Thomas Mann : Mario und der Zauberer

Mario und der Zauberer
Mario und der Zauberer Originalausgabe: Verlag S. Fischer, Berlin 1930
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine kultivierte deutsche Familie mit zwei Kindern verbringt die Sommerferien in den 20er-Jahren in einem italienischen Badeort. Nachdem die Deutschen mehrmals in Auseinandersetzungen mit Italienern geraten sind, besuchen sie die Vorstellung des fahrenden Zauberers Cipolla. Es handelt sich um einen hässlichen, un­sym­pathischen Kerl, der das Publikum mit seiner Redekunst beeindruckt und Einzelne hypnotisiert, um sie zu demütigen ...
mehr erfahren

Kritik

Die Erzählung "Mario und der Zauberer" von Thomas Mann dreht sich um die Themen Willensfreiheit und Verführbarkeit, Demagogie und Diktatur. Die Geschichte wirkt realistisch und ist psychologisch gut nachvollziehbar.
mehr erfahren

Die Handlung spielt in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Eine kultivierte Familie mit zwei Kindern aus Deutschland möchte die Sommerferien in dem italienischen Badeort Torre di Venere bei Portoclemente am Tyrrhenischen Meer verbringen. Obwohl die Deutschen im Grandhotel abgestiegen sind, wird ihnen ein Tisch auf der einheimischen Gästen vorbehaltenen Glasveranda verwehrt, und sie müssen mit dem Speisesaal verlieb nehmen. Es kommt noch schlimmer: Eine italienische Fürstin in der Suite nebenan hört die deutschen Kinder husten und beschwert sich beim Hoteldirektor, weil sie befürchtet, dass Keuchhusten akustisch durch Nachahmung übertragen werden könne. Obwohl ein vom Hotel ausgewählter Arzt nach einer Untersuchung der Kinder bestätigt, dass es sich um die letzten Symptome einer nicht mehr ansteckenden Erkrankung handelt, fordert der Hoteldirektor die Eltern auf, mit ihren Kindern in eine Dependance umzuziehen. Die Gäste wechseln stattdessen in die Pension Eleonora, deren Betreiberin, Sofronia Angiolieri, sie bereits kennengelernt haben. Benannt ist die Pension nach der inzwischen verstorbenen Duse, mit der Signora Angiolieri befreundet war.

Am Strand lösen die Deutschen einen Skandal aus, als die magere achtjährige Tochter ihren Badeanzug auszieht und ihn kurz im Meerwasser schwenkt, um den Sand auszuspülen, bevor sie wieder hineinschlüpft. Eine italienische Familie ruft entrüstet die Polizei. Das hat zur Folge, dass die Deutschen einen Beamten ins Municipio begleiten und dort Strafe bezahlen müssen.

Ich persönlich gestehe, dass ich schwer über solche Zusammenstöße mit dem landläufig Menschlichen, dem naiven Missbrauch der Macht, der Ungerechtigkeit, der kriecherischen Korruption hinwegkomme.

Der Familienvater bedauert es inzwischen, nur die Unterkunft gewechselt zu haben, statt aus Torre di Venere abzureisen. Dennoch kann er sich nicht dazu entschließen.

In der Nachsaison wird auf Plakaten ein fahrender Zauberer angekündigt: der Cavaliere Cipolla. Den möchten die Kinder unbedingt sehen. Die Vorstellung soll erst um 21 Uhr beginnen, eigentlich zu spät für die Kleinen, aber die Eltern besorgen sich dennoch vier Eintrittskarten aus dem Kontingent der Pensionswirtin.

