Andreas Maier : Kirillow

Kirillow
Kirillow Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-518-41691-X, 352 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, 2006 ISBN 3-518-45778-0
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Frankfurter Studenten Frank Kober und Julian Nagel und ihre Clique befreunden sich mit einigen jungen Russinnen und Russen, die sich vorübergehend im Rhein-Main-Gebiet aufhalten und erfahren so vom pessimistischen Manifest eines gewissen Andrej Kirillow über den hoffnungslosen Zustand der Gesellschaft. Während der endlosen Diskussionen reift in Julian die Überzeugung, handeln zu müssen ...
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Kritik

In seinem Roman "Kirillow" protokolliert Andreas Maier das Geschwafel der Studenten und das Getuschel von Spießbürgern. Indem er die Perspektive von Figur zu Figur springen lässt, vermeidet er es, sich auf einen Blickwinkel bzw. eine Meinung festzulegen.
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Frank Kober, ein in sich gekehrter Student der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wohnt in einem Mietshaus in Ginnheim. Seine siebenundzwanzigjährige Geliebte Anja Nagel, die ihr Studium nicht nur in Rekordzeit, sondern auch mit Bestleistungen absolviert und inzwischen promoviert hat, lebt noch wie ihr jüngerer, ebenfalls mit Frank befreundeter Bruder Julian bei den Eltern in Eppstein. Kober war früher Pfleger bei einem Hilfsdienst. Obwohl das längst vorbei ist, kümmert er sich nach wie vor zusammen mit Anja um Frau Gerber, eine ältere, hilfsbedürftige Witwe.

Frank, Anja, Julian, dessen einundzwanzigjährige Geliebte Eva Bieroth, deren Freundin Michaela und Jobst alias Martin, ein guter Bekannter Evas, befreunden sich mit einigen russischen Studenten, die sich einige Zeit im Rhein-Main-Gebiet aufhalten: Peter Kubeck, dessen Ehefrau Julia Lobowa, deren jüngere Schwester Olga, Anton Kolakow, Boris Hofmann und Mischa Jefremow.

Anton bringt eines Tages die Übersetzung eines achtseitigen Manifestes mit, dessen Autor – Andrej Kirillow – Frank angeblich ähnlich sieht. Peter, Julia, Olga und Anton kennen Andrej Kirillow aus ihrem Heimatdorf in der Nähe von Chabarowsk. Obwohl kaum jemand den Text gründlich gelesen hat, diskutieren die Studenten darüber im Café „Ausweg“.

Wohin streben sie denn, die Elemente, fragte Eva. Ja sagt mal, wollt ihr mich verarschen, rief Julian. Das hätten sie doch alles gemeinsam tausendmal durchkonstruiert in den letzten Tagen […] Was meine er mit Elemente noch mal? Der Nachbar: Er meint die Menschen. Eva: Ach, die Menschen sind die Elemente. Aber es ist doch ganz logisch, wo die hinstreben. Hihi, nach Mallorca, gackerte der Nachbar. Ein anderer: Oder nach Deutschland, wenn man ein Russe ist. Eva: Die Menschen streben ganz natürlicherweise nach ihrer Glückseligkeit. Eben, sagte Jobst alias Martin, der schon eine ganze Weile bei ihnen gestanden hatte. Und dadurch, so hat es unser lieber unbekannter Freund aus Russland formuliert (wenn die Übersetzung stimmt), komme eben das ganze Unglück, nämlich dadurch, dass die Menschen, oder von uns aus auch die Elemente, nach ihrer Glückseligkeit streben, oder nennt es meinetwegen auch Bequemlichkeit. (Seite 136)

Jobst erläutert weiter:

Aber der Handwerker des einundzwanzigsten Jahrhunderts […] fährt zwei- oder dreimal im Jahr in den Urlaub, kauft Unterhaltungselektronik, er beansprucht Autos, Banken, das heißt, er benötigt riesige Flughäfen, er benötigt Tourismus in anderen Ländern, dort Hotels, er braucht ein monströses Straßenverkehrsnetz, er setzt riesige Autofabriken voraus, die Stromwirtschaft, die Nahrungsmittelwirtschaftskonzerne (sonst hat er keine standardisierten Würstchen am Flughafen), er ist vernetzt und verfangen in einem riesigen kollektiven System, das allein geschaffen ist und funktioniert durch Abermillionen Menschen, die genauso sind wie er. Das ist das Kirillowsche Gesetz. (Seite 137)

Julian fasst zusammen:

Die Menschheit funktioniert wie ein Krebsgeschwür, und ihr Wachstumsauslöser ist das Streben und Glück und Wohlbefinden. (Seite 139)

Bei einer anderen Gelegenheit kommt Julian wieder auf Kirillow zu sprechen:

