Ian McEwan : Am Strand

Am Strand
Originalausgabe: On Chesil Beach Jonathan Cape, London 2007 Am Strand Übersetzung: Bernhard Robben Diogenes Verlag, Zürich 2007 ISBN: 978-3-257-06607-4, 208 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Florence und Edward, beide 1940 geboren und hochintelligent, lernen sich 1959 in London kennen. Sie stammt aus einer reichen Unternehmerfamilie und studiert Musik, er ist der Sohn eines Dorfschulrektors und studiert Geschichte. 1962 heiraten die beiden. Für die Hochzeitsnacht nehmen sie sich ein Hotelzimmer am Strand von Dorset. Sexuell sind beide unerfahren. Edward ist nervös; Florence droht wegen ihres Abscheus vor der Sexualität in Panik zu geraten ...
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Kritik

In dem tragikomischen Roman "Am Strand" schildert Ian McEwan minutiös und abwechselnd aus den Blickwinkeln der Beteiligten den Ablauf einer missglückten Hochzeitsnacht. Im Hintergrund lässt er charakteristische Züge der frühen 60er-Jahre aufscheinen.
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Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. (Seite 7)

Mit diesem Satz beginnt Ian McEwan seinen im Juli 1962 spielenden Roman „Am Strand“.

Nachdem Edward Mayhew und Florence Ponting in der Kirche St. Mary in Oxford geheiratet haben, fahren sie an die Küste von Dorset, um die Hochzeitsnacht in einem georgianischen Landhaushotel am Chesil Beach zu verbringen. Sexuell sind beide unerfahren, und um sich auf die Hochzeitsnacht vorzubereiten, erlaubte Edward sich eine Woche lang keine „Selbstverwöhnung“.

Florence liebt Edward, aber bei der Vorstellung dessen, was sie wenigen Stunden auf sie zukommt, droht sie in Panik zu geraten.

Während Edward bloß an der üblichen Nervosität vor der ersten Nacht litt, plagte Florence eine tiefsitzende Furcht, ein hilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit. (Seite 12)

Sie wollte einfach nicht, dass in sie „eingedrungen“, dass sie „penetriert“ wurde. Sex mit Edward konnte nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preis sein, den sie zahlen musste. (Seite 14)

Florence ist zweiundzwanzig Jahre alt und wuchs mit ihrer jüngeren Schwester Ruth in einer viktorianischen Villa in den Chiltern Hills auf. Ihre Mutter Violet arbeitet als Philosophie-Dozentin in Oxford, ihr Vater Geoffrey führt das Unternehmen Ponting Electronics. 1958 begann Florence ein Studium am Royal College of Music in London, und inzwischen bereitet sie als Geigerin des Ennismore-Quartetts eine Konzert-Karriere vor. Ihr IQ beträgt 152.

Edward – dessen IQ mit 135 ebenfalls weit über dem Durchschnitt liegt – stammt aus Turville Heath, einem Dorf 45 km außerhalb von London. Sein Vater Lionel Mayhew, der bei seiner Geburt im Juli 1940 bereits achtunddreißig Jahre gewesen war, leitete die Grundschule in Henley. Als Edwards Mutter Majorie 1945 mit seinen Zwillingsschwestern Anne und Harriet schwanger war, erlitt sie im Bahnhof von High Wycombe einen Unfall: Die Kante einer an einem einfahrenden Zug vorzeitig aufgerissenen Tür traf sie an der Stirn. Schädelbruch. Fast eine Woche lag Majorie Mayhew im Koma, und seither ist sie geistesgestört. Edward begriff das erst mit vierzehn. Inzwischen hat er sein Geschichtsstudium am University College in London mit Prädikat abgeschlossen.

