Marta Karlweis : Schwindel

Schwindel
Originalausgabe: Schwindel. Geschichte einer Realität S. Fischer, Berlin 1931 Neuausgabe: Verlag Das Vergessene Buch, Wien 2017 ISBN: 978-3-9504158-4-1, 237 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Schwindel" ist die Geschichte des trost­losen Niedergangs einer Wiener Familie über drei Generationen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Die Großmutter unter­stützt ihre verwitwete Tochter Johanna und deren sechs Kinder finanziell, bis ihr ältester Sohn sie dazu überredet, das restliche Vermögen in ein marodes Miets­haus in Wien zu investieren, das seine Frau von ihrem ersten Mann geerbt hat ...
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Kritik

Marta Karlweis verzichtet auf eine Identifikationsperson und entwickelt die figurenreiche Geschichte nicht kontinuierlich fließend, sondern in 22 Skizzen. Obwohl sie sich am Verismus orientiert und ihre Sprache knapp ist, blitzen groteske Überzeichnungen auf.
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Die Handlung beginnt mit der Beerdigung von Max Gaudenz in Wien. Sein älterer Bruder Franz und dessen Frau ärgern sich darüber, dass die Friedhofsbediensteten die Schleife ihres Kranzes nicht besser lesbar drapiert haben. Immerhin gaben sie dafür viel Geld aus.

Max hinterlässt eine Witwe – Lilli – mit zwei Kindern. Außer dem Bruder hatte er zwei Schwestern. Karoline ist mit dem General Proch verheiratet und Mutter von vier Kindern. Bei Johanna Schnabel, der Jüngsten der Geschwister, handelt es sich um eine zwergwüchsige, schwachsinnige Witwe, die acht Kinder gebar, von denen zwei als Säuglinge starben.

Franz Gaudenz, der als Chemiker in einer Glühstrumpffabrik in Wien beschäftigt ist, will verhindern, dass seine Mutter weiterhin Johanna Schnabel und deren Kinder finanziell unterstützt. Er drängt sie deshalb, das vorhandene Vermögen in das Mietshaus in Wien zu investieren, das seine Frau von ihrem verstorbenen Mann, einem zwielichtigen Immobilienmakler, geerbt hat. Dass es sich in einem üblen Zustand befindet, verschweigt er. Am Ende unterschreibt seine Mutter, nicht weil er sie überzeugt hat, sondern damit er endlich Ruhe gibt.

Sowohl Franz Gaudenz als auch Karoline Proch und deren Angehörige verachten Johanna Schnabel und deren Nachkommen. Malwine, Leo, Arthur, Olga, Ernstl und Fritzi wachsen in dem Glauben auf, minderwertig zu sein.

Malwine, die Älteste der Geschwister, wird Gesellschafterin bei der Witwe eines Generals, und als diese stirbt, wechselt sie zur Mutter des Generals Proch, allerdings ohne Bezahlung. Sie ist verlobt mit dem Philologen Dr. Georg Mosola, aber als dieser begreift, dass sie keine Mitgift zu erwarten hat, löst er nach acht Jahren die Verlobung mit der 34-Jährigen – und wendet sich ihrer jüngeren Cousine Lori Proch zu.

Olga beginnt im Alter von 14 Jahren eine Schneiderlehre. Sie verliebt sich in den bettelarmen Musiker Robert Geßl, der von einer Karriere als Dirigent träumt, sich aber erst einmal als Korrepetitor durchschlägt. Als Olga schwanger wird, besteht die Familie auf einer Eheschließung. Robert Geßl wiederum verlangt von Olga, dass sie das Kind gleich nach der Geburt einer Bauernfamilie in Ober-Nalb bei Retz zur Adoption überlässt.

Leo Schnabel gelingt es mit dem Hinweis, zu den Besitzern eines Mietshauses in Wien zu gehören, nicht nur Kredite aufzunehmen, sondern auch Rechnungs­beträge gestundet zu bekommen. Auf diese Weise lebt er lange Zeit weit über seine Verhältnisse. Als das System zusammenbricht und ein Skandal zu befürchten ist, hoffen die Familien von Franz Gaudenz und Karoline Proch auf den Zigarrenfabrikanten Hans Seyfferth in Hannover, bei dessen Ehefrau Minka es sich um eine Cousine des Generals handelt. Hans und Minka Seyfferth kommen mit ihrer 17-jährigen Tochter Vivian nach Wien, während Leo sich nach Kansas City absetzt. Der deutsche Geschäftsmann übernimmt zwar Leos Schulden, verpflichtet aber zugleich dessen Brüder Arthur und Ernst Josef („Ernstl“), den vorgestreckten Betrag über die Jahre hinweg abzustottern.