Nichts hat mir so deutlich vor Augen gestanden wie das, nämlich, dass wir alle schuld sind; und weil wir unabänderlich in unserem Wesen sind, sind wir schuld allein Kraft unserer Vorhandenheit. Es gibt, wenn man es recht bedenkt, für das Problem, dass wir sind, nur eine Lösung. Ich kann mich aus diesem Falschen nicht lösen, es ist wie auf Treibsand […] Man muss es vollenden. Hm, eigenartig, dass ich hier von „vollenden“ spreche. Mein Gott, wie peinlich ist das alles, ich weiß es ja selbst, es ist lächerlich, peinlich und vor allen Dingen unwichtig. Es gibt eine Tat auf dieser Welt, nur eine, und das ist sie, das ist die einzig mögliche: Man muss sich töten. Sich selbst. Es gibt keine andere Tat. Nichts andres ist denkbar. (Seite 247f)

Als Anjas und Julians Vater, der Rechtsanwalt und Politiker Dr. Volker Nagel, seinen 52. Geburtstag feiert, besuchen ihn prominente Parteifreunde, die wie der hessiche Ministerpräsident und der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Hessen mit der Familie befreundet sind. Julian schimpft im Gespräch mit dem Regierungschef, zu dem er „Georg“ sagt:

Das ist doch alles ein ausgemachter Wahnsinn. Die Leute stellen sich jeden Tag in den Stau, und jetzt sage nicht, weil sie zu ihrer Scheißarbeit müssen. Wozu müssen sie denn zu ihrer Scheißarbeit? Um Geld für ihren Ibizaurlaub zu verdienen und ihre verdammte Lebensversicherung, damit sie auch mit siebzig noch überall die Welt verseuchen mit ihrem Scheißdreck. (Seite 95f)

Nachdem ihn der Ministerpräsident stehen gelassen hat, fährt Julian fort:

Das Entscheidende ist, es nicht auszuhalten. Nur dann bist du ein Mensch, nur dann, nämlich wenn du es nicht aushältst. (Seite 97)

Dann regt er sich über einen Gast auf, der mit Frank in Streit geraten ist, nimmt dem Herrn das Sektglas aus der Hand, gießt den Inhalt in die Blumen, zerschlägt das Glas und schneidet sich damit den Unterarm auf. Damit löst er einen Skandal aus, wobei die Anwesenden erst einmal rätseln, ob Frank von dem Gast angegriffen wurde oder Selbstmord verüben wollte. Jedenfalls muss die Wunde in einem Krankenhaus in Frankfurt genäht werden.

Anlässlich des Geburtstags von Andreas Beyer, einem Kommilitonen von Julian, trifft sich die Clique mit ihm und den Russen in der Gaststätte „Zum Gemalten Haus“. Nachdem sie durch mehrere Kneipen gezogen sind, versuchen Julian und ein paar andere junge Männer, Olga zu imponieren, indem sie Gullideckel herauswuchten und einige davon auf die Motorhauben parkender Autos werfen. Anton, der sich daran nicht beteiligte und am Ende der Straße auf die anderen wartete, ohne zu verstehen, was da vor sich ging, wird neben einem offenen Schacht der Kanalisation von einer Polizeistreife aufgegriffen und festgenommen. Erst nachdem Julian sich zwei, drei Tage später bei der Polizei gemeldet und die Sachbeschädigungen auf sich genommen hat, werden die Ermittlungen gegen Anton eingestellt.

Frau Gerber stürzt nach einem leichten Schlaganfall in der Küche, bricht sich eine Rippe und wird ins Marienhospital eingeliefert, wo sie sich dann auch noch bei einem Sturz gegen das Waschbecken das Schlüsselbein bricht und an einer Lungenentzündung erkrankt.

Während Anja und Anton im Rhein-Main-Gebiet bleiben und Frau Gerber regelmäßig besuchen, fahren die anderen ins Wendland, um gegen einen Castor-Transport von La Hague nach Gorleben zu protestieren.

Julian lernt dort eine schwarzhaarige Demonstrantin namens Rebekka kennen. Als sie sich nackt in einem Heuschober lieben, werden sie von Bauern entdeckt, die über die paradiesische Szene lachen. Einige Stunden später lässt Julian Rebekka unvermittelt stehen. Sie folgt ihm und findet ihn bei einem im Wald versteckten Traktor.

Komm, sagte er, lass uns etwas Verrücktes tun. Etwas sehr Verrücktes, und etwas sehr Sinnloses. Sie: Was denn? Was meinst du denn? Er: Nichts, ich fasle. Ich bin betrunken. Ich möchte diese Nacht verewigen, aber natürlich ist das wieder ein sehr abstrakter Entschluss […] (Seite 345)

Julian fährt mit dem Traktor los und rast mit Vollgas auf eine Phalanx Polisten zu. Er wird von mehreren Schüssen im Arm getroffen und beim Aufprall auf ein Räumfahrzeug aus dem Führerhaus geschleudert. Ein aufgeregter Polizist will den Traktor fortschaffen, klettert hinters Steuer und legt den Rückwärtsgang ein. In dem Durcheinander erfasst er mit dem Traktor versehentlich Frank und tötet ihn.

