. Ich habe keine Grenzen gesetzt, mir selbst nicht und auch nicht meiner Umwelt, die zuweilen viel verlangt, mich ausgesaugt hat wie ein Blutegel seinen Wirt. Und das meiste von dem, was ich gemacht habe, hat mir tatsächlich Freude gemacht […] Aber ich habe in alldem nicht „die aristotelische Mitte finden können zwischen dem ‚Zuviel‘ und dem ‚Zuwenig'“. (Binnenzitat aus Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M 2008)

Inzwischen weiß sie, dass sie sich ein Übermaß an Mobilität und Information zumutete.

Miriam Meckel versucht nicht, sich aus der Verantwortung für ihren Burn-out zu stehlen, aber sie sieht Zusammenhänge mit der Leistungsgesellschaft:

Der Blick auf das große Ganze spielt in unserer Alltagswelt selten eine Rolle. Wir funktionieren. Wir bewältigen Herausforderungen und lösen Probleme, die nicht mehr Probleme heißen dürfen, sondern auch Herausforderungen heißen.

Als ob wir uns nach hundert Jahren auf die von Frederick W. Taylor entwickelten Prinzipien des Scientific Management besännen, gehen in unserer Höher-Schneller-Gesellschaft Individuen in der Struktur bzw. Organisation auf, werden die Person und ihre Leistungen entkoppelt.

Dieses Funktionieren hält auch in der Klinik an.

Wenn mein Therapieplan mich aber Tag für Tag von Termin zu Termin schickt, verfalle ich sehr schnell in diesen fremdgesteuerten Mitmachmodus, den ich auch aus meiner Zeit in der Politik und anderen Phasen meines Berufslebens kenne. Ich durchlaufe Termine. ich hake ab, ohne mich intensiver oder nachhaltig mit einem Thema oder einer Aufgabe zu beschäftigen. Ich funktioniere. Auch unter den neuen Regeln dieses Kliniklebens.

Wenn sie sich außerhalb ihres Zimmers befindet, hält sie ihren Blick gesenkt, nicht aus Arroganz oder Schüchternheit, sondern um Außenreize auszublenden.

Ich begrenze meinen Blick und meinen Wahrnehmungshorizont auf einen kleinen Kegel, den ich vor mir herschiebe, um durch die Welt zu kommen, als liefe ich mit einer Taschenlampe durch die Nacht.

Ich brauche im Moment nicht Reize, sondern Ruhe. Ich brauche nicht das Neue, sondern das Bekannte und Bewährte. Ich will nicht den immer wiederkehrenden Unterschied, sondern die Konstanz, um die Ruhe zu finden, die als Ausgangspunkt für alles notwendig ist.

Nach vierzig Stunden ohne Schlaf – auch das ein Bestandteil der Therapie – aß Miriam Meckel zu ihrer eigenen Verwunderung Leberkäse. Das tat sie sonst nie, denn sie glaubte, er würde ihr nicht bekommen. Der Arzt wies sie später darauf hin, dass durch den Schlafmangel die „innere Stimme“ ausgeschaltet wurde, die uns davon abhält, das zu tun, worauf wir Lust haben.

Bei einer anderen Übung lernte Miriam Meckel, sich sukzessive auf eines der verschiedenen Sinnesorgane zu konzentrieren, zuerst nur auf visuelle Eindrücke zu achten, dann mit geschlossenen Augen zu hören und so weiter. Als sie nun während des medizinischen Stubenarrests ein Müsli isst und aus dem Fenster in die Winterlandschaft schaut, hört sie sich:

Während ich esse, finde ich mich ganz schön laut vor dieser Stille da draußen. Es knirscht, kracht und schäumt in meinem Mund, und ich bin mir selbst eine Lärmbelästigung. Sonst höre ich das nie, weil bei mir immer Musik läuft. Wenn genug Außengeräusche da sind, werden die Geräusche in meinem Inneren überlagert. Jetzt höre ich sie gnadenlos. Schön klingt das nicht.

Ein Prozess des Sich-neu-Denkens hat begonnen.

Ich finde mich nicht mehr in dem Menschen, der immer die Erwartungen erfüllt, die in ihn gesetzt werden.

