Ian McEwan : Abbitte

Abbitte
Originalausgabe: Atonement Jonathan Cape, London 2001 Abbitte Übersetzung: Bernhard Robben Diogenes Verlag, Zürich 2002 ISBN 3-257-06326-1, 535 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Dreizehnjährige beobachtet ihr unverständliche Vorgänge und deutet sie falsch. Ihre Zeugenaussage hat folgenschwere Auswirkungen auf das Leben aller auf einem Landgut anwesenden Personen.
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Kritik

Wie menschliches Handeln aus der Sicht Anderer missinterpretiert wird, hat Ian McEwan psychologisch gut beobachtet, spannend erzählt und nachvollziehbar dargestellt. Der Autor passt seine Sprache in "Abbitte" der jeweiligen Atmosphäre gekonnt an.
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In dem Landhaus Tilney wohnt die Familie Tallis: Vater Jack arbeitet im Innenministerium in London und kommt selten nach Hause. Die Mutter, Emily, besteht auf Einhaltung der Etikette in dem „upper-class“-Haushalt, steht aber wegen häufiger Migräneanfälle oft nicht zur Verfügung. Cecilia, die ältere Tochter, die nach ihrem Literaturstudium die Sommerferien auf dem Gut verbringen will, muss daher hin und wieder Hausfrauenpflichten übernehmen. Ihr gutmütiger Bruder Leon wohnt nicht in Tilney.

Häufiger Besucher im Haus ist der dreiundzwanzigjährige Robbie Turner, der Sohn der Reinemachefrau bei der Familie Tallis. Dem begabten, selbstbewussten jungen Mann finanziert Jack Tallis ein Literatur- und dann noch ein Medizinstudium.

Die jüngere Tochter, die dreizehnjährige Briony, ist auf Harmonie und Ordnung bedacht. Da sie wie ein Einzelkind aufgewachsen ist, hat sie eine Neigung entwickelt, sich schriftlich auszudrücken. Mit schöpferischer Fantasie schreibt sie bereits mit elf Jahren ihre erste Geschichte. Ihrem Bruder Leon hat sie ein Theaterstück gewidmet, das sie anlässlich seines angekündigten Besuches aufführen will: „Die Heimsuchungen Arabellas“.

An dem Tag, an dem Leon kommen wird, trifft Brionys Kusine Lola Quincey mit ihren Zwillingsbrüdern Jackson und Pierrot ein. Sie sollen den Sommer über auf dem Landgut bleiben, weil sich ihre Eltern getrennt haben. Briony kann die kokette, frühreife fünfzehnjährige Lola und die zwei neunjährigen Vettern nur mühsam überzeugen, in ihrem Theaterstück mitzuspielen. Dementsprechend schleppend und lustlos verlaufen die Proben. Sie muss sich eingestehen, dass ihr Vorhaben, das Stück aufzuführen, gescheitert ist.

Briony gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf beharren, dass die Welt genau so und nicht anders zu sein hat.

Wütend läuft sie in den Park. Dort wird sie Zeugin von Geschehnissen, die sie nicht einordnen kann: So beobachtet sie zum Beispiel Cecilia, die sich am Triton-Brunnen mit Robbie um eine Vase rauft und plötzlich ihre Kleider abstreift, in das Wasserbecken steigt und dann ins Haus zurückgeht. Gegen Abend drückt Robbie ihr einen Umschlag in die Hand und bittet sie, diesen Cecilia auszuhändigen. Da ihr Robbies Verhalten seltsam erscheint, öffnet sie das Kuvert und liest den Brief. Auf den ersten Blick ist es ein Liebesbrief, doch es kommt ein Wort darin vor, das sie – ohne es je gehört zu haben – obszön findet. Später beobachtet sie in der Bibliothek Robbie mit ihrer Schwester, auf die er – wie es Briony scheint – grob handgreiflich zugeht. (Sie ahnt nicht, dass Cecilia sich soeben von Robbie deflorieren ließ.) Als die beiden sich von Briony entdeckt sehen, rennt Cecilia mit den Händen vorm Gesicht davon. Kein Zweifel, so beurteilt Briony die Lage, ihre ältere Schwester muss von ihr beschützt werden.

Die Zeit der Märchen lag hinter ihr, im Verlauf nur weniger Stunden war sie Augenzeugin geheimnisvoller Vorgänge geworden, hatte ein unaussprechliches Wort gelesen, eine brutale Tat vereitelt und war, indem sie den Hass eines angeblich vertrauenswürdigen Erwachsenen auf sich gezogen hatte, zur Mitspielerin in jenem Drama des Lebens geworden, das außerhalb der Kinderstube stattfand.