Vor der Abreise geben die Seyfferths noch ein Familienbankett in Wien. Dabei bedrängt der feine Fabrikant aus Hannover Olga Schnabel und versucht, sie mit der Drohung, die finanzielle Regelung platzen zu lassen, gefügig zu machen.

Ernstl ist zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt. Er absolviert eine Lehre im Büro eines Textilgeschäfts und wird schließlich als Bedienung im Laden eingesetzt. Trotz seiner Plattfüße muss er in den Krieg. In Tulln lernt er Irma Janauschek kennen, eine 18-jährige Lehrerin, die sich als Krankenpflegerin um die Verwundeten im Lazarett kümmert. In der Kammer ihrer Freundin Mizzi Stöger, einer Fabrikarbeiterin, lässt Irma sich von Ernstl deflorieren. Als sie schwanger wird, unterschlägt Ernstl das Geld, das ihm ein Leutnant für einen Botengang anvertraut, um eine Abtreibung zu ermöglichen. Danach ertränkt er sich in der Donau.

Weil der Tenor, der sich von Robert Geßl schulen lässt, nach Berlin zieht, verkauft das Ehepaar Geßl 1922 die Wohnung in Wien und zieht ebenfalls nach Berlin. Kurz darauf stirbt der Sänger jedoch bei einem Autounfall.

Ein Auto überkugelt sich, der junge Tenor zerschmettert seinen dummen Kopf an einer Telegrafenstange, die Kehle ist heil geblieben, aber das Geheimnis des Wohllauts hat sich durch die klaffende Schädeldecke davongemacht.

Weil Robert deshalb in Berlin arbeitslos ist, übernimmt Olga Näharbeiten, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Lange erträgt Robert das nicht: Er beendet sein Leben mit einer Überdosis Veronal.

Die verbliebenen sieben Erben des Mietshauses in Wien verkaufen das Anwesen einem Grundstücksspekulanten. Nach Abzug der Steuern und Gebühren bleiben Anteile übrig, die durch die Hyperinflation in Nichts verwandelt werden.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Notgedrungen kehrt Olga nach Wien zurück. Ihre Schwester Fritzi kommt ihr nach Wels entgegen, steigt zu ihr in den Zug und nimmt sie mit in ein besseres Zugabteil. Die jüngste der Schwestern ist unverheiratet geblieben, wohnt weiterhin bei der Mutter und kümmert sich um sie. Olga erfährt, dass Fritzi die Mutter in ein Lügengebäude eingehüllt hat: Sie verschwieg Johanna zwar nicht Ernstls Tod, machte aber aus dem Selbst­mörder einen gefallenen Kriegs­helden. Leo ist ebenfalls tot, aber Fritzi tut so, als schicke er regelmäßig Geld aus Kansas City. Aus der einfachen Frisörin Julczi in Rudolfsheim, die mit Arthur verheiratet ist, hat Fritzi für die Mutter die Besitzerin eines großen Frisörsalons gemacht. Und Robert Geßl starb in Johannas Fantasiewelt nicht durch Suizid, sondern eines natürlichen Todes, und zwar als berühmter Dirigent. Fritzi ist nicht nur stolz darauf, der Mutter eine heile Welt vorzugaukeln, sondern brüstet sich auch damit, die vier Proch-Cousins bzw. -Cousinen finanziell zu unterstützen. Olga missbilligt das Lügengebäude, verspricht allerdings, es nicht zu zerstören.

Fritzi erwähnt, dass Hans Seyfferth seit einem Schlaganfall gelähmt und auf die Pflege seiner Frau angewiesen sei.

Sie vertraut ihrer Schwester außerdem an, dass sie mit Georg Mosola liiert sei, der Lori Proch längst verließ und in demselben Unternehmen, in dem sie seit 27 Jahren in der Buchhaltung arbeitet, das Russland-Geschäft leitet. Aus dem Traum des Philologen von einer Akademiker-Karriere ist nichts geworden.

Schließlich erzählt Fritzi, dass sie nach Olgas Sohn Josef Leitner geschaut habe. Der wollte den Bauernhof seiner Adoptiveltern in Ober-Nalb nicht übernehmen. Stattdessen wurde er Bäckergeselle.

Olga fährt nach Renz und erkundigt sich bei der Witwe des Bäckers nach dem Gesellen. Josef arbeitet seit dem Tod seines Meisters vor ein paar Wochen allein in der Backstube. Dass Olga sich als seine leibliche Mutter zu erkennen gibt, scheint ihn nicht weiter zu beeindrucken. Sein Adoptivvater lebt nicht mehr, und er befürchtet, dass seine an Tuberkulose erkrankte Frau Luis ebenfalls stirbt. Was dann aus dem zwei Monate alten Kind wird, weiß er noch nicht.

