Gertrud Leutenegger : Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom

Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom
Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-41834-5, 79 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

11 Geschichten und andere Prosa:
Roma, Pompa, Loredana – Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom – Generalbass – Murasaki – Luftbild – Nippon, Grün und Schwarz – Zürich, ein Julitag – Kabine – Peregrina – Vogeltraum – Jakob, der Johannisbeerstrauch
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Kritik

Die Qualität der Texte ist recht unterschiedlich: Neben poetischen Geschichten von starker sprachlicher Kraft wie "Roma, Pompa, Loredana" stehen impressionistische Reisebeschreibungen und andere Prosatexte.
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Roma, Pompa, Loredana

Erstveröffentlichung: Tages Anzeiger Magazin, 9. November 1985

Zwei Männer, „angestiftet von einer vom Elend verzweifelten Bevölkerung“, zünden eine Baracke in der Nähe einer der großen Ausfallstraßen Roms an. Zwei junge Frauen, Loredana Nimis und ihre Freundin, werden im Schlaf vom Feuer überrascht. Qualm hüllt sie ein. Sie sehen nichts und hören auch bald nicht mehr die Schreie: ladre! drogate! lesbiche! prostitute!

Die Zeitungen bringen das Foto von Loredana auf dem Krankenhausbett: Wegen ihrer großflächigen Brandverletzungen ist sie einbandagiert wie eine Mumie.

Loredana bleibt durch Narben entstellt. Man stellt den beiden obdachlosen Mädchen ein Zimmer zur Verfügung, aber Loredana lehnt die angebotene psychiatrische Hilfe ab und lässt die Essgutscheine verfallen. Sie und ihre Freundin bekommen anonym Geld angeboten; damit sollen ihre Aussagen über die Brandstiftung beeinflusst werden.

Der Nachtportier einer jener billigen Pensionen hinter der Stazione Termini merkt sich zuerst nur flüchtig die zusammengekauerte Gestalt, die er für einen Jungen hält, auf dem untersten Treppenabsatz, neben dem Lift. Im Gebäude befinden sich weitere Pensionen, er ist an Betrunkene, Übernächtigte gewöhnt, zu einer bestimmten Stunde schließt er sich in seiner Wohnung ein und verlässt sie erst in den Morgenstunden wieder, um Erbrochenes, Urin, leere Spritzen aufzuwischen. Kurz vor Mitternacht wirft der Nachtportier nochmals einen Blick durch das Treppenhaus hinunter, die zusammengekauerte Gestalt mit dem geschorenen Kopf befindet sich in derselben Position, endlich steigt er hinab und nähert sich ihr. Das Gesicht, ein mageres Mädchengesicht, ist jetzt leicht zur Seite gefallen, die Augen starr geöffnet, die Hand hält eine Spritze umklammert, am Boden eine Zitronenscheibe, Stanniolpapier. Die herbeigerufene Ambulanz bestätigt, dass sich das Mädchen in der äußersten Agonie befinde, als der Wagen in die Poliklinik einfährt, holen sie eine Leiche heraus. Es ist Loredana Nimis. Die Autopsie stellt eine Überdosis schmutzigen Heroins fest. Die Stadt übernimmt die Begräbniskosten. (Seite 17)

Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung, 21. Februar 1987

Eine unruhige Straße fuhr durch meine Kindheit. (Seite 18)

Während die Mutter an warmen Sonntagen ein leichtes Seidenkleid trug und im Schatten der Birken lag, setzten die Kinder sich auf die Gartenmauer und beobachteten den vorbeifließenden Verkehr.

Die Straße hatte damals nur einen Wegweiser: Gotthard – Italien. (Seite 18)

Einmal wurden sie Zeugen eines Verkehrsunfalls.

Wohin waren diese Kolonnen unterwegs, riskierten Kollisionen und Tod? (Seite 18)

Als die Erzählerin im Arbeitszimmer ihres Vaters ein Buch mit Fotos aus der Zeit des Gotthard-Durchstichs fand, glaubte sie, die Antwort gefunden zu haben, denn da sah sie eine überwältigende Aufnahme des Mailänder Doms. Den vermutete sie gleich auf der anderen Seite des Gotthard. Erst in der Schule wurde sie über die wahren geografischen Verhältnisse aufgeklärt. Aber sie konnte es nicht glauben und bewahrte sich die Überzeugung:

Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom. (Seite 21)

Generalbass

Erstveröffentlichung: Neue Luzerner Zeitung, 4. April 1998

Als Kind erwachte die Erzählerin einmal durch das Schlagen der Fensterläden und schreckte hoch.

Da entdeckte ich, wie einen Rettungsanker im sturmerfüllten Sog der Unendlichkeit, durch das Schlüsselloch den bernsteinfarbenen Schimmer der Nachttischlampe meiner Mutter, letzter matt leuchtender Faden, der mich an der Erde festhielt. (Seite 23)

Sie ging hinüber, und bevor ihre überraschte Mutter etwas sagen konnte, rollte sie sich auf dem weichen Tierfell vor dem Bett zusammen. Aus dem angrenzenden Arbeitszimmer ihres Vaters hörte sie das Geräusch der Schreibmaschine, einer schwarzen „Hermes“.