Mit Lola scheint auch etwas nicht zu stimmen, sie ist am Arm zerkratzt und beklagt sich über ihre Brüder, die dauernd quengeln und nach Hause wollen. Briony versucht, die sonst so forsche Kusine zu trösten und schiebt deren eigentümliches Verhalten auf das angespannte Verhältnis von Lolas Eltern.

Leon trifft schließlich ein und wird von Briony überschwänglich begrüßt. Er hat einen Freund mitgebracht, Paul Marshall. Der vermögende, eher unelegante Besitzer einer Schokoladenfabrik langweilt die Gesellschaft mit seiner Angeberei: Im bevorstehenden Krieg ist er als Lieferant von Schokoriegeln als Proviant für die Armee im Gespräch.

Das Abendessen verläuft in gereizter Atmosphäre. Lolas Brüder verlassen mit einer vorgeschobenen Entschuldigung die Tafel. Dann entdeckt man auf einem Stuhl eine von den Zwillingen zurückgelassene Nachricht: Wir sind weg, wir wollen nach Hause. Eilig versorgt man sich mit Fackeln, um nach den Davongelaufenen zu suchen; weit können sie noch nicht sein. Briony schließt sich keiner der verschiedenen Suchgruppen an. Aufgeregt und verärgert stiehlt sie sich allein davon, um ihren Vettern auf die Spur zu kommen.

Im nächtlichen Park entdeckt sie zwei Personen – undeutlich zwar, aber soviel kann sie sehen, dass diese sich körperlich sehr nahe sind. Ein Mann springt auf, läuft davon und Lola bleibt verstört im Gras sitzen. Tröstend redet Briony auf ihre Kusine ein, die verletzt zu sein scheint, und versichert ihr, dass sie den Mann erkannt habe und mit ihrer Aussage für entsprechende Bestrafung des Wüstlings sorgen werde.

Die Missdeutung ihrer Beobachtung von Cecilias und Robbies Verhalten während des Tages verleiten Briony zu dieser verhängnisvollen Behauptung, die nicht nur für das Leben Robbies folgenschwere Auswirkungen haben wird.

Gegen Morgen taucht Robbie mit den zwei Jungen auf – da erwartet ihn bereits die Polizei mit Handschellen.

(Die Geschehnisse dieses einen langen heißen Tages im Juni 1935 liest man auf rund 250 Seiten im ersten Kapitel mit angehaltenem Atem. Erst sehr viel später, als Paul Marshall und Lola Quincey heiraten, wird angedeutet, dass das Mädchen nicht von Robbie Turner, sondern von dem Schokoladenfabrikanten vergewaltigt wurde.)

Dreieinhalb Jahre verbringt Robbie unschuldig im Gefängnis. Cecilia darf ihn nicht besuchen; sie können sich nur schreiben. Nach Verbüßen seiner Strafe wird er 1939 gleich zum Militär eingezogen.

Cecilia ist jetzt Krankenschwester in London; das schätzen die Eltern nicht besonders. Von ihrer Familie fühlt sie sich sowieso verraten und hat sich von ihr losgesagt. An Robbie schreibt sie:

Sie haben sich gegen dich gewandt, alle, sogar mein Vater. Als sie dein Leben zerstörten, haben sie auch meines zerstört. Sie zogen es vor, der Aussage eines dummen, hysterischen Mädchens zu glauben. Sie ermutigten Briony sogar noch, als sie ihr keine Wahl ließen, es sich noch einmal zu überlegen. Sie war erst dreizehn, ich weiß, aber ich will nie wieder auch nur ein Wort mit ihr reden. Was die anderen betrifft, so kann ich ihnen das, was sie getan haben, niemals verzeihen. … Ich habe jetzt Raum zum Atmen. Und vor allem habe ich dich, für den ich leben kann. Realistisch gesehen hätte ich mich früher oder später sowieso zwischen dir und meiner Familie entscheiden müssen …

Robbie erlebt den Krieg in Nordfrankreidch beim Rückzug des britischen Expeditionsheeres nach Dünkirchen mit all seinen Strapazen und unvorstellbaren Grausamkeiten. Der einzige moralische Halt, der ihm in seiner Verzweiflung bleibt, sind die Briefe Cecilias, deren Inhalt er sich immer wieder vorsagt: „Ich warte auf dich. Komm zurück.“