Als auffliegt, dass Fritzi ihr Lügengebäude seit drei Jahren durch Unterschlagungen in der Firma finanzierte, versteckt sie sich zunächst in Renz. Dann erschießt sie sich.

Wenig später wird auch Luis beerdigt. Josef Leitners Adoptivmutter bringt ihren Adoptivenkel nach Wien, weil ihre Angehörigen keinen weiteren Esser aufnehmen wollen. Sie vertraut das Kind der leiblichen Großmutter Olga an.

Olga verheimlicht ihrer Mutter den Selbstmord ihrer jüngeren Schwester und macht ihr vor, Fritzi habe ihren Traummann gefunden und sei mit ihm auf Hochzeitsreise.

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Marta Karlweis erzählt in ihrem Roman „Schwindel. Geschichte einer Realität“ von drei Generationen einer Wiener Kleinbürgerfamilie zu Beginn des 20. Jahr­hunderts. Es ist die trostlose Geschichte eines Niedergangs. Nur am Ende, als Olga die Sorge für ihren kleinen Enkel übernimmt, erhellt ein Hoffnungsschimmer die düstere Entwicklung. Bemerkenswert ist, dass das fortwährende Scheitern und die damit verbundene Verelendung die Betroffenen nicht solidarisch werden lässt. Der Titel „Schwindel“ bezieht sich auf die Lügen, Täuschungen, Übervorteilungen und Unterschlagungen, mit denen sich fast alle Handelnden zu behelfen versuchen.

Es wäre hilfreich gewesen, einen Stammbaum in den Anhang aufzunehmen, denn bei mehr als 20 Romanfiguren ist es schwierig, den Überblick zu behalten. Es gibt keine durchgängige Identifikationsfigur, und Marta Karlweis entwickelt die Geschichte auch nicht kontinuierlich fließend, sondern in 22 skizzenhaften und nicht streng chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln. Heute ist es schon fast üblich, bei der wörtlichen Rede auf Anführungszeichen zu verzichten. Marta Karlweis tut dies bereits in „Schwindel“ und formatiert die Dialoge auch nicht, sondern integriert sie ohne Absätze in den laufenden Text. Obwohl sich die Darstellung am Verismus orientiert und die Sprache knapp ist, verzichtet Marta Karlweis nicht auf groteske Überzeichnungen.

Auffällig […] ist ein besonderer Zug in Karlweis‘ Prosa, nämlich narrative Sequenzen immer wieder einer fast sentenziösen Zuspitzung zuzuführen und die Tiefe der Reflexion über das Leben gleichsam beiläufig einzustreuen. Man könnte aus all ihren Romanen immer wieder Aphorismen herausschälen, die sich aber keineswegs als Fremdkörper im narrativen Duktus ausnehmen. (Johann Sonnleitner: Zerfallene Zinshäuser und zerbröckelnde Familien. Marta Karlweis‘ Roman Schwindel. Geschichte einer Realität)

Im Anhang zu der 2017 vom Verlag „Das vergessene Buch“ veröffentlichten Ausgabe des Romans „Schwindel“ von Marta Karlweis finden wir Rezensionen aus dem Erscheinungsjahr 1931 und einen 28 Seiten langen Beitrag des Wiener Literaturwissenschaftlers Johann Sonnleitner mit dem Titel „Zerfallene Zinshäuser und zerbröckelnde Familien. Marta Karlweis‘ Roman Schwindel. Geschichte einer Realität„.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © DVB Verlag

Marta Karlweis (kurze Biografie)

Marta Karlweis: Der Zauberlehrling
Marta Karlweis: Das Gastmahl auf Dubrowitza

Annika Büsing - Nordstadt
In ihrem Debütroman "Nordstadt" beschäftigt sich Annika Büsing mit zwei vor allem psychisch verletzten 25-Jährigen. Man kann "Nordstadt" als Gesellschaftsroman lesen, auch wenn es sich um eine konfliktreiche Liebesbeziehung dreht, deren Ausgang in der Schwebe bleibt. Das Besondere an "Nordstadt" ist die authentisch wirkende lakonische Stimme der Ich-Erzählerin mit einer Sprache zwischen Gosse und Poesie. Stilsicher porträtiert Annika Büsing damit die Romanfiguren und lässt uns die Konflikte intensiv miterleben.
Nordstadt