Ich verwerfe sogar den Gedanken, erhöhte Zuflucht noch näher bei meiner Mutter zu suchen, mit solcher Wollust erfüllt mich dieser Zwischenzustand, dieses Schweben zwischen Rettung und Gefahr. Die Zeit selbst zögert. Nie wird die Trennwand zu meinem luftigen Kindheitszimmer eingerissen werden, die Bernsteinlampe schimmert, meine Mutter wird niemals sterben, ich grabe mich mit den Fingern ins weiche Guanakofell, drücke mich an den Wiesenboden und lausche, die schwarze Hermes orchestriert mit ihrem Hämmern das Klappern der Fensterläden, das entfesselte Wüten des Sturms: Basso continuo. (Seite 27f)

Murasaki

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung, 31. Oktober 1992

Genjimonogatari entführt das kleine, vergnügte Mädchen Murasaki Shikibu, und es wächst in seinem Haus heran. Er versucht, das Kind nach seinen Vorstellungen zu erziehen, aber Murasaki entfaltet sich nach ihrem eigenen Gesetz.

Dann aber kommt ihre erste Liebesnacht, nach der Murasaki nicht aufsteht. Als Genji gegen Mittag bei ihr hereinschaut, zieht sie ihr Gewand als Decke über den Kopf und bleibt so liegen. Von diesem Moment an sehe ich alles greifbar, in leidenschaftlicher Schärfe vor mir; tausend Jahre verflüchtigen sich zu einem Luftzug, der kurz durch den Raum weht; beuge auch ich mich über Murasakis Decke und taste nach ihrem Gesicht, oder liege ich selbst darunter, mit zum Zerspringen klopfendem Herzen? Als Genji das Gewand von Murasaki wegzieht, sieht er, irritiert, bestürzt, dass sie ganz in Schweiß gebadet ist, feucht hängen ihr die Haare von der Stirn. Alle Verblendungen und Selbsttäuschungen, bis dahin zu den exotischen Fantasien von heute, stauen sich an diesem Abgrund zwischen den Geschlechtern, der hier unverleugnet, schlicht und bewegend, offenbar wird. Von diesem Augenblick an war ich Murasaki. (Seite 31)

Murasaki stirbt, und ihre Leiche löst sich in Rauch auf.

Luftbild

Erstveröffentlichung in „Arkadien / Apologie“, hg. von Marie-Thérèse Kerschbaumer, Wien 2003

Als die Erzählerin noch ein Kind war, ärgerte sie sich über die ständigen Ermahnungen ihrer Mutter, die sie anhören musste, bevor sie sich auf den Weg zur Schule machte. Zornig warf sie dann die Haustür zu, und danach die kleine weiße Gartentür.

Diese kleine weiße Gartentür aber hatte ihre Tücken. Sie war imstande, den sich bereits beruhigenden Rhythmus meines Wutanfalls empfindlich zu stören. Sofort beim Hinaustreten auf die Straße merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Hinter meinem Rücken ging etwas vor, das nicht mehr in meiner Absicht lag. Ich hörte zwar kurz das Einschnappen des Törchens, aber danach ein pfeifendes Geräusch, ein Girren, Knarren. Erst ein paar Platanen weiter, schon bei der Brücke angelangt, wagte ich mich umzusehen. Die kleine weiße Gartentür schwang weit auf die Straße hinaus: ausgeklinkt von meinem Zorn. (Seite 35f)

Zuerst wollte die Schülerin weiterlaufen, aber dann kehrte sie doch zurück und richtete die Gartentür. Damit war die Ordnung wiederhergestellt. Ihre Mutter, die es beobachtete, trat lächelnd ans Fenster; Mutter und Tochter waren wieder versöhnt.

Triumph und Furcht bestürmten mich gleichzeitig; aber nicht immer sollte sich die Welt so leicht bewegen lassen. Mein Vater ist tot durch die offene Gartentür getragen worden; meine Mutter ist nie mehr durch sie heimgekehrt. (Seite 37)

Nippon, Grün und Schwarz

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung, 4. Juni 1988

Das Erste, was der Erzählerin auffällt, als sie im Flugzeug über Japan ankommt und aus dem Fenster blickt, sind langgezogene schwere Plastikhallen, in denen Gemüse gezüchtet wird. Nach der Ankunft in Tokio wundert sich über das Vorherrschen der Farbe Schwarz im Straßenbild. Nur hin und wieder entdeckt sie eine andere Farbe, etwa die grüne Kaktusfrisur eines Punks.