Die inzwischen achtzehnjährige Briony ist nicht zum Studium nach Cambridge gegangen. Sie lässt sich in London als Krankenpflegerin ausbilden. „Kannst du dir Briony mit Bettpfanne vorstellen?“, wundert sich Cecilia. Kaum ist die junge Lernschwester ein paar Tage im Krankenhaus tätig, als die ersten Schwerverwundeten aus dem Krieg eingeliefert werden. So wird sie schnell mit verwahrlosten, verstümmelten und vor Schmerzen schreienden Patienten konfrontiert. Mit vollem Einsatz und ohne Rücksicht auf ihr persönliches Befinden versorgt sie die frisch operierten Soldaten.

Die weitere Geschichte setzt sechzig Jahre später im Jahre 1999 wieder ein, zu Brionys 77. Geburtstag. Sie ist doch noch eine anerkannte Schriftstellerin geworden und kümmert sich um die Bibliothek im Archiv des Imperial War Museum. Anläßlich ihres Geburtstages fährt sie nach Tilney, wo ihr die Nachkommen der Zwillingsbrüder ein Fest ausrichten. Das Landgut wurde inzwischen zu einem Hotel umgebaut, und von den Verwandten kennt sie fast keinen mehr. Das seinerzeit von ihr für Leon geschriebene, aber nicht aufgeführte Theaterstück wird ihr zu Ehren nach vierundsechzig Jahren gespielt. Nach diesem anstrengenden Tag hängt die alte Dame nun allein in ihrem Hotelzimmer ihren Gedanken nach.

Das Problem in allen diesen neunundfünfzig Jahren lautete folgendermaßen: Wie vermag eine Schriftstellerin Absolution zu erlangen, wie Abbitte zu leisten, wenn sie, die mit uneingeschränkter Macht über das Ende entscheidet, zugleich auch Gott ist? Es gibt niemanden, kein Wesen, kein höheres Geschöpf, an das sie appellieren, mit dem sie sich versöhnen, das ihr verzeihen könnte. Außer ihr ist nichts. In ihrer Fantasie hat sie die Grenzen und Bedingungen festgelegt. Keine Absolution für Götter oder für Romanschriftsteller, auch wenn sie Atheisten sind. Das war schon immer eine unlösbare Aufgabe, aber ebendarauf kam es an. Der Versuch allein zählte.

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Das erste Kapitel handelt von einem einzigen ereignisreichen Sommertag. Die Geschichte ist so raffiniert angelegt, dass der Leser immer mehr weiß als die Handlung eigentlich zu erkennen gibt. Durch Wiederholungen von Szenen aus wechselnden Perspektiven werden die Motivationen der handelnden Personen verständlich, und zugleich veranschaulicht Ian McEwan damit die Unzuverlässigkeit subjektiver Wahrnehmungen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein dreizehnjähriges Mädchen, das durch ihre Fehlinterpretation der beobachteten Ereignisse eine folgenschwere Behauptung aufstellt, die das Leben der Freunde und Familienmitglieder nachhaltig verändert. Der Stil dieses ersten Teils mit etwa zweihundertfünfzig Seiten ist dem Umfeld der gebildeten, wohlhabenden Familie angepasst: elegant, blumig und an die Romantradition des 19. Jahrhunderts anknüpfend. Spannend erzählt ist die Geschichte obendrein. Auf die psychischen folgen die physischen Verletzungen: Im zweiten und dritten Kapitel, in denen Ian McEwan die Gräuel im Krieg und das Elend im Lazarett beschreibt, ist der Stil umgangssprachlich, realistisch und voller grausamer Details. Die knapp dreißig Seiten, auf denen die alte Dame Briony über ihren Lebensabend nachdenkt, sind eine warmherzige Beschreibung einer altersmilden, klugen Frau.

Bernhard Robben wurde 2003 in Straelen mit dem Übersetzerpreis des Europäischen Übersetzer-Kollegiums ausgezeichnet.

Die Verfilmung des Romans „Abbitte“ durch Joe Wright kam am 8. November 2007 in die deutschen Kinos: „Abbitte“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003/2007
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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Obwohl sich Natascha Wodin für eine sach­lich-nüchterne Darstellung ent­schieden hat und v. a. die Lebens­geschichte ihrer Tante Lidia rekon­struiert, han­delt es sich bei "Sie kam aus Mariupol" um einen Tat­sachen­roman, nicht um einen Bericht oder eine Dokumentation.
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