Mathilde. Eine große Liebe

Mathilde. Eine große Liebe

Mathilde. Eine große Liebe

Mathilde. Eine große Liebe - Originaltitel: Un long dimanche de finançailles - Regie: Jean-Pierre Jeunet - Buch: Jean-Pierre Jeunet und Guillaume Laurant, nach dem Roman "Un long dimanche de finançailles" von Sébastien Japrisot - Kamera: Bruno Delbonnel - Schnitt: Hervé Schneid - Musik: Angelo Badalamenti - Darsteller: Audrey Tautou, André Dussollier, Tchéky Karyo, Denis Lavant, Dominique Pinon, Jodie Foster, Julie Depardieu, Ticky Holgado, Marion Cotillard u.a. - 2004; 135 Minuten

Inhaltsangabe

Fünf französische Soldaten, die sich selbst verstümmelten, um dem Wahnsinn des Kriegs zu entkommen, werden 1917 von einem Kriegsgericht zum Tod verurteilt. Einer von ihnen ist Manech. Seine seit einer Kinderlähmung gehbehinderte Verlobte Mathilde will nicht glauben, dass er tot ist, engagiert einen Detektiv und begibt sich selbst auf die Suche.

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Kritik

Aus einem Roman von Sébastien Japrisot machte Jean-Pierre Jeunet einen grandiosen Liebes- und Antikriegsfilm, der unverkennbar seine originelle Handschrift trägt und von der fantastischen Hauptdarstellerin Audrey Tautou getragen wird: "Mathilde. Eine große Liebe".
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Mathilde (Audrey Tautou) wurde 1900 geboren. Weil ihre Eltern ums Leben kamen, als sie drei Jahre alt war, wuchs sie bei ihrem Onkel Sylvain (Dominique Pinon) und ihrer Tante Bénédicte (Chantal Neuwirth) auf. In deren Häuschen in der Bretagne wohnt Mathilde auch noch als junge Frau. Seit einer Kinderlähmung im Alter von fünf Jahren hinkt sie. Vom Weltkrieg kehrt der drei Jahre ältere Manech (Gaspard Ulliel), mit dem sie als Kind spielte und der inzwischen ihre große Liebe geworden ist, nicht zurück. Erst 1920 erhält Mathilde die Nachricht von seinem Tod. Ihr Verlobter war einer von fünf französischen Soldaten, die sich Schussverletzungen an der Hand beigebracht hatten, um dem Wahnsinn des Kriegs zu entkommen.

Eines Nachts, als [Manech] Wache schob, die Kanonade war fern und der Himmel tiefschwarz, hatte er, der Nichtraucher, eine englische Zigarette angezündet, weil die nicht so leicht ausgeht wie eine dunkle, dann hatte er seine rechte Hand über den Grabenwall erhoben, die Finger schützend über den kleinen roten Schimmer gebreitet. So war er lange Zeit geblieben, den Arm in die Luft gestreckt, das Gesicht gegen die nasse Erde gedrückt, und er hatte zu Gott gebetet, wenn es ihn noch gab, er möge ihm die geeignete Verletzung verschaffen. Der Regen war stärker gewesen als der kleine rote Schein, da hatte er es mit einer neuen Zigarette versucht, und mit noch einer, bis ein Kerl von gegenüber durch das Fernglas blickte und begriff, was er wollte. Es muss wohl ein guter Schütze gewesen sein, oder die Deutschen, die ebenso verständig waren wie die Franzosen, hatten einen geholt, jedenfalls reichte eine Kugel. Sie riss ihm die Hälfte der Hand weg, den Rest hatte der Arzt entfernt. Zur Krönung allen Unglücks hatte, als der Schuss losging […] gerade der Sergeant nicht geschlafen. (Sébastien Japrisot: Mathilde. Eine große Liebe. © Aufbau Verlag).

Ein Kriegsgericht verurteilte die fünf jungen Soldaten im Januar 1917 wegen Selbstverstümmelung zum Tod: Bei Einbruch der Nacht wurden sie aus einem „Bingo Crepuscule“ genannten Schützengraben in das schmale Gebiet zwischen den französischen und deutschen Linien getrieben, wo ihnen kaum eine Überlebenschance blieb.

Wenn Manech tot wäre, würde sie das spüren, behauptet Mathilde. Sie findet sich nicht mit den verfügbaren Informationen ab, fährt mit dem Zug zu ihrem Vormund nach Paris und überredet ihn, ihr Erbe freizugeben, damit sie Nachforschungen anstellen kann. Das meiste Geld benötigt sie für das Honorar des Privatdetektivs Germain Pire (Ticky Holgado), den sie beauftragt, nach Manech zu suchen. Sie recherchiert in einem Kriegsarchiv, gibt Anzeigen auf und schreibt Briefe. Elodie Gordes (Jodie Foster), die Witwe eines der fünf Verschollenen, die sie auf einem Marktplatz anspricht, weigert sich zunächst, mit ihr zu reden, teilt ihr dann aber doch mit, dass ihr zeugungsunfähiger zweiter Ehemann Benjamin (Jean-Pierre Darroussin) sie zum Koitus mit seinem Freund überredet hatte, weil er nach der Geburt eines sechsten Kindes vom Kriegsdienst freigestellt worden wäre. Von Tina Lombardi (Marion Cotillard) erfährt Mathilde, dass deren Geliebter und die anderen vier im Januar 1917 zum Tod verurteilten Soldaten von Marschall Pétain begnadigt worden waren. Commandant Lavrouye (Jean-Claude Dreyfus) hatte das entsprechende Schreiben jedoch zerrissen und nicht weitergegeben. Weil Tina Lombardi nach dem Krieg mehrere Offiziere erschossen hatte, um den Tod ihres Geliebten zu rächen, wartet sie im Gefängnis auf die Hinrichtung mit der Guillotine.

