Klaus Kinski : Jesus Christus Erlöser

Jesus Christus Erlöser
Jesus Christus Erlöser Originalausgabe: Hg.: Peter Geyer Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN: 978-3-518-45813-6, 155 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 20. November 1971 wollte Klaus Kinski in der Berliner Deutschlandhalle eine selbst verfasste Adaptation des Neuen Testaments mit dem Titel "Jesus Christus Erlöser" vortragen. Schon nach wenigen Minuten störten ihn Zwischenrufe. Klaus Kinski ließ sich provozieren, beschimpfte das Publikum und brach seinen Vortrag ab. Erst als die meisten Besucher gegangen waren, konnte Klaus Kinski "Jesus Christus Erlöser" ohne Unterbrechung vortragen.
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Kritik

Um was es sich bei "Jesus Christus Erlöser" handelt, lässt sich nicht so leicht sagen, denn es war weder als Lesung noch als Rezitation gedacht. Auf jeden Fall stellt "Jesus Christus Erlöser" eine ausgefallene moderne Adaptation des Neuen Testaments von Klaus Kinski dar.
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Gesucht wird Jesus Christus.
Angeklagt wegen Verführung anarchistischer Tendenzen Verschwörung gegen die Staatsgewalt.
Besondere Kennzeichen: Narben an Händen und Füßen.
Angeblicher Beruf: Arbeiter.
Nationalität: Unbekannt.
Deckname: Menschensohn Friedensbringer Licht der Welt Erlöser.
Der Gesuchte ist ohne festen Wohnsitz. Er hat keine reichen Freunde und hält sich meist in ärmlichen Wohngegenden auf. Seine Umgebung sind Gotteslästerer Staatenlose Zigeuner Prostituierte Waisenkinder Kriminelle Revolutionäre Asoziale Arbeitslose Obdachlose Verurteilte Gefangene Geflohene Gejagte Misshandelte Zornige Kriegsverweigerer Verzweifelte Schreiende Mütter in Vietnam Hippies Gammler Fixer Ausgestoßene zum Tode Verurteilte.
Es ist möglich dass es sich um ein elternloses Kind handelt. Vielleicht ist seine Mutter eine Prostituierte. Vielleicht ist sein Vater ein Sträfling oder lebt in einer Kommune.
Der Gesuchte gehört nicht der Gesellschaft an. Keiner Partei! Auch nicht der Partei der Christen. Keiner Kirche. Auf Parteitagen und Versammlungen findet man ihn nicht. Parolen und Programme lehnt er ab. Er ist weder Protestant noch Katholik noch Neger noch Jude noch Kommunist. Er trägt nie Uniform.
Der Gesuchte verbreitet utopische Ideen und muss als gefährlicher Anführer bezeichnet werden.
Zweckdienliche Angaben die zu seiner Festnahme führen nimmt jede Polizeistation entgegen!
(Seite 11)

Mit diesem Steckbrief begann Klaus Kinski seine Adaptation des Neuen Testaments: „Jesus Christus Erlöser“.

Er schildert, wie immer mehr Menschen Jesus Christus folgen, „denn es geht eine Kraft von ihm aus die alle mit Liebe erfüllt“ (Seite 14). Das macht den Priestern und Gesetzgebern Angst, zumal Jesus nicht davor zurückschreckt, sie zu kritisieren:

Wehe […] euch Gesetzgebern! Ihr beladet die Menschen mit schwer zu tragenden Lasten – ihr selbst aber rührt diese Lasten nicht mit einem einzigen Finger an! Wehe euch Gesetzgebern! Euch Mördern! Ihr baut den Märtyrern Denkmäler und stellt sie in den Kirchen auf und lasst sie heilig sprechen ihr selbst aber habt sie zu Märtyrern gemacht! Wehe euch Gesetzgebern! Euch wahren Kriminellen! Ihr habt den Menschen jede Möglichkeit genommen die Wahrheit zu erkennen und die welche nach der Wahrheit schreien die macht ihr stumm! Wehe euch Gesetzgebern! Euch Priestern! Eure Sprüche die ihr vortragt sind nichts als Tricks von Menschen! Wäret ihr doch heiß oder wenigstens kalt! Aber ihr seid nur lauwarm und ich spucke euch aus! (Seite 20)

Um den Aufrührer Jesus Christus zu beseitigen, klagen Priester und Gesetzgeber ihn vor einem so genannten Volksgerichtshof an. Doch obwohl sie falsche Zeugen auftreten lassen, finden sie keine stichhaltigen Beweise gegen ihn. Da fragt ihn der Oberstaatsanwalt, ob es wahr sei, dass er die Kirche verachte, sich als Erlöser ausgebe und behaupte, die allein wahre und einzige Religion zu verkünden. Und Jesus Christus bestätigt es.