Die Einheimischen trudeln erst ab 21.15 Uhr ein, und der Zauberer lässt noch länger auf sich warten. Endlich betritt der Cavaliere Cipolla die Bühne. Es handelt sich um einen älteren, hässlichen Mann mit einem tief sitzenden Buckel, schlechten Zähnen und einer asthmatischen, metallisch klingenden Stimme. Weil er zunächst nichts sagt, ruft ein junger Mann: „Buona sera!“. Da wird der Zauberer aktiv. Mit einem Schnalzen seiner Reitpeitsche hypnotisiert er den vorlauten Zuschauer und bringt ihn dazu, dem Publikum die Zunge auszustrecken. Gleich darauf krümmt sich ein Fischer auf Geheiß des Zauberers wie unter Magenschmerzen. Dann führt Cipolla Rechen- und Kartenkunststücke vor. Einem Mann, der ankündigt, sich beim Ziehen von Karten dem Willen des Zauberers widersetzen zu wollen, entgegnet dieser:

„Sie werden mir […] damit meine Aufgabe etwas erschweren. An dem Ergebnis wird Ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.

Der zwischendurch rauchende und ein Glas Kognak nach dem anderen trinkende Künstler ist unsympathisch, zumal seine Gehässigkeit zu spüren ist, aber er beeindruckt das Publikum durch seine rhetorischen Fähigkeiten.

Unter Südländern ist die Sprache eine Ingredienz der Lebensfreude, dem man weit lebhaftere gesellschaftliche Schätzung entgegenbringt, als der Norden sie kennt. Es sind vorbildliche Ehren, in denen das nationale Bindemittel der Muttersprache bei diesen Völkern steht, und etwas heiter Vorbildliches hat die genussreiche Ehrfurcht, mit der man ihre Formen und Lautgesetze betreut. Man spricht mit Vergnügen, man hört mit Vergnügen – und man hört mit Urteil. Denn es gilt als Maßstab für den persönlichen Rang, wie einer spricht; Nachlässigkeit, Stümperei erregen Verachtung, Eleganz und Meisterschaft verschaffen menschliches Ansehen […].

Der Gaukler fordert Zuschauer auf, Gegenstände zu verstecken und findet sie dann.

Die Fähigkeit, sagte er, sich seiner selbst zu entäußern, zum Werkzeug zu werden, im unbedingtesten und vollkommensten Sinne zu gehorchen, sei nur die Kehrseite jener anderen, zu wollen und zu befehlen; es sei ein und dieselbe Fähigkeit; Befehlen und Gehorchen, sie bildeten zusammen nur ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit; wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befehlen, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in dem anderen inbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien […].

Er zwingt Zuschauer, gegen ihren Willen zu tanzen. Einen jungen Mann lässt er unter Hypnose steif wie ein Brett werden, legt ihn lediglich mit Nacken und Füßen auf zwei Stuhllehnen und setzt sich darauf, ohne dass der Körper des anderen sich durchbiegt. Sofronia Angiolieri veranlasst er, ihm wie in Trance zum Ausgang zu folgen, obwohl ihr Mann mehrmals nach ihr ruft. Erst an der Tür beendet Cipolla die Hypnose, führt Signora Angiolieri zurück und belehrt deren Ehemann:

„Mein Herr […], hier ist Ihre Gemahlin! Unversehrt, nebst meinen Komplimenten, liefere ich sie in Ihre Hände zurück. Hüten Sie mit allen Kräften Ihrer Männlichkeit einen Schatz, der so ganz der Ihre ist, und befeuern Sie Ihre Wachsamkeit durch die Einsicht, dass es Mächte gibt, die stärker als Vernunft und Tugend und nur ausnahmsweise mit der Hochherzigkeit der Entsagung gepaart sind!“

Schließlich holt er Mario auf die Bühne, einen Kellner aus dem Café Esquisito, den die deutsche Familie bereits kennt und mag. Der 20-Jährige ist der Sohn eines kleinen Schreibers im Municipio, und seine Mutter trägt als Wäscherin zum Lebensunterhalt bei. Der Zauberer findet heraus, dass Mario unglücklich in eine junge Frau verliebt ist. Deren Namen – Silvestra – ruft ihm Giovanotto belustigt zu, ein Nebenbuhler Marios. Cipollo hypnotisiert Mario und lässt ihn glauben, er habe Silvestra statt des Zauberers vor sich. So bringt er Mario dazu, den hässlichen Mann nahe des Mundes auf die Wange zu küssen. Als der Getäuschte wieder zu sich kommt und merkt, in welche Lage er gebracht wurde, rennt er beschämt von der Bühne. Während das Publikum applaudiert, dreht er sich um, hat plötzlich eine kleine Pistole in der Hand, schießt zweimal, und der Zauberer sackt tot zusammen: „ein durcheinandergeworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen“.