Schwarz musste das Pferd sein, das einst mit der Bitte um Regen geopfert wurde. Im Verlauf einer Hochzeitsfeier wechselte die Braut mehrmals den Kimono, von schimmerndem Weiß über immer dunklere Töne bis zu Schwarz, das als Glück verheißend galt […] Mit einer Tinktur aus Eisenfeile und Essig schwärzten sich früher die verheirateten Frauen und die bevorzugten Knaben der Fürsten die Zähne. (43f)

Ganz anders dagegen im Süden, in Kyushu: Da ist das Grün nicht mehr aufzuhalten.

Es rauscht auf wie eine Sinfonie: in den Reisfeldern, Teehügeln, Bambuswäldern, Chrysanthemenpflanzungen. (Seite 46f)

Zürich, ein Julitag

Erstveröffentlichung: drehpunkt, Nr. 116

Nach der Rückkehr aus Asien zieht die Erzählerin nach Zürich – und ärgert sich über eine kommunale Aktion, die dazu dienen soll, die Stadtbewohner zu noch mehr Ordnung und Sauberkeit zu erziehen.

Kabine

Erstveröffentlichung in „Kleines Glossar des Verschwindens“, hg. von Andrea Köhler, München 2003

Wenn die Sirene vom Steinbruch aufheult, müssen die Badegäste den Lauerzersee blitzartig verlassen. Detonationen erschüttern dann die Bucht, Staubwolken schießen vulkanartig empor. Erst nach dem Entwarnungssignal darf wieder gebadet werden.

In einer verwitterten Umkleidekabine aus Holz erlebt die Erzählerin eine „vibrierende Einsamkeit“.

[…] verharre ich in der von Algengeruch, Bremsengesumm und Sommerwärme erfüllten Kabine, denn hier, in dieser Abgeschirmtheit mitten im Ankommen und Fortgehen, diesem Alleinsein in der Unruhe des ersehnten Horizonts, hier, noch ohne das geringste aufgezeichnete Wort, entdecke ich den Ausgangsort des Schreibens. (Seite 59)

Peregrina

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung, 4. September 2004

Aus einer Unterführung kommend, fällt der Erzählerin eine junge Afroamerikanerin auf, die um die Ampelstange vor dem portugiesischen Restaurant „Krokodil“ herumwirbelt und dann mit ihrem klobigen Absätzen auf die Stange einhämmert. Seltsamerweise fühlt die Erzählerin sich durch die junge Frau an ein Gedicht aus dem Peregrina-Zyklus von Eduard Mörike erinnert: „Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden.“ Sie denkt an Maria Meyer, das Vorbild der Peregrina, ein schwarzhaariges Mädchen, „somnambul und gebildet, aber ebenso als diebisch, verwahrlost und verlogen geschildert“. 1823 verliebte Maria Meyer sich in den achtzehnjährigen Eduard Mörike, der von ihr zugleich fasziniert und verunsichert war, vor ihr floh, sie zum Traum erklärte. Sie folgte ihm, bis sie als Landstreicherin in die Schweiz abgeschoben wurde. Erst 1836 heiratete sie einen Tischlergesellen. 1865 starb sie in Wilen an der Wassersucht.

Vogeltraum

Erstveröffentlichung unter dem Titel „Sendboten aus Noahs Arche oder Die Zärtlichkeit der Vögel“ in du, Nr. 750

Gertrud Leutenegger beschreibt ein im Prado ausgestelltes Triptychon von Hieronymus Bosch: auf der linken Tafel das irdische Paradies, rechts die Hölle und dazwischen ein skurriles Gemälde, das später den Namen „Garten der Lüste“ erhielt.

Jakob, der Johannisbeerstrauch

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung, 27. Mai 2006

Der Roman „Jakob von Gunten“ von Robert Walser fesselt die Erzählerin, und sie vertieft sich darin Tag für Tag hinter einem Johannisbeerstrauch versteckt, während Che Guevara gefangen genommen wird, an der amerikanischen Ostküste die Gettos der Schwarzen in Flammen aufgehen und die Bewegung „Black Power“ sich formiert.

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In meinen kurzen Inhaltsangaben gehe ich nur auf jeweils einen Handlungsstrang ein. Der Reiz der von Gertrud Leutenegger unter dem Titel „Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom“ zusammengefassten Geschichten beruht jedoch zum Teil darauf, dass sie zwei verschiedene Motive auf kunstvolle Weise miteinander verwebt und poetisch verdichtet. Besonders eindrucksvoll ist ihr dies in „Roma, Pompa, Loredana“ gelungen. Da durchzieht Gertrud Leutenegger die Erzählung über die Außenseiterin Loredana, die sich von einem heimtückischen Brandanschlag nicht mehr erholt, mit Motiven der Pompa, des feierlichen Rituals der alten Römer bei der Verbrennung ihrer Leichen.

Die Qualität der Texte in „Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom“ ist recht unterschiedlich: Neben poetischen Geschichten von starker sprachlicher Kraft wie „Roma, Pompa, Loredana“ stehen impressionistische Reisebeschreibungen und andere Prosatexte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling

Mario Lima - Tod in Porto
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