1959 lernten sich die beiden damals neunzehnjährigen Studenten Florence Ponting und Edward Mayhew beim Treffen einer Anti-Atom-Gruppe in London kennen und verliebten sich. Als ihn Florence ihren Eltern vorstellte, lernte Edward in der reichen Unternehmerfamilie eine ganz neue Welt kennen, aber Geoffrey und Violet Ponting versuchten, ihn nicht allzu sehr spüren zu lassen, dass sie einer anderen Gesellschaftsschicht angehörten. Und vor der Hochzeit bot Ponting ihm in seiner Firma einen Job als Reisender an.

Nach einem mehrgängigen Abendessen, dass sich Edward und Florence in ihrer Suite servieren lassen, küsst der frischgebackene Ehemann seine Frau, und während sie sich bemüht, ihren Abscheu gegen seine Zunge niederzukämpfen, träumt er bereits von Fellatio – nicht in der Hochzeitsnacht, aber in der Zukunft. Aufgrund ihres Pflichtgefühls nimmt Florence sich vor, sich dem nicht zu widersetzen, was sie nun zu erwarten hat.

Weil Edward den Reißverschluss ihres Kleides nicht aufbekommt, legt er sich mit Florence aufs Bett, fasst unter ihren Rock und fährt mit der Hand bis zu ihrem Höschen hinauf, aus dem ein Schamhaar hervorlugt. Das kann er zwar nicht sehen, aber er spürt, wie Florence bei der Berührung erbebt und hält das fälschlicherweise für ein Zeichen ihrer aufwallenden Begierde.

Als Edward aus der Hose schlüpft, erinnert Florence sich daran, wie sich ihr Vater auszog. Damals war sie zwölf, und er nahm sie mehrere Male auf seiner Yacht mit. Seit den traumatischen Erlebnissen von damals findet sie die Vorstellung von einem nackten Mann widerlich.

Florence unterdrückt ihren Abscheu und ihre Panik, obwohl sie Edwards erigierten Penis an ihrem Körper spürt. Als es ihm nicht gelingt, die richtige Stelle zu finden, überwindet sie sich, denkt daran, was sie in einem Ratgeber gelesen hat und nimmt seinen Penis vorsichtig in die Hand, um ihn einzuführen. Durch die Berührung kommt Edward jedoch vorzeitig zum Orgasmus. Florence erschrickt, als er „einen Klagelaut von sich [gibt], eine komplizierte Folge gequälter, ansteigender Vokale“ (Seite 133) und über seinen muskulösen Rücken Krämpfe zucken. Angewidert wischt sie sich mit einem Kissen die Spermaspritzer ab, die sie bis hinauf zum Kinn trafen. Aufgeregt rennt sie aus dem Zimmer, und Edward bleibt gedemütigt zurück.

Nach einer Weile sucht er sie am Strand. Eineinhalb Kilometer vom Hotel entfernt findet er sie. Edward wirft Florence vor, ihm verschwiegen zu haben, dass sie frigide ist und beschuldigt sie wütend, ihn hereingelegt zu haben, um aus Gründen der Ehrbarkeit einen Ehemann zu bekommen. Nach einem heftigen Streit lenkt Florence ein, schlägt ihm vor, eine Ehe ohne Geschlechtsverkehr zu führen und verspricht, nicht eifersüchtig zu sein, wenn er sein Verlangen mit anderen Frauen befriedigt. Das bringt Edward noch mehr auf, und er schreit:

„Du sagst mir, ich könnte es mit jeder anderen machen, nur nicht mit dir?“ (Seite 194)

Florence kehrt um, und er hält sie nicht auf. Als er zum Hotel kommt, ist sie bereits abgereist.

Kurz darauf lassen sie sich scheiden.

Sie sehen sich nie wieder.