Im ausbrechenden Tumult wird Mario entwaffnet. Man ruft nach einem Arzt und der Polizei.

Die beiden Kinder der deutschen Familie fragen die Eltern, ob dies das Ende der Vorstellung gewesen sei.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Die Novelle „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann dreht sich um die Themen Willensfreiheit und Verführbarkeit. Der Cavaliere Cipolla hypnotisiert Einzelne aus dem Publikum, zwingt ihnen seinen Willen auf und demütigt sie. Das schockierte Publikum findet den Zauberer unsympathisch, aber dessen demagogische Fähigkeiten faszinieren es zugleich. Das lässt sich als Anspielung auf Diktatoren verstehen, zumal die Handlung unter Mussolinis Herrschaft in Italien spielt. Aber Thomas Mann fragt auch unabhängig davon, ob sich Menschen frei entscheiden können, etwa wenn der als Ich-Erzähler eingesetzte Familienvater glaubt, es wäre besser, abzureisen, die Veranstaltung nicht zu besuchen oder sie zumindest vorzeitig zu verlassen – und nichts davon tut.

Einen Abend wie den beschriebenen hat Thomas Mann eigenen Angaben zufolge tatsächlich erlebt. Allerdings lief das Vorbild für die Figur Mario in Wirklichkeit nach dem beschämenden Kuss davon. Ob Thomas Mann mit der fiktiven Schlusswendung den Tyrannenmord befürwortet, ist unklar.

Die Geschichte wirkt realistisch und ist psychologisch gut nachvollziehbar. Erzählt wird sie konsequent aus der subjektiven Perspektive des gebildeten deutschen Familienvaters in einer anspruchsvoll gedrechselten Sprache.

„Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis“ erschien 1930 zunächst in „Velhagen und Klasings Monatshefte“, dann im Verlag S. Fischer.

Klaus Maria Brandauer verfilmte „Mario und der Zauberer“ nach einem Drehbuch von Burt Weinshanker und spielte selbst die Rolle des Zauberers.

Originaltitel: Mario und der Zauberer – Regie: Klaus Maria Brandauer – Drehbuch: Burt Weinshanker nach der Erzählung „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann – Kamera: Lajos Koltai – Schnitt: Tanja Schmidbauer – Musik: Christian Brandauer – Darsteller: Julian Sands, Anna Galiena, Klaus Maria Brandauer, Rolf Hoppe, Elisabeth Trissenaar, Pavel Greco, Jan Wachtel, Nina Schweser, Franco Concilio, Valentina Chico, Petra Reinhardt u.a. – 1994; 125 Minuten

Die Verfilmung weicht allerdings in einigen Punkten deutlich von der literarischen Vorlage ab. Burt Weinshanker hat beispielsweise den Suizid des Hoteldirektors hinzugefügt. Silvestra, die im Buch nur erwähnt wird und nicht auftritt, ist im Film die Tochter der Pensionswirtin Angiolieri, und der Zauberer lässt sich auf der Bühne nicht von Mario, sondern von ihr küssen, indem er sie hypnotisiert und glauben lässt, sie habe Mario vor sich. Am Ende schießt Silvestra anstelle von Mario – und trifft statt des Zauberers versehentlich Mario.

Die Erzählung „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Paul Matiæ.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017

Thomas Mann: Buddenbrooks
Thomas Mann: Der Tod in Venedig
Thomas Mann: Wälsungenblut
Thomas Mann: Der Zauberberg
Thomas Mann: Lotte in Weimar
Thomas Mann: Doktor Faustus

Maria Lazar - Die Vergiftung
Lesenswert ist der Roman "Die Vergiftung" vor allem wegen des eigenwilligen Stils. Maria Lazar reiht kurze expressionistische Bilder in einem hämmernden Rhythmus aneinander und lässt dabei viele Leerstellen. Sie folgt inneren Monologen der Protagonistin, tritt aber auch als auktoriale Erzählerin auf.
Die Vergiftung