Franks Nachbarn in Frankfurt-Ginnheim erfahren es aus dem Fernsehen. Als sich herausstellt, dass der Amokfahrer und der Getötete befreundet waren, wird darüber spekuliert, ob sie auch Komplizen waren. Eine Nachbarin meint:

Hauptsache, wir sind diese Russen im Haus los. Dann hat das doch alles sein Gutes gehabt. (Seite 349)

Peter, Julia, Olga und Anton kehren nach Chabarowsk zurück.

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Die Clique um die Frankfurter Studenten Frank Kober und Julius Nagel hält die menschliche Gesellschaft für verdorben und schädlich für die Umwelt. Verzweifelt fragen sie sich deshalb, wie sie leben sollen. Durch einige russische Studenten, die sich vorübergehend im Rhein-Main-Gebiet aufhalten, erfahren sie von einem pessimistischen Manifest über den Zustand der Menschheit, das ein junger Russe namens Andrej Kirillow geschrieben haben soll. Endlos diskutieren Frank, Julius und ihre Freunde darüber und betrinken sich dabei.

Dieses Buch hat ja einen Grundgedanken: dass einerseits diese Jugendlichen und diese Studenten sich dauernd kritisch an die Welt und das, was wir tun, herandenken, aber andererseits, dass sie immer mehr erkennen, dass es keine Lösung dafür gibt. Man kann es nur erkennen, aber man kann es niemals lösen, weil alles, was passiert, das ist, was in einem gigantischen Kollektiv von Menschen passiert. Man kann diese Menschen nicht verändern. (Andreas Maier über „Kirillow“).

Das Geschwafel der Studenten spiegelt sich in dem Getuschel von Franks Nachbarn, das die Angst der Spießbürger vor dem Fremden aufdeckt.

Bei der Wiedergabe des Geschwätzes verzichtet Andreas Maier in seinem satirischen – aber keineswegs lustigen – Roman „Kirillow“ grundsätzlich auf Anführungszeichen und wechselt mitunter von einem Satz zum anderen zwischen wörtlicher und indirekter Rede. Die Erzählperspektive springt von Figur zu Figur, und die nächtliche Szene, bei der die jungen Leute Kanaldeckel aus dem Boden wuchten, wird nacheinander von verschiedenen Zeugen geschildert. Auf diese Weise vermeidet Andreas Maier es, sich auf einen Blickwinkel bzw. eine Meinung festzulegen.

Mit einfachen Wörtern und Wendungen schildert er unspektakuläre Situationen:

Jetzt kam seine Freundin Eva Bieroth zur Tür herein. Eva bestellte sich einen heißen Apfelwein. Sie trug eine Strickmütze und eine Schaflederjacke und zog beides erst aus, als der heiße Apfelwein gekommen war. Neben ihr saßen zwei Personen vor einem Teller mit Würstchen und aßen sie mit bedächtiger Langsamkeit. Eva kannte die beiden nicht. Hallo, sage Eva zu einem der Unbekannten. Hallo, sagte der Unbekannte. Und wer seid ihr, fragte sie. Mein Name, sagte der Mann mit starkem Akzent, ist Boris. Boris Hofmann, das ist Anton Kolakow. Sie: Ihr seid Russen? Er: Wir sind Russen. (Seite 68)

Andreas Maier vermeidet bewusst jeglichen Anschein einer elegant geschliffenen Sprache und tut so, als protokolliere er das Gerede der Figuren kommentarlos. Einige Passagen sind jedoch aufgrund der fehlenden Variation in der Wortwahl einfach missraten, etwa die folgende:

Sie hatten an diesem Tag mehrfach miteinander geschlafen, einmal sogar auf einer Raststättentoilette, und als sie jetzt in Gusborn das Zelt gefunden hatten, in dem sie übernachten sollten (neben etwa hundert andren), traten sie unter den kalten Nachthimmel hinaus, suchten sich mit ihren zwei Schlafsäcken einen einigermaßen abgeschiedenen Liegeplatz und schliefen dort wieder miteinander, wie die Verrückten, einige der anderen Demonstranten beobachteten sie neidisch […] Am nächsten Morgen allerdings ließ Julian Michaela allein, nachdem sie noch ein weiteres Mal miteinander geschlafen hatten. Es war gegen acht Uhr. Michaela legte sich noch eine Weile ins Zelt und schlief bald vor Erschöpfung wieder ein. (Seite 303)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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