Bei Ponting Electronics kann Edward selbstverständlich nicht anfangen. Stattdessen organisiert er Rock-Festivals, schreibt Konzertkritiken, gehört zu den Gründern eines Naturkostlokals in Hampstead und schließlich zu den Eigentümern eines Plattenladens. Von dem umjubelten Debüt des Ennismore-Quartetts in der Wigmore Hall im Juli 1968 will er nichts hören. Die unkomplizierte Willigkeit vieler Frauen aufgrund der sexuellen Revolution von 1968 überrascht ihn, und er hat einige chaotische Affären. Mit seiner zweiten Ehefrau, mit der er dreieinhalb Jahre lang verheiratet ist, lebt er in Paris. 1980, vier Jahre nach dem Tod seiner Mutter, kehrt er ins Elternhaus in Turville Heath zurück, um seinen an Parkinson erkrankten Vater zu pflegen, bis dieser 1983 stirbt, denn seine Schwestern Anne und Harriet leben mit ihren Familien im Ausland.

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Der tragikomische Roman „Am Strand“ spielt 1962, in einer Zeit, in der man über Sexualität nicht sprach, obwohl das verdrängte Thema vielen schwer zu schaffen machte, nicht zuletzt aufgrund der Ängste vor der Hochzeitsnacht, in der die Braut defloriert werden musste.

Zu jener Zeit […] empfand man Jungsein noch als Bürde, als ein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, einen leicht peinlichen Zustand, der mit der Hochzeit ein Ende fand. (Seite 11)

Minutiös schildert Ian McEwan in „Am Strand“ die Nöte eines zwar hochintelligenten, aber sexuell unerfahrenen Paares in der Hochzeitsnacht. Die gesellschaftliche Kluft zwischen ihren Familien hätten Florence und Edward wohl zu überwinden vermocht, aber an der Sexualität scheitert ihre Liebe. Vermutlich wurde Florence als Kind vom Vater missbraucht und verabscheut deshalb alles, was sie daran erinnert. Während sie den Ekel gegen Edwards Zungenkuss zu unterdrücken versucht, träumt ihr Mann bereits von zukünftigen Variationen des noch gar nicht vollzogenen Geschlechtsverkehrs. Die kleine Katastrophe einer Ejaculatio praecox wirft Edward und Florence aus der Bahn, und sie können die in der Hochzeitsnacht vorgenommene Weichenstellung nie mehr korrigieren.

Ian McEwan erzählt die Geschichte abwechselnd aus drei Perspektiven: aus der von Edward, der von Florence und zwischendurch aus der eines auktorialen Autors. Zeitlich springt er zwischen der Gegenwart (Hochzeitsnacht) und der Vergangenheit hin und her, und am Schluss beleuchtet er noch kurz die Zukunft. Im Hintergrund der persönlichen Tragödie lässt er charakteristische Züge der frühen Sechzigerjahre aufscheinen.

Anders als seine Protagonisten ist Ian McEwan sehr geschickt mit Reißverschlüssen. In die Novelle der missglückten Hochzeitsnacht fädelt er in rekapitulierenden Kapiteln einen zeithistorischen Roman ein. Darin ist Harold Macmillan Ministerpräsident, das Empire bröckelt, einstige Kolonien werden in die Unabhängigkeit entlassen, man debattiert über Rüstungswettlauf und Atomteststopabkommen. Und der Nahblick auf Berührungsreize und Haarbalgnerven weicht dem Panoramablick auf eine Umbruchzeit, die noch nicht recht begonnen hat.
(Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 25. Juli 2007)

Für die Verfilmung seines Romans „Am Strand“ durch Dominic Cooke schrieb Ian McEwan selbst das Drehbuch:

Am Strand – Originaltitel: On Chesil Beach – Regie: Dominic Cooke – Drehbuch: Ian McEwan nach seinem Roman „Am Strand“ – Kamera: Sean Bobbitt – Schnitt: Nick Fenton – Musik: Dan Jones – Darsteller: Saoirse Ronan, Emily Watson, Anne-Marie Duff, Adrian Scarborough, Billy Howle, Samuel West, Jonjo O’Neill, Rasmus Hardiker, Bebe Cave, Bronte Carmichael u.a. – 2018; 110 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Diogenes Verlag

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