Stück für Stück trägt Mathilde mit Germain Pires Hilfe die Puzzle-Teile zusammen, um sich ein Bild von den Vorgängen im Januar 1917 vor dem „Bingo Crepuscule“ zu machen. Immer wieder sieht es so aus, als sei Manech wirklich tot, aber Mathilde gibt nicht auf und klammert sich an jedes Detail, das ihr Hoffnung gibt.

Manech lebte bei Tagesanbruch noch. Er stand an einem Baum und schnitt drei Ms in die Rinde (für: Manech mit Mathilde bzw. Mathilde mit Manech). Da wurde er vom Schützen in einem deutschen Flugzeug mit einem Maschinengewehr beschossen und getroffen. Kurz darauf stürmten die Franzosen gegen die deutschen Stellungen – nur um fast ausnahmslos mit Maschinengewehrsalven niedergemäht zu werden. Ein Soldat, der sich während des Angriffs in einem Erdloch versteckt hatte, wurde auf den schwer verwundeten Manech aufmerksam, nahm ihn auf die Schulter und brachte ihn in einen Luftschiffhangar, in dem ein behelfsmäßiges Lazarett eingerichtet worden war. Inzwischen litt Manech auch noch an einer schlimmen Lungenentzündung.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Schließlich findet Germain Pire heraus, dass Manech den Krieg tatsächlich überlebt, aber dabei sein Gedächtnis verloren hat. Mathilde besucht ihn in dem Heim, setzt sich zu ihm in den Garten und schaut ihm dabei zu, wie er handwerkliche Arbeiten verrichtet.

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Jean-Pierre Jeunet verfilmte den 1991 veröffentlichten Roman „Un long dimanche de fiançailles“ von Sébastien Japrisot. (Eine deutschsprachige Übersetzung des Romans von Christiane Landgrebe erschien 1998 unter dem Titel „Die Mimosen von Hossegor“. Der Film läuft in den deutschen Kinos unter dem Titel „Mathilde. Eine große Liebe“. So heißt inzwischen auch das Buch.)

Mit unglaublicher Liebe zum Detail inszenierte Jean-Pierre Jeunet diesen bewegenden Liebesfilm und erschütternden Antikriegsfilm. Trotz des enorm gesteigerten Aufwands (47 Millionen Euro) blieb Jeunets aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“ bekannte Handschrift unverkennbar. Wie Amélie weigert auch Mathilde sich, die Welt so wie die anderen zu sehen und setzt der vermeintlichen Realität ihre eigene Wahrnehmung entgegen. Auch „Mathilde“ spielt mit dem Schicksal, etwa als sie sich während einer Bahnfahrt vorsagt: „Wenn wir in einen Tunnel einfahren oder der Kontrolleur hereinkommt, bevor ich bis sieben gezählt habe, lebt Manech noch.“ Mathilde veranstaltet jedoch keine Schnitzeljagd wie Amélie, sondern sie versucht das Gegenteilige: ein Puzzle zusammenzusetzen. Eigentlich mag ich es nicht, wenn in einem Film jemand erzählt, weil das nicht die Sprache des Kinos ist, aber bei Jean-Pierre Jeunet – in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ ebenso wie in „Mathilde. Eine große Liebe“ – gehört die Erzählerin aus dem Off unbedingt zu der originellen Komposition.

Obwohl „Mathilde. Eine große Liebe“ kein leichter Film ist, wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“, gibt es hin und wieder Lacher, etwa wenn Mathilde im Rollstuhl aus einem Aufzug kommt, vor dem nächsten Treppenabsatz aufsteht, den Rollstuhl zusammenfaltet und zu den verdutzten Umstehenden sagt: „Das gibt es sonst nur in Lourdes!“ Oder bei dem running gag mit dem Briefträger (Jean-Paul Rouve), der wie eine Hommage an „Tatis Schützenfest“ wirkt (aber laut Jean-Pierre Jeunet nicht so konzipiert war). Sarkastisch ist es, wenn ein Offizier nach dem Krieg zu Bedenken gibt, dass das Leben nicht nur an der Front, sondern auch in Paris schwierig war: „Es war unmöglich, nach der Oper ein Taxi zu bekommen!“

„Mathilde. Eine große Liebe“ beginnt mit eindringlichen Szenen aus dem Ersten Weltkrieg, und während die Protagonistin ihre Nachforschungen anstellt, werden immer wieder Kriegsszenen eingeblendet. Ein halbes Dutzend Nebenhandlungen ist mit der eigentlichen Geschichte verflochten.

Die sepiagetönten, sorgfältig in Szene gesetzten Bilder nahm Bruno Delbonnel mit einer heftig zoomenden und fahrenden bzw. fliegenden Kamera auf. Grandios ist zum Beispiel die folgende Einstellung: Der dreizehnjährige Manech (Virgil Leclaire) hat die zehnjährige Mathilde (Solène Le Pechon) auf einen Leuchtturm hinaufgetragen. Während die beiden Kinder auf der Außenplattform herumtollen, scheint die Kamera immer dichter um den Leuchtturm zu kreisen.

Im Vergleich mit „Amélie“ scheint Audrey Tautou in der Rolle der „Mathilde“ reifer geworden zu sein – und sie ist noch genauso fantastisch wie in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und in „Wahnsinnig verliebt“.

Außer der Filmmusik von Angelo Badalamenti sind in „Mathilde. Eine große Liebe“ Ausschnitte aus dem „Danse macabre“ von Camille Saint-Saëns und der Oper „Die Macht des Schicksals“ von Giuseppe Verdi zu hören.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005

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