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Miriam Meckel wurde am 18. Juli 1967 in Hilden geboren. Sie studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft, Jura und Sinologie. Als Redakteurin und Moderatorin begann sie 1990 eine Karriere beim Fernsehen, mit dem sie sich auch in ihrer Promotion (1994) beschäftigte. 1995 übernahm sie eine Vertretungsprofessur am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Vier Jahre später avancierte Miriam Meckel zur ordentlichen Professorin und übernahm die Leitung des Instituts. Von März 2001 bis Oktober 2002 arbeitete sie als Staatssekretärin für Medien und Pressesprecherin in der Regierung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement. Unter dessen Nachfolger Peer Steinbrück amtierte sie bis 2005 als Staatssekretärin für Europa, Internationales und Medien. Seit Oktober 2005 ist Miriam Meckel Professorin für Corporate Communications an der Universität St. Gallen.

In ihrem Buch „Brief an mein Leben“ schreibt die Kommunikations-Wissenschaftlerin über ihre „Erfahrungen mit einem Burnout“ (so der Untertitel). Es handelt sich weder um eine medizinische Abhandlung über das Burn-out-Syndrom noch um einen Ratgeber, sondern eher um das „Protokoll einer Ratlosigkeit“ (Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 24. März 2010). Miriam Meckel schildert, wie sie im Rahmen der Therapie nach dem Burn-out zwei sogenannte Inaktivitätstage absolviert, also 48 Stunden ohne Handy und Laptop, Bücher und Zeitungen, Musik, Radio und Fernsehen allein in ihrem Klinikzimmer verbringt. Das ist sozusagen die Rahmenhandlung des Buches. In dieser Situation des Innehaltens horcht sie in sich hinein, denkt über ihr Leben nach und reflektiert über den Klinikalltag.

Miriam Meckel ist eine kluge Frau, eine analytisch denkende Intellektuelle. Sie beobachtet sehr genau. Das macht „Brief an mein Leben“ lesenswert. Vielleicht erkennt sie auch, dass ihr Bestreben, Probleme mit dem Kopf zu lösen, Teil des Problems war (oder auch noch ist). Immerhin schreibt sie:

Ich denke einfach alles weg, was mich berührt oder innerlich aus dem Gleichgewicht bringen könnte.

„Brief an mein Leben“ ist ein sehr persönliches Buch, obwohl Miriam Meckel kaum etwas aus ihrem Leben preisgibt. Sie vermeidet es auch, eine Art Bekehrungsgeschichte zu schreiben und verzichtet auf jede Effekthascherei. Zwar zitiert sie Sigmund Freud, Max Scheler, Niklas Luhmann und Peter Sloterdijk, Thomas Mann, Wilhelm Genazino und Herta Müller, aber am eindrucksvollsten sind doch ihre eigenen Beobachtungen, etwa wenn sie in der ungewohnten Stille ihre Kaugeräusche wahrnimmt. Auf die gesellschaftskritischen Passagen hätte sie wohl besser verzichtet, denn sie bleiben oberflächlich.

Sarkastisch ist der Satz:

Der Burnout gehört zum erfolgreichen Berufsleben wie das Eigenheim zur Vorbildfamilie.

Miriam Meckel zitiert unter anderem aus dem Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, der den Begriff „Burn-out“ noch nicht kennen konnte, das Syndrom jedoch zutreffend beschrieb:

Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Inneren – eine Verödung so stark, dass sie sich fast unablässig als ein unbestimmt lastender Gram fühlbar machte – verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen Entschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die ‚Dehors‘ zu wahren, hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewusst, gezwungen gemacht und bewirkt, dass jedes Wort, jede Bewegung, jede geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden Schauspielerei geworden war.

„Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout“ von Miriam Meckel gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Miriam Meckel (gekürzte Lesefassung: Katrin Fahnenbruck, Regie: Leonie von Kleist, Köln 2010, 4 CDs, ISBN 978-3-8371-0473-8).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Burn-Out-Syndrom

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In der Erzählung "Das dicke Kind" erinnert Marie Luise Kaschnitz sich an ihre eigene Kindheit, in der sie ihre beiden Schwestern beneidete. Es ist eine seltsame Geschichte voller Angst, Widerwillen und Selbstaggression.
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