Der Oberstaatsanwalt schreit: Er ist ein Hochverräter! Was haben wir noch Zeugen nötig! Er hat gestanden! Ihr habt sein Geständnis gehört! Er ist des Todes schuldig! Er muss sterben! Ich beantrage die Todesstrafe! (Seite 27)

Die Stimmung schlägt um. Als Jesus Christus in Handschellen abgeführt wird, bespucken ihn die Schaulustigen und schlagen auf ihn ein. Bevor man ihn zum Gouverneur bringt, durchsucht ihn die Polizei, fotografiert ihn und nimmt ihm die Fingerabdrücke ab.

Der Gouverneur sagt: Du bist in einer verdammt schlechten Lage. Ich weiß dass sie dich aus Hass anklagen. Aber wenn du dich nicht verteidigst kann ich auch nichts für dich tun! (Seite 30)

Jesus aber schweigt beharrlich, auch als der Gouverneur die Nerven verliert und schreit:

Du hast mir meine nächste Wahl versaut! Verteidige dich wenigstens du verdammter Idiot!
(Seite 31)

Ans Kreuz genagelt, klagt Jesus Christus:

Mein Gott! Werden die Menschen begreifen warum ich jetzt sterben muss! Warum ich 2000 Jahre lang gestorben bin und immer wieder sterbe jeden Augenblick!!
Lass sie doch endlich begreifen, warum ich sterbe mein Gott! (Seite 33)

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Der egomanische Schauspieler Klaus Kinski (1926 – 1992) unterschrieb am 19. August 1971 – zwei Monate vor der Uraufführung des Musicals „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd-Webber im Mark Hellinger Theater in New York – einen Vertrag für eine Welttournee mit hundert geplanten Auftritten als Deklamator einer selbst verfassten Adapation des Neuen Testaments mit dem Titel „Jesus Christus Erlöser“. Er wollte die „erregendste Geschichte der Menschheit: Das Leben von Jesus Christus“ vortragen und vom „furchtlosesten, freiesten, modernsten aller Menschen“ erzählen (Seite 35). Um was es sich bei „Jesus Christus Erlöser“ handelt, lässt sich nicht so leicht sagen, denn die Veranstaltung war weder als Lesung gedacht (Klaus Kinski redete frei) noch als Rezitation (er deklamierte seinen eigenen Text). Auf jeden Fall stellt „Jesus Christus Erlöser“ eine ausgefallene moderne Adaptation des Neuen Testaments dar.

Zur Premiere von „Jesus Christus Erlöser“ am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle kamen zwischen drei- und fünftausend Besucher. Auf der sonst leeren Bühne stellte sich Klaus Kinski im Scheinwerferlicht vor ein Mikrofon und begann, seinen Text vorzutragen.

Schon nach wenigen Minuten störten ihn Zwischenrufe. Damals misstraute man als Folge der Achtundsechziger Bewegung jeder Autorität und lehnte es ab, jemandem ohne Diskussion zuzuhören. Klaus Kinski ließ sich provozieren, brüllte „halt ’s Maul, du dumme Sau“ ins Publikum und rangelte mit einem auf die Bühne gekletterten Störer. Er brach seinen Vortrag ab und versuchte sich in seiner Garderobe mit Cognac zu beruhigen.

Erst als nur noch ein Häuflein von vielleicht hundert Besuchern im Zuschauerraum saß, konnte Klaus Kinski „Jesus Christus Erlöser“ ohne Unterbrechung vortragen.

In seiner Autobiografie „Ich brauche Liebe“ (München 1991) erinnerte sich Klaus Kinski an den denkwürdigen Abend in der Deutschlandhalle: „Das ist ja wie vor 2000 Jahren. Dieses Gesindel ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben.“

Aus der Welttournee wurde nach dem legendären Eklat in Berlin nichts mehr. Der Veranstalter bat am 26. November darum, aus seinen Vertragspflichten entbunden zu werden und meldete kurz darauf Konkurs an. Und der zweite – störungsfreie – Vortrag von „Jesus Christus Erlöser“ am 27. November in der Philips-Halle in Düsseldorf, für den Klaus Kinski keine Gage bekam, blieb der letzte.

2006 veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag den Text „Jesus Christus Erlöser“ von Klaus Kinski in einer von Peter Geyer editierten Fassung (zusammen mit Gedichten von Klaus Kinski unter dem Titel „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen). Im selben Jahr erschien eine von Volker Kühn bearbeitete Live-Aufnahme der Rezitations-Show am 20. November 1971 auf zwei CDs. Und eine Film-Dokumentation von Peter Geyer kam 2008 in die Kinos: „Jesus Christus Erlöser“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Peter Geyer: Jesus Christus Erlöser (Filmdokumentation)

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